Читать книгу Im Labyrinth der Nerven - Dr. Nicole Knobloch - Страница 8
4 | Unerträglich
ОглавлениеChristian, Februar
Ich stehe mit Nicole in der Personalküche, wo ich mir gerade ein Glas Wasser holen wollte, und wir sprechen kurz über die interessante Patientin, die ich vorhin hatte. »Du, wie schwer betroffen ist denn die Frau mit der MS, die du eben untersucht hast? Hat sie viele Entzündungsherde im Gehirn?«, fragt Nicole. Sie hatte die Patientin kurz gesehen, als ich sie im Wartezimmer abholte und hinter ihr her zum Behandlungszimmer ging, und natürlich war auch ihr der Gang der jungen Frau aufgefallen. Und wie ich auch, vermutete sie sofort, dass die schwere Gangstörung durch eine Multiple Sklerose bedingt sei. Die Patientin schleifte ihren rechten Fuß über den Fußrücken hinter sich her. Die Oberseite ihres Schuhes war komplett abgewetzt, und sie knickte im Knie der betroffenen Seite sehr stark ein, sodass das gesunde Bein sich bei jedem Schritt mit viel Kraft und einem lauten Stampfen »hochdrücken« musste, damit sie überhaupt ein Bein vor das andere setzen konnte. Dadurch schaukelte ihr Körper beträchtlich. Ihre langen dunkelblonden Locken wippten bei jedem Schritt mit. Als ich sie überholte, um ihr die Tür zu öffnen, schaute ich ihr kurz ins Gesicht und sah, dass sie zufrieden lächelte. Sie wird aber offensichtlich sehr gut mit ihrem Schicksal fertig, dachte ich noch.
Ich antworte Nicole auf ihre Frage und verblüffe sie damit genauso, wie mich die Befunde überrascht hatten: »Keinen einzigen Entzündungsherd hat sie! Und auch nicht im Rückenmark! Sie hat definitiv keine Multiple Sklerose. Das MRT des Gehirns ist komplett unauffällig. Die Blutuntersuchungen beim Hausarzt waren auch ohne pathologischen Befund. Sie hat mir erzählt, dass sie diese Symptome schon seit mindestens vier Jahren hat und bereits bei einigen Ärzten war, zuletzt vor einem Jahr.«
»Und bei so einer heftigen Gangstörung hat sie nicht mit viel mehr Nachdruck versucht, die Ursache dafür herauszubekommen? Und sie schien mir sehr gelassen und geradezu glücklich, als ich sie vorhin weggehen sah.«
Ich lächle. »Genau! Und jetzt brauchst du mir nur noch zu sagen, was das auf Französisch heißt, und dann haben wir schon einen Teil der Diagnose.« Erwartungsvoll schaue ich Nicole an. Wir lieben solche Spielchen mit dem Wissen unseres Fachgebiets.
»La belle indifférence! Natürlich! Die schöne Gleichgültigkeit«, lacht Nicole.
La belle indifférence ist ein Begriff aus der Psychiatrie, den Sigmund Freud als Erster in die Psychoanalyse eingebracht hatte, beeinflusst durch seinen französischen Kollegen Charcot. Dieses Symptom einer »schönen Gleichgültigkeit« kommt bei Patienten vor, die eine Konversionsstörung haben; man kann auch dissoziative Störung dazu sagen. Die Begriffe bedeuten Umformung und Abtrennung. Sie beziehen sich darauf, dass ein tiefgreifendes psychisches Problem von Gedanken, Erinnerungen und Emotionen der Patienten abgekoppelt und dann umgeformt wird, zum Beispiel in eine körperliche Krankheit. Um es noch genauer zu sagen: Gesunde Menschen empfinden ihr ICH als Einheit von Erinnerungen, Emotionen und Handlungen. Bei einer dissoziativen Störung ist, meist aufgrund eines unerträglichen Ereignisses oder belastender Lebensumstände, dieses stabile Bild der eigenen Identität zerbrochen. Als Schutz blendet die Person das Ereignis komplett aus und formt es um in ein erträgliches Leiden. Die Gangstörung der Patientin ist sozusagen das kleinere Übel. Deshalb spricht man vom »primären Krankheitsgewinn«. Daher rührt auch die Gleichgültigkeit, die meine Patientin beim Erdulden ihres Leidens zeigt.
Vielleicht profitiert die Patientin auch im zwischenmenschlichen und sozialen Bereich sehr davon, dass sie nun eine »erklärbare« und »akzeptierte« Krankheit hat. Dies nennt man in der Fachsprache »sekundärer Krankheitsgewinn«. All diese Vorgänge sind den Betroffenen natürlich nicht bewusst. Und ihre Krankheitssymptome sind alles andere als vorgetäuscht.
Bei dieser Patientin wird es schon schwierig genug sein, ihr vorsichtig den Entstehungsmechanismus der Störung nahezubringen. Wie die meisten dieser Patienten hat sie bisher immer Ärzte aufgesucht und nie Psychologen, weil sie sich ganz sicher war, dass es einen rein körperlichen Grund für ihre Lähmung geben muss. Dass die Ursache aber viel tiefer liegt, muss man in ganz kleinen, einfühlsamen Schritten im Rahmen einer Psychotherapie aufdecken. So etwas ist für die behandelnden Psychiater oder Psychotherapeuten immer eine große Herausforderung.
Die traumatisierende Ursache ihrer Störung kann extreme Überforderung sein, ein Unfall, eine Naturkatastrophe oder eine Missbrauchserfahrung. Auch mangelnde Bindung an die Eltern und fehlende Geborgenheit hat man schon damit in Verbindung gebracht. Sogar eine angeborene Neigung zur dissoziativen Störung gibt es wohl.
Ich gieße mir eine Tasse Kaffee ein. Wir haben beide gerade ein paar Minuten Zeit – beziehungsweise wir nehmen sie uns einfach. Diese kurzen Momente des Austausches sind wichtig für unsere Arbeit – und für unsere Beziehung. »Mir fällt gerade ein Fall aus meiner Zeit in der Facharztausbildung ein. Ein etwa vierzigjähriger Mann war auf einer Landstraße aufgefallen, weil er immer auf und ab lief. Ein Autofahrer hielt an und fragte, ob alles in Ordnung sei und ob er ihn mitnehmen könne. Der Mann meinte, es sei alles okay und ja, er würde ein Stück mitfahren. Er stieg dann in der nächsten Kleinstadt aus und setzte sich in ein Bushaltestellenhäuschen. Dort blieb er wohl drei Tage und drei Nächte lang sitzen. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Ohne Essen und Trinken. Bis das einigen Anwohnern auffiel und sie ihn fragten, ob sie ihm helfen könnten. Als er bejahte, fuhr ihn jemand in die nächste Klinik.
Nachdem der entkräftete Mann dort erst mal reichlich Wasser und mehrere Brötchen bekommen hatte, wollte der diensthabende Arzt natürlich zunächst seine Personalien aufnehmen. Das scheiterte aber daran, dass der Mann keine Papiere bei sich hatte und keine der Fragen zu seiner Identität beantworten konnte. Er hatte einen umfassenden Gedächtnisverlust, wusste nicht, wie er hieß, wie alt er war, wo er herkam und was in den letzten Tagen passiert war.« Ich erinnere mich an jedes Detail. Und Nicole hängt atemlos an meinen Lippen. Sie spürt, dass meine Erinnerung eine Brücke zu unserer Patientin herstellen kann.
»Der Arzt in der Ambulanz hat dann sofort eine Untersuchung durch psychiatrische Fachärzte angefordert, und das war auch richtig so. Die Psychiater diagnostizierten eine schwere dissoziative Störung mit einer kompletten Amnesie. Was war nur geschehen? Vom Patienten waren weiterhin keine Informationen zu bekommen. Also fragte man bei der Polizei, ob es Vermisstenmeldungen gäbe. Und in der Tat wurde ein Mann vermisst. Nach einem Fotoabgleich war man sicher, dass es sich um den Patienten handelte. Seine Papiere hatte man in einem Auto gefunden, das vier Tage vorher von einer Landstraße über eine hohe Klippe in den Abgrund gestürzt war. In einer Kurve musste der Fahrer die Gewalt über den Wagen verloren haben. Darin saßen auch seine zwei Kinder und seine Frau, die wohl auf der Stelle tot gewesen waren. Man war sich aufgrund der Umstände nicht mal sicher, wer den Wagen überhaupt gefahren hatte. Es sah aber so aus, als sei die Frau an der Beifahrerseite aus dem Auto geschleudert worden. Nachdem man den Personalausweis des Mannes gefunden hatte, suchte man ihn zunächst natürlich intensiv an der Unfallstelle. Da man ihn nirgends fand, versuchte man ihn telefonisch und dann auch persönlich zu erreichen. Als auch dies nicht gelang, wurde er als vermisst gemeldet.
Der Mann muss also am Steuer gesessen haben und, noch bevor das Auto die Klippen herunterstürzte, aus dem Auto geschleudert worden oder gesprungen sein. Er muss anschließend noch seine tote Familie in der Schlucht liegen gesehen haben und ist dann auf die Landstraße gelaufen. Von dort aus konnte der Unfall von Vorbeifahrenden zunächst nicht bemerkt werden. In diesem Moment muss der Stresspegel des Mannes so unermesslich hoch gewesen sein, dass toxische Mengen von Cortisol und Adrenalin durch seine Blutgefäße rasten und dazu führten, dass die schrecklichen Wahrnehmungen vom Bewusstsein abgespalten wurden. Weggesperrt in eine nicht zugängliche Ecke der Erinnerungen!«
Nach meiner aufwühlenden Erinnerung an diesen Fall sind wir beide eine Weile still.
»Unglaublich schrecklich! Der Schock hat dazu geführt, dass die Gedächtnisinhalte von seinem ICH abgekoppelt wurden, damit es nie mehr mit den schrecklichen Ereignissen konfrontiert werden muss. Und wie ist es dann gelungen, diesen Patienten irgendwie wieder zurückzuführen in seine Realität?«, fragt Nicole.
»Es war enorm schwierig! Er wurde einige Tage unter schützenden stationären Bedingungen behandelt. Man gab ihm beruhigende Medikamente und begann mit einer Psychotherapie, bei der dem Patienten die Geschehnisse vorsichtig erklärt wurden. Schon dadurch wurde er emotional etwas entlastet. Irgendwann konnte er das Geschehene realisieren und war somit auch wieder in seiner Identität angekommen. Aber in einer schrecklich traurigen Realität.« Ich seufze. »Da haben wir es ja bei meiner Patientin heute mit einem vergleichsweise leichteren Fall zu tun.«
»Auf welche Ursachen würdest du denn tippen?«
»Am ehesten kann ich mir eine enorme Überforderungssituation vorstellen. Die Patientin hat mir erzählt, dass sie bis vor vier Jahren ihre bettlägerige Schwiegermutter gepflegt hat. Die alte Dame war wohl ein richtig bösartiger Drachen und hat sie heftig tyrannisiert. Und niemand in der Familie hat ihre Arbeit wertgeschätzt. Dadurch kann bei empfindlichen Menschen auch schon mal so ein Stress entstehen, dass die Seele es nicht mehr aushält. Dieser länger andauernde Prozess, der irgendwie auch mit Minderwertigkeitsgefühlen und Selbsthass einhergeht, hat auf die Dauer buchstäblich zum Zerbrechen ihrer Identität geführt. Die Umformung in ein körperliches Leiden war dann das Beste, was der Seele als Lösung eingefallen ist«, sage ich. »Ich vermute Folgendes: Nachdem die Patientin die Lähmung entwickelt hatte, fiel sie von einem auf den anderen Tag für die Pflege der Schwiegermutter aus. Diese plötzliche Entlastung war ein typischer sekundärer Krankheitsgewinn.«
»Tja, es ist zwar ein guter Schutzmechanismus der Seele. Aber andererseits auch teuer erkauft, wenn man dafür mit einer Behinderung leben muss. Ich glaube, nach der Diagnose, die für uns den Endpunkt der Arbeit bedeutet, fängt bei ihr, wenn sie denn überhaupt mit einer Therapie einverstanden ist, ein ganz langer Arbeitsprozess an. Hoffentlich schafft sie das«, gibt Nicole zu bedenken.
»Manche Patienten schaffen es nicht, weil sie sich nicht auf die Therapie einlassen können. Sie behalten tatsächlich lieber ihr ganzes Leben lang ihre Krankheit, als sich mit dem eigentlichen Problem zu konfrontieren.« Ich gehe zur Tür, drehe mich aber grinsend noch mal um. »Wobei: Mit einem solchen Drachen von Schwiegermutter wäre mir ein Hinken vielleicht auch lieber!«, lache ich. Und mache mich auf zum nächsten Patienten.