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2 | Absturz

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Christian, Januar

Vor mir sitzt eine 25-jährige Frau, die vollkommen in Tränen aufgelöst ist. Von vielen Pausen unterbrochen erzählt sie, dass ihr Vater vor drei Monaten beim Absturz seines Ultraleichtfliegers ums Leben gekommen ist.

»Papa war immer so megakonzentriert … und er war so ein routinierter Pilot … so umsichtig … hat immer auf den Wetterbericht geachtet … ich kann es einfach noch immer nicht verstehen … es war ja auch kein Wind, kein Regen, die Sicht war komplett frei … es war so unendlich furchtbar, ihn da vom Himmel fallen zu sehen. Er hat auch keinen Funkspruch losgelassen. Ich war oft gleichzeitig auf dem Flugplatz, weil ich auch fliege, seit ich 17 bin … und an dem Tag war ich auch da.«

Die zarte Frau mit den kurzen dunkelbraunen Haaren, die viel jünger aussieht, als sie ist, wirkt vollkommen entwurzelt und allein gelassen. Immer wieder schnäuzt sie sich in ein großes Stofftaschentuch. Dann sieht sie mich aus ihren verweinten dunklen Augen an.

»Hört der Schmerz jemals auf? Ich kann es mir nicht vorstellen. Mein Freund hat mich hierhergeschickt und gemeint, ich solle das mal mit Ihnen besprechen. Jan sagt, ich hätte eine posttraumatische Belastungsstörung. Kann das sein? Ich kann gar nicht mehr schlafen, und wenn ich doch mal eindöse, habe ich die schlimmsten Albträume. Auch tagsüber habe ich ständig das Bild meines Vaters vor Augen. Wie ein Film, der ohne dass ich es will, vor meinen Augen abläuft. Wie er plötzlich so ganz steil herunterschoss … ich hab von Weitem seinen Sturz auf die Erde gesehen … ich fühlte mich so unendlich hilflos, wie er da aufprallte … ich krieg die Bilder nicht aus dem Kopf … wie er dalag … wie der Notarzt und die Sanitäter ihn eingesammelt haben … Ich bin immer noch so schreckhaft, ich zucke total zusammen, wenn ich draußen einen Krankenwagen höre … Ich hab auch das Gefühl, ich muss mein Studium aufgeben … und ich hab oft Kopfschmerzen und kann mich null konzentrieren … weiß auch gar nicht mehr, wofür ich das alles mache. Hab ja immer mit meinem Papa zusammen über den Büchern gehangen. Er ist … war ja im Flugzeugbau beschäftigt. Ich habe mein Ingenieurstudium vor vier Jahren angefangen. Jetzt ist mir das alles so egal geworden. Es interessiert mich nicht mehr.«

Ich lasse Julia weitererzählen und stelle keine Zwischenfragen, weil ich merke, dass dies alles jetzt zum ersten Mal aus ihr herausbricht. Sie muss es einmal komplett und umfassend loswerden. Danach erst werde ich mich einschalten.

»Meine Mutter hat direkt am Unglückstag gesagt, dass sie sofort kommt, aber sie lebt in Amerika, und ich weiß, dass sie mitten in einem Forschungsprojekt steckt. Sie ist Pharmazeutin … ist schon seit fünf Jahren weg, seit meine Eltern sich getrennt haben. Sie kommt einmal im Jahr nach Deutschland. Ich habe zu ihr gesagt, sie muss nicht kommen. Sie ist dann doch zur Beerdigung ein paar Tage da gewesen. Die habe ich mit Jan und ein paar von Papas Freunden zusammen organisiert. Ich bin so froh, dass ich Jan habe.« Wieder schnaubt sie in ihr Taschentuch und fährt sich anschließend mit den Fingern durch die Haare, die jetzt in alle Richtungen abstehen wie bei einem kleinen Monchichi. Ihr Anblick rührt mich sehr.

»Und jetzt haben Sie also Schlafstörungen, Albträume und auch tagsüber immer wieder diese Flashbacks? Und Sie sind schreckhaft und unkonzentriert? Und verständlicherweise auch noch traurig.«

Sie nickt und schaut auf ihre Schuhspitzen.

»Ich denke, Ihr Freund hat da ganz recht, Julia. Das klingt wirklich nach einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es ist gut, dass Sie so frühzeitig damit zu mir gekommen sind, weil man diese Traumatisierung dann ziemlich gut behandeln kann. Auch dass Sie sich jetzt schon einmal getraut haben, mir die ganze schreckliche Geschichte zu erzählen, war schon ein wichtiger erster Schritt. Ich denke, ich werde Sie sehr bald schon bei einer guten Traumaspezialistin vorstellen können. Sie arbeitet mit zwei Kollegen zusammen in einer Praxis für Psychotherapie. Trauen Sie sich das schon zu? Was meinen Sie?« Ich schaue sie abwartend an.

»Ich glaube ja. Ich möchte auch so schnell wie möglich raus aus dieser schrecklichen Situation. Diese Bilder loswerden. Diese Ängste!«

Ich nicke. »Das verstehe ich, und die Therapeutin wird mit Ihnen zusammen die beste Methode herausfinden, wie man Ihnen schon bald helfen kann. Vertrauen Sie mir, Julia. Es gibt einen Weg!«

»Okay, das ist dann zumindest schon mal ein Anfang, und ich bin meinen Gedanken nicht mehr so ausgeliefert«, seufzt Julia.

»Und bitte, rufen Sie mich jederzeit an oder kommen Sie vorbei, wenn es Ihnen schlechter geht oder Sie noch mal Gesprächsbedarf haben, ja?«

Sie steht auf und reicht mir ihre zarte Hand. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Auch wenn ich es noch nicht ganz glaube, dass mir jemand helfen kann, versuche ich es.«

Es tut mir in der Seele weh, die kleine, verloren wirkende Person mit hängendem Kopf den Gang entlanggehen zu sehen. Ihr Freund, ein großer, breitschultriger junger Mann mit kurzem dunklem Haar, erwartet sie schon. Er legt sofort den Arm um sie und sieht mich fragend an.

»Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung, Jan. Ich darf Sie doch so nennen? Ich kümmere mich um eine Vorstellung in der Praxis Wallenberg. Wir rufen Sie an, wenn wir einen Termin haben.« Ich versuche, aufmunternd zu klingen, aber es misslingt. Jan nickt und drückt Julia an sich, als sie zur Tür gehen.

Zurück in meinem Sprechzimmer greife ich sofort zum Hörer. »Frau Gerber, können Sie mich mit der Praxis Wallenberg verbinden? Frau Wallenberg persönlich, bitte.«

Nach ein paar Sekunden habe ich Bettina Wallenberg, eine gute Freundin, in der Leitung.

»Bettina, ich freue mich, dass wir uns mal wieder sprechen, wenns auch nur beruflich ist.«

Ich höre, wie sie einen Schluck trinkt. »Ja, hallo Christian. Für viel anderes reicht die Zeit bei uns ja leider doch selten. Was gibts denn?«

Ich erzähle ihr Julias Geschichte und höre, wie sie Notizen in den PC tippt. Dann seufzt sie. »Oje! Das arme Mädchen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir ihr mit kognitiver Verhaltenstherapie und mit der EMDR gut helfen können.«

Ich muss kurz in meinem Gedächtnis kramen. »EMDR? Hat das nicht diese Amerikanerin entwickelt, in den Neunzigern? Man lässt die Patienten … warte mal … vertikale Augenbewegungen machen …«

»Fast richtig«, lacht Bettina. »Horizontale. Und dabei sollen sie versuchen, sich die traumatischen Erfahrungen genau in Erinnerung zu rufen.«

»Ach ja, genau. Ich habe mich immer schon gefragt, wie das eigentlich funktioniert.«

»Der Wirkmechanismus ist tatsächlich nicht bekannt. Aber es hilft sehr gut. Seit 2015 haben wir die Therapie im Leistungskatalog der Krankenkassen, und seitdem praktizieren wir sie mit wachsendem Erfolg. Ist zwar nicht unumstritten, weil eben nicht hundertprozentig belegt, aber wir kombinieren es ja auch meistens mit einer anderen Verhaltenstherapie und schauen bei deiner Patientin einfach mal, wie sie darauf reagiert. Wir bleiben in Kontakt, okay? Sie kann übrigens dann übermorgen um zehn Uhr zu uns zum Erstgespräch kommen.«

Ich bin froh. »Danke, dass du sie so schnell übernehmen kannst! Du hast was gut bei mir.«

Als ich aufgelegt habe, lasse ich den ganzen Fall noch einmal Revue passieren. Wie tragisch, dass das Mädchen den Unfallhergang mitansehen musste! Und warum ist der Vater wohl so sang- und klanglos vom Himmel gestürzt? Ist er vielleicht bewusstlos geworden? Hat er einen Herzinfarkt gehabt? Man wird das nie mehr ergründen.

Nach vier Wochen sehe ich Julia zum ersten Mal wieder. Sie sieht etwas frischer aus und weint auch nicht mehr während des Gespräches.

»Ich verstehe ja nicht, wie die Sache mit dem Hin- und Herbewegen der Augen funktioniert, aber irgendwie scheint es allmählich zu wirken, Herr Doktor. Ich bin echt überrascht! In der ersten Sitzung haben wir uns lange unterhalten, die Frau Wallenberg und ich. Da hat sie mir die EMDR-Therapie erklärt.« Julia schmunzelt. »Natürlich zuerst mal diese schwierige Abkürzung und Übersetzung: Eye Movement Desensitization and Reprocessing! Ein Zungenbrecher, oder? Heißt zu Deutsch: Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen. Mein Kopf sollte dabei geradeaus gerichtet bleiben, sodass ich nicht den Kopf, sondern nur die Augen bewegen konnte, während ich ihren Finger mit den Augen immer fixieren musste. Den Finger bewegte sie dann relativ schnell vor meinem Gesicht hin und her. Während sie das tat, sollte ich mich auf die schrecklichen Dinge konzentrieren, die ich erlebt hatte. Alle Szenen und Bilder zulassen.«

»Ja genau, darüber habe ich mich jetzt auch noch mal weiter informiert. Durch die visuelle Fokussierung auf den Finger und das gleichzeitige Erinnern entsteht eine Art geteilter Aufmerksamkeit. Schritt für Schritt soll so dem furchtbaren Ereignis seine emotionale Bedeutung genommen werden. Ich finde dieses psychotherapeutische Verfahren auch sehr spannend.«

»Ja, das macht Sinn, was Sie sagen«, überlegt Julia. »Bevor wir dann die ersten richtigen Sitzungen gemacht haben, hat Frau Wallenberg mir vorgeschlagen, mir eine schöne Situation als Rückzugsort zu überlegen, falls ich es nicht mehr aushalte, mir die schlimmen Sachen vorzustellen. Dann könnte ich schnell in die Situation springen, die ich mir ausgesucht habe.«

Ich bin neugierig. »Darf ich fragen, welche Situation das war? Und hat das Hineinspringen dann funktioniert?«

Julia lächelt traurig. »Es sind zwei Situationen: Samstagmorgens, wenn Papa und ich manchmal zusammen gefrühstückt und uns dabei die Fachzeitschriften über das Ultraleichtfliegen angeschaut haben. Und der Tag, als ich zum ersten Mal selbst geflogen bin und eine Gans neben mir auftauchte und zu mir herüberschaute, als ob wir gemeinsam unterwegs wären. Das war wunderschön.«

Ich bin froh, dass sie schon wieder so über ihren Vater sprechen kann.

»Und haben Sie denn schon mal einen von diesen Rückzugsorten nutzen müssen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Irgendwie nicht. Es ging tatsächlich ohne. Wie gesagt, ich begreife nicht, wie es wirkt, aber es geht mir echt schon ein bisschen besser. Außer meine Kopfschmerzen. Die sind immer noch da. Die werden sogar schlimmer.«

»Ja? Das könnte eine vegetative Reaktion auf den ganzen psychischen Stress sein.«

Sie schaut mich nachdenklich an. »Eigentlich habe ich die immer schon gehabt. Immer mal wieder wahnsinnig starke Schmerzen, unabhängig von Stress oder Entspannung. In letzter Zeit sehe ich dann auch manchmal ganz verschwommen. Ich nehme dann Ibuprofen. Dann gehts oft wieder. Papa hatte das auch. Habe ich wohl geerbt.«

Ich stutze. »Wie, Ihr Vater und Sie hatten beide schon längere Zeit solche starken Kopfschmerzen und haben das nie untersuchen lassen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich dachte immer, das ist Migräne.«

Ich beuge mich vor. »Ja, das wäre auch das Wahrscheinlichste. Aber das müssen wir unbedingt abklären. Auch wenn das jetzt zusätzlich zu Ihrer Traumatherapie ist. Ich möchte da mal ein MRT machen lassen, ein genaues Bild vom Kopf in dieser Röhre, da haben Sie bestimmt schon mal von gehört, oder?«

»Ja, das kenne ich. Na klar, Herr Doktor, wenn Sie meinen.«

Ich stehe auf, um mit ihr zur Anmeldung zu gehen, wo Frau Gerber einen Termin für das MRT verabredet. »Mit Angiografie«, rufe ich noch in ihr Gespräch hinein, obwohl ich weiß, dass sie so was hasst. Aber eine Gefäßdarstellung ist in diesem Fall dringend angezeigt, und wenn jemand schon diese Untersuchung in der engen Röhre ertragen muss, kann man sich außer der Hirnstruktur auch die Blutgefäße im Gehirn mit anschauen.

»Dann sehen wir uns nächste Woche, nachdem das MRT gelaufen ist, Julia.« Wir geben uns die Hand.

»Und dazwischen habe ich auch noch zwei Therapiestunden.« Sie scheint sich darauf zu freuen und wirkt insgesamt deutlich zuversichtlicher als beim ersten Kontakt.

Ein paar Tage später halte ich den MRT-Befund in den Händen und muss schlucken. Julia hat ein Aneurysma! Eine lebensbedrohliche Aussackung einer Gefäßwand! Das Aneurysma ist zwei Zentimeter groß und liegt im Bereich der vorderen Hirnbasisarterie! Das muss natürlich möglichst schnell operiert werden, um den jederzeit drohenden Riss des Aneurysmas und eine Hirnblutung zu verhindern.

»Anja, können Sie mich bitte mit der Neurochirurgie in den städtischen Kliniken verbinden? Ich muss den Chefarzt persönlich sprechen.«

Nach einer Stunde kommt der Rückruf von Professor Diekenbrock.

»Herr Professor, ich habe hier eine 25-jährige Patientin mit einem zwei Zentimeter großen Aneurysma der Arteria communicans anterior. Es ist gerade diagnostiziert worden. Sie hat häufig Kopfschmerzen und sieht in letzter Zeit manchmal verschwommen. Der Vater der Patientin hatte wohl unter ähnlichen Symptomen gelitten. Er ist kürzlich aus ungeklärter Ursache beim Absturz eines Ultraleichtfliegers ums Leben gekommen. Möglich, dass er auch ein Aneurysma hatte, das während des Fluges gerissen ist und zu einer Hirnblutung geführt hat. Ich denke, wir sollten jetzt bei der Patientin keine Zeit verlieren.«

Der Professor reagiert sehr prompt und positiv auf meinen Vorschlag. »Das sehe ich genauso, Herr Kollege. Das schauen wir uns am besten hier in der Klinik an. Schicken Sie die Patientin mit einem Familienangehörigen und mit allen Befunden so bald wie möglich zu uns. Wir besprechen dann alle Risiken und die Notwendigkeit der Operation mit ihr. Auch wenn die bekanntlich keineswegs ungefährlich ist.«

»Verwandte hat sie nicht mehr, also zumindest nicht in der Nähe, aber dafür einen umso engagierteren Freund, der sie bei allem begleitet. Ich werde die beiden sofort anrufen. Ich danke Ihnen.«

Der Anruf bei Julia kostet mich Überwindung. Eine traumatisierte Patientin, die gerade wieder begonnen hat, Zuversicht zu schöpfen, die zudem mitten in der Trauer um ihren Vater steckt, jetzt mit so einer schlimmen Diagnose zu konfrontieren, das ist echt hart … aber unumgänglich.

»Liebe Julia, ich muss mit Ihnen und Jan etwas Wichtiges besprechen. Können Sie bitte möglichst bald gemeinsam in die Praxis kommen? Heute noch!« Ich spreche die Nachricht auf die Mailbox, weil sie nicht ans Handy geht. Und ertappe mich dabei, dass ich erleichtert bin, sie nicht direkt erreicht zu haben. Niemand führt solche Gespräche gern – und erst recht nicht am Telefon.

Kaum zwei Stunden später tauchen die beiden an der Anmeldung auf und werden direkt zu mir weitergeschickt. »Was ist denn los, Herr Doktor? Ist was passiert?«, fragt Jan ganz außer Atem.

»Bitte nehmen Sie erst mal Platz. Ich habe das Ergebnis vom MRT. Es ist so, dass Sie ein Aneurysma einer Hirnbasisarterie haben, Julia. Das ist eine Aussackung in der Gefäßwand, die wahrscheinlich immer größer werden wird. Und irgendwann, wenn Sie sich anstrengen und der Blutdruck etwas steigt, kann diese Aussackung reißen. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber ich muss es sagen: Wenn das passiert, könnten Sie an einer Hirnblutung sterben.«

Julia hat die Hände vor den Mund geschlagen. Ihre Augen füllen sich sofort mit Tränen. »Dann hat Papa das auch gehabt? Ja natürlich, deshalb hat er auch gar nicht mehr reagiert!… Wie furchtbar … mein armer Daddy.« Sie schluchzt nun hemmungslos in das T-Shirt von Jan, dessen Vorderseite nach kurzer Zeit ganz nass ist. Er streichelt ihr liebevoll über den Kopf.

»Ja, Julia. Das könnte wirklich sein. Genau deshalb müssen wir auch verhindern, dass Ihnen dasselbe passiert wie Ihrem Vater. Ich habe einen Termin bei Professor Diekenbrock in den städtischen Kliniken ausgemacht. Dorthin können Sie jetzt sofort kommen. Ich gebe Ihnen alle Befunde und die Bilder mit.«

Jan zieht Julia aus dem Sessel hoch und flüstert ihr zu: »Hey, Kleine, wir schaffen das alles gemeinsam. Ich bin immer bei dir, okay?«

»Sagen Sie mir Bescheid, Jan?«

»Mach ich, Herr Doktor.«

Es fällt mir unendlich schwer, die beiden jungen Menschen so gehen zu lassen. Am liebsten würde ich persönlich mitfahren und alle weiteren Schritte begleiten. Ich habe ja selbst vier Töchter in einem ähnlichen Alter wie Julia. Und die Vorstellung, dass sie in einer solchen Gefahr schweben könnten und nichts davon ahnen …

Ich kann den beiden nur nachschauen, wie sie den Gang hinunter aus der Praxis verschwinden. Und mir sagen: Sie wird das schaffen!

Natürlich telefoniere ich noch zweimal mit Professor Diekenbrock, um zu erfahren, ob Julia sich für die OP entschieden und welche Methode er vorgeschlagen hat. Er berichtet mir, dass sie zugestimmt hat, das Aneurysma mit einem Clipping behandeln zu lassen. Bei dieser Operation wird der Schädel über der Augenbraue um zwei Zentimeter geöffnet, und es wird mit einem sehr dünnen, beleuchteten Endoskop/Mikroskop, mit dem der Chirurg auch um die Ecke schauen und die natürlichen Hirnfurchen und -gruben nutzen kann, die Stelle aufgesucht, an der das Aneurysma sitzt. Dann wird ein vom Endoskop »mitgebrachter« Titanclip auf die Aussackung gesetzt. So wird der dünnwandige, ausgesackte Teil des Gefäßes abgeklemmt, ohne die gesamte Arterie stillzulegen, welche natürlich für die Durchblutung des Gehirns existenziell ist.

Am Tag der Operation bekomme ich nachmittags einen Anruf von Julias Freund Jan.

»Hallo Herr Doktor, Julia hat den Eingriff gut überstanden! Keine Komplikationen! In ein paar Tagen kann sie schon nach Hause. Ich soll Sie auch schön grüßen. Ach ja, gestern ist auch ihre Mutter aus den USA gekommen, um bei ihr sein zu können.«

Na, Gott sei Dank! Ich bin erleichtert. Das ist dann noch mal gut ausgegangen. Ich habe leider schon andere Fälle gesehen, in denen ein Hirnaneurysma nicht oder zu spät entdeckt worden ist und es durch Ruptur, also das Reißen des Blutgefäßes, zu einer Hirnblutung gekommen ist, nicht selten mit tödlichem Ausgang. Oder mit schwersten Hirnschäden und monatelanger Reha für die Patienten, die oft alles neu lernen müssen, wie Kleinkinder.

Sollte die Mutter sich entschieden haben, langfristig bei ihrer Tochter zu bleiben? Das würde Julia möglicherweise zusätzlich stabilisieren und auch die Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung positiv beeinflussen.

Vierzehn Tage später bekomme ich unverhofft Besuch in der Praxis. Julia steht gemeinsam mit Jan und ihrer Mutter in der Tür. Sie hat einen großen Blumenstrauß in der Hand und überreicht ihn mir lächelnd. Die Narbe über ihrer Augenbraue ist schon verblasst, und sie wirkt froh und optimistisch. »Danke, lieber Herr Doktor, dass Sie mir in jeder Hinsicht den Weg in meine Zukunft geebnet haben. Darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen?«

Die groß gewachsene blonde Frau, mit der Julia so gar keine Ähnlichkeit hat, schüttelt mir fest die Hand.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Dafür, dass Sie meine Tochter gerettet haben. Ich bleibe jetzt hier in Deutschland. Ich muss doch verrückt gewesen sein, Julia hier so allein zu lassen! Ich habe erkannt, dass sie mir das Allerwichtigste ist! Und dass wir jetzt hier wieder zusammen sind.« Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Mama, ist doch alles gut jetzt. Jan war doch immer bei mir. Und apropos, Herr Doktor, Jan hat mir noch im Krankenhaus einen Heiratsantrag gemacht.«

So langsam wird es ja hier wie in einer Krankenhausserie, wenn sich am Ende alles zum Guten wendet, denke ich bei mir. Aber manchmal ist das Leben eben tatsächlich so. Überstandene Lebensgefahr lenkt den Blick von Menschen oft auf das, was wirklich zählt, und sie treffen Entscheidungen, die sie vorher vor sich hergeschoben haben.

Ich schüttle nun auch Jan die Hand und gratuliere den beiden. »Ich wünsche Ihnen ganz viel Glück und hoffe, dass Sie auch Ihre Therapie noch weitermachen, Julia … und dann irgendwann ganz frei von Ängsten mit Ihrer Mutter und Jan zusammen den Ort des Unglückes noch einmal aufsuchen, um sich richtig von Ihrem Vater verabschieden zu können. Und vor allem hoffe ich, dass Sie den Gedanken loslassen können, dass irgendetwas von dem, was passiert ist, hätte verhindert werden können.«

»Ja, ich hätte nichts tun können. Und was ich machen konnte, habe ich ja jetzt wenigstens für mich selbst getan. Und da wäre Papa auch stolz drauf. Das weiß ich.«

Sie nickt mir noch einmal ernst zu, und dann verschwinden die drei den Gang entlang aus der Praxis. Hinaus ins Leben.

Im Labyrinth der Nerven

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