Читать книгу Wenn die Faust des Universums zuschlägt - Dr. med. Johannes Wimmer - Страница 11
Ein nervöser Hund
30. Oktober 2019
Оглавление»Es ist unglaublich, wir haben ungefähr 40 Strampler. In allen Farben und Größen. Mit Beinen und ohne Beine.« Clara grinst. »Und das Highlight ist und bleibt der Erdbeerbadeanzug, den deine große Tochter als Baby anhatte.«
Wir gehen am Strand spazieren, den Wind im Rücken, rechts von uns wirft die Nordsee kleine Wellen an den Strand, links von uns ragt das rote Kliff gen Himmel. Auch wenn ich gerade etwas anderes im Kopf habe, sehe ich den Berg von Klamotten unterschiedlichster Stilrichtungen und Geschmäcker von insgesamt sechs Kindern aus der Familie und den Sachen, die uns Freunde als Geschenk oder Leihgabe gebracht haben, förmlich vor mir. Die einen sind vom vielen Waschen schon ganz seidig weich, die anderen duften noch nach dem Weichspüler der Vorbesitzer.
»Für ein Mädchen haben wir deutlich mehr anzuziehen«, nimmt Clara den Gesprächsfaden wieder auf.
Ich nicke stumm. Im Augenblick steht mir nämlich nicht der Sinn danach, über Babykleidung zu sprechen. Unser Hund Primus, ein großer Jagdhund mit glänzend braunem Fell, läuft immer wieder um uns herum. Er schlängelt sich zwischen unseren Beinen durch und verheddert sich in der Leine.
»Warum ist er denn heute so aufgeregt?«, fragt Clara.
Ich zucke mit den Achseln und rede im Stillen mit Primus: Mann, reicht es nicht, wenn einer von uns beiden nervös ist? Unauffällig taste ich mit der Hand an meiner Daunenjacke entlang, um zu prüfen, ob das kleine Säckchen noch in der Innentasche steckt.
»Spätestens, wenn das Kind im Kinderwagen deiner Nichten liegt, ist es eh schon egal, was es anhat. Wieso hat eigentlich jedes Rad an dem Wagen eine andere Farbe?«
Wieder zucke ich stumm mit den Achseln und schaue zur sogenannten Wasserkante des Strandes, auf die wir zugehen. Dort spazieren einige Paare, Familien und ein paar Menschen allein. Mist, das ist viel zu voll! Wieso habe ich keinen Tisch in einem netten Restaurant reserviert?
»Lass uns doch hier einfach mal Pause machen«, sage ich zu Clara und deute auf einen Platz im Sand unterhalb des Kliffs.
Wir gehen zu der Stelle, setzen uns in den weichen Sand und schauen erst mal aufs Meer.
»Was für ein herrlicher Tag das heute wird«, sagt Clara, während sie den Lauf der Wolken betrachtet.
»Hmhmmm«, antworte ich, weil ich mich gerade nicht traue, mehr zu sagen. Mein Mund ist trocken und mein Herz bollert von innen gegen den Brustkorb. Ich stecke meine Hände in die Jackentasche, da sie vor Aufregung zittern. Jetzt reiß dich mal zusammen, rufe ich mich zur Ordnung, das ist ja schon fast ein bisschen lächerlich. Zum Glück lenkt Primus ab. Er versucht, sich auf meinen Schoß zu setzen. Sein Fell ist voller Sand.
»Junge, was ist denn los mit dir?«, frage ich ihn und versuche die 38 Kilogramm panierte Liebe vorsichtig wegzudrücken. Keine Chance.
»Irgendwas ist heute mit ihm. Vielleicht gehen wir einfach weiter«, schlägt Clara vor.
Wenn du wüsstest, denke ich.
Wir marschieren zur Strandtreppe, die hoch auf das Kliff führt. Von da sehen wir Kampen und in der Ferne den Parkplatz, wo unser Auto steht. Die Wolken schieben sich über unsere Köpfe hinweg vom Meer zum Festland. Wir nehmen den schmalen Weg, der durch das Dünengras führt, und gehen eine Weile wortlos nebeneinander her.
Jetzt mach schon, sporne ich mich innerlich an, wir können ja nicht unverrichteter Dinge wieder zurückfahren. Mittlerweile ist die Wolkendecke aufgerissen und die herrliche Herbstsonne strahlt uns an. Ich kann die Wärme auf meinem Gesicht spüren. Als hätte die Sonne uns eingeladen, bleiben wir wieder stehen. Ich schließe die Augen und atme die frische Meeresluft tief ein. Vorsichtig luge ich durch ein Auge zu Clara, die den Moment genießt. Jetzt vielleicht?
Wo ist Primus eigentlich abgeblieben? Der Hund zerschießt mir doch jetzt nicht den Heiratsantrag? Ich drehe mich um und sehe, wie er wie angewurzelt dasteht und auf den Boden vor seinen Vorderpfoten starrt. Jetzt erst bemerke ich das Mauseloch. Na, dann ist er ja erst mal beschäftigt, denn Primus kann in dieser Pose gerne auch mal mehrere Minuten wie eine Salzsäule verweilen.
Wie in einem Krimi, wenn der Einbrecher nicht will, dass der Bewegungsmelder losgeht, gleitet meine rechte Hand in Zeitlupe zum Reißverschluss meiner Jacke, zieht ihn langsam runter und greift in die Innentasche. Da ist es, das Säckchen aus Paris. Ein kleines »Ha!« entfährt mir aus lauter Freude, dass alles da ist und vor allem, dass ich hier in den Dünen doch noch den richtigen Moment gefunden habe. Der Blick in die Weite, die Sonne, die sich endlich durch die Wolken gekämpft hat, ein ruhiger Hund – und vor allem auch ein ruhiger Johannes. Mein Mund ist zwar noch etwas trocken, aber es wird schon gehen. Was sag ich denn jetzt? Ich hatte an alles gedacht, aber nicht an die alles entscheidenden Worte.
»Äh, ich wollte dich etwas fragen.«
Clara schaut mich liebevoll und zugleich ein wenig belustigt an. Sie ahnt doch schon, was kommt.
»Vielleicht hast du dir das ja alles etwas anders vorgestellt. Aber ich wollte dich fragen, ob wir das Leben zusammen verbringen wollen.« Während ich spreche, ziehe ich den goldenen Ring mit den funkelnden Steinen aus dem Säckchen. »Du darfst auch drüber nachdenken«, füge ich mit breitem Grinsen hinzu, um die für mich kaum auszuhaltende Stille zu überspielen. Dabei komme ich mir vor wie einer dieser Menschen, die, noch bevor man den ersten Tesastreifen am Geschenk abgelöst hat, schon sagen: »Du kannst es auch umtauschen!« Oder Köche, die einem vor dem ersten Bissen am liebsten den vollen Teller wieder mit den Worten wegreißen wollen: »Das Fleisch ist zu durch, der Kuchen irgendwie eingefallen.« Eigentlich mag ich das überhaupt nicht. Aber heute habe ich keine Chance, nicht so zu sein.
Clara muss glücklicherweise nicht nachdenken, sondern antwortet aus vollem Herzen: »Ja, das möchte ich sehr gerne.«
Endlich wieder mit ein wenig Feuchtigkeit im Mund und einem Herz, das langsam in seinen Rhythmus zurückfindet, küssen wir uns.
»Ich könnte mir kein schöneres Leben vorstellen«, flüstere ich ihr ins Ohr.
»Wir werden eine kleine bunte Familie voller Liebe sein und gut aufeinander achten«, sagt Clara und lehnt ihren Kopf auf meine Schulter. Primus hat sich mittlerweile hingelegt, ohne jedoch das Mauseloch aus den Augen zu lassen. Der Moment ist zu schön, um ihn vergehen zu lassen.
Ich denke an all die schönen Dinge, die auf uns warten werden. Manchmal braucht das Leben wohl einen zweiten Anlauf oder auch einen dritten. Eine wohlige innere Wärme durchdringt mich, weil sich alles gerade auf wunderbare Weise fügt. Clara und ich sind beide aus einer langen Beziehung in unser gemeinsames Leben gekommen. Im Gegensatz zu ihr habe ich allerdings zwei Kinder aus meiner ersten Ehe mitgebracht. Die Worte einer befreundeten Kinderpsychotherapeutin kommen mir in den Sinn: »Auch wenn eine Scheidung für Kinder viele Herausforderungen mit sich bringt, so schenkt sie ihnen danach auch neue Bezugspersonen und erweitert ihre Familie.« Genauso fühlt es sich für mich und meine Töchter an. Clara ist mit ihrem Lachen, ihrer liebevollen Art und ihrer inneren Stärke eine Bereicherung in unser aller Leben. Ich muss schmunzeln, als mir einfällt, wie meine beiden Töchter vor ein paar Tagen ein Youtube-Video anschauten, um herauszufinden, wie man Babys wickelt, über die Seite hochnimmt, den Kopf hält, und danach einen Workshop mit Clara machten, damit sie Bescheid weiß.
»Es wird uns sicher nie langweilig werden«, sagt Clara und lacht.
»Wenn die kleine Maus nach dir kommt, bestimmt nicht«, antworte ich, auch wenn ich genau weiß, dass sie nicht nur unser gemeinsames Kind meint. Zärtlich streichele ich über Claras Bauch. Unter der Daunenjacke und dem dicken Pulli schlummert im Warmen ein kleines Mädchen, das darauf wartet, die Welt zu entdecken.