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5 | Eine gute Fassade

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Nicole, März

Die alte Dame, die in Begleitung ihrer Tochter gekommen ist, macht einen gepflegten Eindruck. Sie hat einen hellblauen Hosenanzug, ein weißes T-Shirt und dazu ein Halstuch in frischen Farben an. Das schneeweiße Haar trägt sie in einer flotten Föhnfrisur.

»Was führt Sie denn zu mir, Frau Sondermann?«

Sie lächelt dezent. »Ja, so richtig weiß ich das auch nicht.« Sie schaut zu ihrer Tochter hinüber.

»Mutti, du sollst der Frau Doktor einfach nur erzählen, weshalb ich mir in letzter Zeit etwas Sorgen um dich mache.« Ihre Tochter, eine untersetzte, mütterlich wirkende Frau Anfang fünfzig, rutscht auf die vordere Stuhlkante.

»Um mich? Um mich braucht man sich keine Sorgen zu machen.« Die alte Dame wirkt etwas eingeschnappt. Die Tochter insistiert: »Ja, aber was ist denn mit dem Herd, den du jetzt schon dreimal voll aufgedreht hattest, um etwas zu kochen? Einmal war ein Topf mit Fett darauf. Mmh? Und das hattest du dann ganz vergessen! Dann hat es eine riesengroße Rauchschwade gegeben, sodass die Nachbarn fast die Feuerwehr gerufen haben.«

Die Dame lacht kurz und etwas pikiert auf. »Ach so, das meinst du. Die Nachbarn sind aber auch sehr überspannt und nervös«, sagt sie dann erläuternd in meine Richtung.

»Frau Sondermann, darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«, schalte ich mich nun ein.

»Nur zu«, nickt sie gnädig.

»Wie alt sind Sie denn?«

»Also ich … ach das wollen Sie gar nicht wissen. Schon viel zu alt. Man wird immer älter, und es wird immer unwichtiger, wie alt man ist, wissen Sie?«, belehrt sie mich.

»Gut. Sie haben Ihre Tochter mitgebracht. Haben Sie denn auch Enkelkinder?«

»Ja, sicher!«

»Und können Sie mir sagen, wie viele es sind und wie sie heißen?«

Jetzt ist Frau Sondermann sichtlich böse auf mich. »Ja sagen Sie mal, was für Fragen stellen Sie denn? Natürlich weiß ich alle Namen von meinen Enkeln, wäre doch gelacht, wenn eine Omi die nicht wüsste.«

»Wie viele sind es denn?«

Verunsichert schaut sie zu ihrer Tochter. »Also, Katja, stell dir mal vor, die Frau Doktor glaubt nicht, dass ich das weiß! Drei sind es.«

Sie erntet einen missbilligenden Blick von ihrer Tochter.

»Mindestens!«, fügt sie schnell hinzu.

»Okay, Frau Sondermann, sagen Sie mir bitte einmal, welchen Monat wir gerade haben.«

Gespieltes Erstaunen. »Ach, Frau Doktor, das wissen Sie nicht? Das wissen wir doch alle hier.« Sie blickt an sich hinunter, sieht die luftige Bekleidung und zwitschert erleichtert: »Sommer.«

Ich übergehe ihre Fehleinschätzung. »Ich finde, Sie haben ein sehr flottes Frühlingskostüm an. Und Sie sehen so gepflegt aus. Stellen Sie sich Ihre Kleidung immer noch selbst zusammen? Und das mit der Haar- und Körperpflege klappt auch noch allein?«

Der starre Blick der Tochter und ihr heftiges Kopfschütteln zeugen vom Gegenteil.

»Ja, natürlich! Nicht wahr, Katja? Noblesse oblige, comme toujours«, perlt Frau Sondermann in gutem Französisch herunter. »Oh, und bei unseren Afrikareisen, da habe ich immer eine ganz wunderhübsche Garderobe dabeigehabt. Oder, Katja?«

Ihre Tochter verdreht jetzt zum ersten Mal die Augen.

Ich frage weiter: »Wie alt ist denn Ihr Ehemann?«

Frau Sondermann schaut etwas ratlos, kaschiert es aber gut mit einer hilflosen Geste. »Also, wenn Sie mich jetzt so direkt fragen …«

»Ja?«

»Ja, also so ganz spontan, so ad hoc?«

»Ja.«

»Da müsste ich jetzt aber überlegen.« Sie schaut nachdenklich aus dem Fenster, und als sie mich wieder ansieht, hat sie die Frage offenbar vergessen. Jedenfalls lächelt sie strahlend. »So. Haben wir es dann? War alles zu Ihrer Zufriedenheit, Frau Doktor?«

»Na ja, so ganz nicht, um ehrlich zu sein. Ich werde Sie jetzt noch gründlich neurologisch untersuchen. Können Sie sich einmal auf die Liege legen?«

Frau Sondermann ist sichtlich irritiert über den Verlauf des Vormittags. Sie hatte sich sicherlich nur auf eine nette Unterhaltung eingestellt. Nun auch noch diese Umstände!

Die neurologische Untersuchung ist unauffällig. Die Patientin ist außerdem für ihre 85 Jahre noch in einer ausgesprochen guten körperlichen Verfassung.

»So, das sieht doch alles sehr gut aus. Jetzt möchte ich zusätzlich noch einen Gedächtnistest und ein EEG bei Ihnen machen lassen, Frau Sondermann, einverstanden? Ich begleite Sie schon einmal in den Untersuchungsraum, dort nimmt Anja Sie in Empfang und wird die Untersuchungen durchführen. Ich spreche in der Zeit ein wenig mit Ihrer Tochter. Ist das in Ordnung für Sie?«

»Ich wüsste nicht, wofür wir einen Gedächtnistest brauchen, Frau Doktor. Aber gut, wenn Sie es so wollen. Cest la vie. Und danke, Sie brauchen mich nicht zu begleiten, ich kann sehr gut allein gehen.« Sie steht auf und geht mit sehr geradem Rücken nach nebenan in den EEG-Raum.

»Frau … wie ist eigentlich Ihr Nachname?«, frage ich die Tochter.

»Kammrich.«

»Frau Kammrich, Sie haben natürlich gut daran getan, Ihre Mutter einmal vorzustellen. Es tut mir leid. Ihre Mutter hat Alzheimer, da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Oh, nein! Ich habe es ja schon vermutet … Aber wenn ich es jetzt so von Ihnen höre, ist es doch ein Schlag!«

»Ja, das glaube ich Ihnen. Vor allem weil sie so eine unglaublich gute Fassade hat und offenbar immer eine selbstbewusste und zufriedene Frau war, stimmt das?«

»Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Frau Doktor. Meine Mutter war Schauspielerin. Sie hat gefühlt ihr Leben lang immer eine Rolle gespielt. Die der ›Grande Dame‹, die fließend Französisch sprach, mit meinem Vater auf Weltreise ging und sich Personal leisten konnte. Aber seit einem Jahr wird das immer mehr zu einer Farce. Stimmt, sie schafft es, fast jeden zu täuschen, was ihr Gedächtnis angeht. Da kommt ihr die Schauspielkunst echt zugute. Dem Gärtner hat sie letztens Anweisungen gegeben, ein ganzes Beet voller Christrosen zu pflanzen! Im März schon! Und hat ihm für den Einkauf fünf Euro in die Hand gedrückt! Er kam ganz verdutzt zu mir und fragte, was er damit anfangen solle. Sie bekam es mit und wand sich heraus: ›Was ist denn? Eine Pflanze zur Probe sollten Sie erst einmal holen. Und außerdem Pfingstrosen, das habe ich klar und deutlich gesagt.‹ So pfiffig sie manchmal noch erscheint, so hilflos ist sie aber dann, wenn sie mal einen Kaffee kochen möchte. Sie weiß nicht mal mehr ansatzweise, wie das geht. Mein Vater ist auch schon ganz verzweifelt. Der tut mir auch so schrecklich leid.« Frau Kammrich hat Tränen in den Augen.

Die Tür geht auf, und Anja kommt mit dem Testbogen herein.

»So, Frau Doktor. Die Frau Sondermann ist noch im EEG, aber der Test ist schon mal fertig. Es waren insgesamt nur zwei von dreißig Punkten«, flüstert sie mir zu.

»Ja, danke, ich habe es mir schon gedacht«, antworte ich leise und spreche dann etwas lauter, an die Tochter gewandt: »Der Test hat es objektiviert. Es sind leider nur sehr wenige Punkte. In dem Stadium, in dem Ihre Mutter schon ist, konnte sie bei diesem Demenztest unmöglich besser abschneiden. Es ist der sogenannte MoCA-Test, MoCA steht für Montreal Cognitive Assessment. Sie musste eine Uhr mit Zahlen und Zifferblatt zeichnen, die auf zehn nach elf stehen soll. Dann einen dreidimensionalen Würfel. Danach eine logische Zahlen-Buchstaben-Kombination mit selbst zu zeichnenden Linien vervollständigen. Außerdem sollte sie drei Tiere, nämlich Elefant, Nashorn und Kamel, anhand einer Zeichnung erkennen, sich fünf Wörter über zehn Minuten hinweg merken und dann reproduzieren, zwei schwierige Sätze fehlerfrei nachsprechen und eine Minute lang Wörter aufzählen, die mit dem Buchstaben F beginnen. Zum Schluss wird noch das Datum mit Jahr, Monat, Tag und Wochentag abgefragt.« Ich zucke mit den Schultern. »Wie Sie sich denken können, war das viel zu schwierig. Ich schaue mir das EEG jetzt noch an. Möglicherweise sehe ich da schon eine deutliche Verlangsamung der Hirnaktivität. Frau Kammrich, bitte machen Sie bei Frau Gerber direkt noch einen Termin für eine Wiedervorstellung in zwei Wochen. In der Zwischenzeit sollten wir noch ein MRT des Kopfes durchführen lassen, um andere mögliche Ursachen für eine Demenz ausschließen zu können, zum Beispiel massive Hirndurchblutungsstörungen oder einen Hirntumor. Wir nehmen auch Blut ab und bestimmen zur Sicherheit noch den Vitamin-B12-Spiegel und die Schilddrüsenwerte. Danach können wir vielleicht auch einmal über ein Antidementivum sprechen, ein Medikament, das die Symptome etwas bessern und den Verlauf der Alzheimerkrankheit verlangsamen könnte, okay?«

»Ja. Gut.« Frau Kammrich starrt vor sich auf den Boden. »Ich habe es gar nicht krachen hören«, sagt sie und lächelt traurig.

»Wie meinen Sie das?« Ich bin schon an der Tür.

»Na, als die Fassade meiner Mutter eingestürzt ist.«

ALZHEIMERKRANKHEIT

Die Alzheimerkrankheit ist mit circa siebzig Prozent die häufigste Demenzform und, von Ausnahmen abgesehen, eine Erkrankung des hohen Lebensalters. Erste Symptome sind Gedächtnis- und Orientierungsstörungen.

Die eigentliche Ursache der Erkrankung ist noch unbekannt. Im Gehirn von Betroffenen finden sich vermehrt Ablagerungen pathologischer Eiweiße: das Beta-Amyloid (Amyloid-Plaques) und das Tau-Protein. Diese bedingen ein fortschreitendes Absterben von Hirnzellen, besonders in der für das Gedächtnis wichtigen Hippocampus-Region.

Im Nervenwasser lässt sich eine typische Befundkonstellation der Tau- und Beta-Amyloid-Eiweiße nachweisen. Die Kernspintomografie zeigt den Schwund der Hirnsubstanz.

Die aktuell in Deutschland zugelassenen Medikamente (Antidementiva) wie Donepezil, Rivastigmin, Galantamin und Memantine können die Symptome leicht verbessern und den Krankheitsverlauf verzögern.

Ein möglich neuer Therapieansatz ist die Behandlung mit Antikörpern, bei der die schädigenden Eiweißverklumpungen aufgelöst werden sollen.

Gentherapien, die darauf abzielen, die krankhaften Eiweiße erst gar nicht entstehen zu lassen, sind noch Zukunftsmusik.

Neben der medikamentösen Behandlung spielen soziotherapeutische Maßnahmen, Bewegungstherapie, Ergotherapie und Beratungsangebote für die Angehörigen eine wichtige Rolle.

Im Labyrinth der Nerven

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