Читать книгу Zulassung zur Abschaffung - Die heillose Kultur - Band 2 - Dr. Phil. Monika Eichenauer - Страница 11
ОглавлениеWas ist noch um die Ecke?
Generell gibt es kaum Platz zum Leben, weil Wohnraum immer teurer wird. Die Nähe zu anderen Menschen rückt insofern innerlich in weite Ferne: Denn, um Menschen nahe zu sein, brauchen Menschen einen äußeren Raum, in dem sie sich frei bewegen können – wenn sie den nicht haben, müssen sie sich innerlich zurückziehen. Ebenso ergeht es nicht wenigen Menschen beim Gang durch die Stadt: sie fühlen sich erdrückt ob der vielen Menschen. Äußerlich sind Resultate der strukturellen Dezentralisierung, der Auflösung dörflicher Strukturen, um noch einmal das Bild aufzugreifen, schon lange etabliert: Kindergärten, Schulen, Universitäten und soziale Einrichtungen werden zunehmend vom normalen Leben abgekoppelt. Tante-Emma-Läden? Der Bäcker mit eigener Backstube nebenan? Raritäten. Stattdessen Franchiseketten und Megastores. Auf dem Campus lässt sich ganz anders rechnen und mit Gewinnen kalkulieren. Selbst Postämter und Banken machen sich rar. Und wer denkt an die alten und kranken Menschen? Nichts ist mehr um die Ecke! Folgerichtig plant man nun auch die Auflösung des Arztes in der Nachbarschaft. Was tun, wenn ein Kind oder ein alter Mensch stürzt? Das ist schnell beantwortet: Sich fünf Stunden in die Ambulanz setzen – und geduldig warten, bis ein völlig übermüdeter Arzt einen Augenblick Zeit findet. Eine Anekdote aus dem Leben der Autorin: Schmerzendes, geschwollenes Zahnfleisch, aber der Zahnarzt hatte Angst, den kleinen Schnitt selbst zu setzen. Was er befürchtete, teilte er nicht mit, sondern ordnete an, da die Kieferorthopäden schon Feierabend hatten, ich solle in die Ambulanz einer Klinik fahren. Dort angekommen, erfuhr ich, wie lange ich da vor mich hindarren sollte, und entschloss mich nach einer halben Stunde des Wartens zur Selbstbehandlung. Neben mir saß eine Bekannte, die seit vier Stunden wartete und es sich bereits in der sterilen Atmosphäre des Ambulanzwartezimmers gemütlich gemacht hatte. Und was tun, wenn – auch das ein Beispiel aus dem Leben – ein Familienangehöriger einer Patientin angesichts des plötzlichen Todes des Vaters plötzlich „nicht mehr normal“ reagiert und dringend stationäre Behandlung braucht? Der Gedanke, man könne mal eben in einer Klinik ein Gespräch für eine stationäre Aufnahme führen oder zumindest eine Diagnose erfahren, wurde im Umkreis von 300 Kilometern schnell zurechtgestutzt und auf den aktuellen Stand der Reformen gebracht: Kein Termin frei. Es gäbe viele andere Beispiele anzuführen, doch die Schuld an den Missständen wird grundsätzlich den Behandlern zugeschoben, denn sie haben die von der Politik verursachten Engpässe persönlich zu meistern und auszubalancieren.
Wie solche kulturellen Umstände und Umwälzungen keine Gefühle hervorbringen sollen, ist mir schleierhaft – ob nun bei Behandler oder Patient. Ich bin sicher: Gefühle wie Angst, Enttäuschung und Zorn sind da. Aber über Gefühle wird eben nicht gesprochen, weil jeder Einzelne allein damit fertig zu werden hat. Der Gewinn durch Unterbesetzung an Kassen in Warenhäusern und Einkaufsketten, lange Wartezeiten im Gesundheitswesen, fehlenden personellen Service bei Versicherungen und Banken geht zu Lasten von Kunden und Patienten, die ihre Gefühle, dass aus ihrer Zeit Profit geschlagen wird, in ihrem Leib zu Lasten ihrer Gesundheit verarbeiten müssen. Und deshalb wird Acht gegeben, dass vor allem die Berufsfachgruppe der Psychotherapeuten zahlenmäßig und hinsichtlich ihres politischen Handlungsspielraumes klein gehalten wird. Viele Jahre funktionierte das ja sehr gut. Aber jetzt nicht mehr: In Deutschland ist zu viel des Guten, besser des Schlechten, durchregiert worden. Zu viele Menschen brauchen ganz offensichtlich dringend psychische Unterstützung. Und wer, wenn nicht die Psychologischen und medizinischen Psychotherapeuten, weiß genauer, was an der menschlichen „Basis“ vor sich geht? Wer kennt denn das Leben von Patienten bis ins intimste Detail sowie die Konfliktwelt und die Symptome? Die Perspektive des Psychotherapeuten offenbart die Verbindungen zwischen wirtschaftlicher Basis, politischen Veränderungen und individuellem Leben. Das dafür notwendige tiefe Vertrauen seitens der Patienten bringen diese den übrigen Ärzten nicht im erforderlichen Maße entgegen, wie sich an der ersten quartalsmäßig einzureichenden Berichtspflicht der Psychotherapeutenschaft gegenüber Ärzten zeigt: Die Patienten wollen nicht, dass Ärzte oder vor allen Dingen Hausärzte vierteljährlich einen Bericht über ihre Psychotherapie bekommen! Warum sollten sie auch? Die Ärzte sprechen doch auch sonst nicht mit ihren Patienten. Verwunderlich bis ärgerlich ist auch die Vermessenheit der Ärzteschaft gegenüber dem Fachbereich Psychotherapie. Glaubt sie doch tatsächlich, beurteilen zu können, was einem Patienten fehle, und in der Lage zu sein, entlang ihres (fast) blanken Nichtwissens Konsiliarberichte auszufüllen, die im Rahmen des Psychotherapieantrags bei den Krankenkassen eingereicht werden müssen. Schikane? Hybris? Oberflächlich politisch verbrämte, den ausgemergelten „Gott in Weiß“ herbeirufende und mittels standesärztlich deklarierter Plausibilität stets erfolgreiche Machtpolitik, die sich immer in barer Münze auszahlt(e)? Die Quittung wird nun unter anderem durch eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung präsentiert: „Burnout, Depressionen oder Ängste: psychische Probleme bleiben bei Hausärzten einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung zufolge oft unentdeckt. Das liege einerseits daran, dass vielen Patienten der Mut zur Offenheit fehle. Zum anderen fragten aber auch Hausärzte nicht ausreichend nach.“ (Ruhr Nachrichten, 4. Mai 2009, Titelblatt: Psychische Probleme unentdeckt.)
Natürlich bekommen auch Ärzte aufgrund von Symptom, Unfall und Gebrechen mit, was ihren Patienten fehlt, aber eben nicht so, wie Psychologische Psychotherapie: Sie spüren, dass da noch etwas anderes ist, auch wenn sie es nicht benennen oder nur Mutmaßungen anstellen können. Aber neben dem Fachwissen der Psychotherapeuten fehlt ihnen zusätzlich die Zeit für nähere Nachfragen und Informationssammlung durch den Patienten: Und die ist nicht mal eben so nebenbei und ohne fachliches Wissen gemacht – sonst wären sie in der Tat Götter in Weiß. Denn: Psychologische Psychotherapeuten und auch medizinische Psychotherapeuten haben lange dafür studiert, Unterschiede wahrnehmen zu können und dementsprechend bezüglich der von Menschen und Patienten geäußerten Symptome zu differenzieren. Allein dass diese Tatsache des Studiums und der Ausbildung von Fachärzten für Psychotherapie hervorheben muss, ist ein Hinweis auf allgemeine Ignoranz in der Kultur.
Nun wurde in den letzten vier Jahren eine umfangreiche Studie der Universität Freiburg und dem „Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin“ (ÄZQ) zur Grundlage eines neuen Leitlinienprojektes, dass die „Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde“ (DGPPN) ins Leben gerufen habe, weil die Behandlung von Depressiven zwar besser geworden sei, aber noch nicht „optimal abgestuft und abgestimmt zwischen haus-, fachärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung“ sei hinsichtlich Diagnostik und Therapie, wie Prof. med. Mathias Berger von der DGPPN im Deutschen Ärzteblatt zitiert wird. (PP, Heft 1, Januar 2010, S. 7) Diese Leitlinie wurde für die Hausärzte erarbeitet und sieht „bei leichten depressiven Episoden eine aktiv-abwartende Begleitung vor.“ Arzt und Patient sollen 14 Tage abwarten, wie sich die Symptome entwickeln – erst dann soll mit einer entsprechenden Therapie begonnen werden – „es sei denn der Patient wünscht eine frühere Behandlung. Dass Arzt und Patienten zusammen entscheiden sollen, zieht sich als roter Faden durch die gesamte Leitlinie“, betont Berger. Und weiter: „Bei leichten bis mittelschweren Erkrankungen ist eine Psychotherapie vorgesehen. Sie wird in diesen Fällen der Gabe von Antidepressiva gleichgestellt. Die Leitlinie empfiehlt, bei akuten mittelschweren Depressionen dem Patienten Antidepressiva anzubieten. Leidet ein Patient unter akuten schweren Depressionen, Dysthymie, Double Depression und chronischen Krankheitsbildern, ist eine Kombinationstherapie von Antidepressivum und Psychotherapie indiziert.“ (Dr.rer.nat. Marc Meißner, 2010, S. 7)
Mit dieser Leitlinie werden Patienten im ersten Schritt wissenschaftlich begründet in die Hausarztpraxen geleitet, statt zum Psychologischen Psychotherapeuten – auch wenn Patienten weiterhin selbstverständlich im ersten Schritt in Psychologischen Psychotherapiepraxen konsultieren können. Wissenschaft eignet sich besonders gut um neuen Boden zu generieren: Diese Leitlinie ist denn auch für Ärzte erstellt und zeigt auf, wie das Erstzugangsrecht von Patienten geschickt in medizinische Arztpraxen umgeleitet wird. „Dieter Best, Vorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, begrüßte diese stärkere Gewichtung der Psychotherapie: ‚Bei allen Schweregraden und allen Formen der Depression ist nach der neuen Leitlinie eine Psychotherapie angezeigt’, erklärt er. ‚Das ist neu.’“ (ebda, S. 7)
Die Behandlung von Depressionen, soll hier noch einmal ausdrücklich betont werden, lag in jeder Form bisher im Bereich der Psychologischen Psychotherapie – diese Leitlinie ist keine Erweiterung und Anerkennung Psychologischer Psychotherapie, sondern eine Kompetenzerweiterung eines jeden Hausarztes in Deutschland, der nun nicht einmal mehr eine Zusatzbezeichnung für Psychotherapie nachweisen muss! So heißt es denn auch weiter in dem Artikel: „Zeigt die Therapie des Hausarztes nach sechs Wochen keine Wirkung, sollte der Patient überwiesen werden.“ (Ebda.) Der Hausarzt kann in der Leitlinie S-3 nachsehen, wann eine Therapie geändert werden muss. Dafür gibt es red flags (zu Deutsch: rote Flaggen!), also „Indikatoren, anhand derer der behandelnde Arzt erkennen kann, wann die Therapie geändert oder der Patient überwiesen werden sollte.“ (Ebda.) Red flags ersetzen die Rote Karte, die die Psychologische Psychotherapeutenschaft (PP) zu diesem Thema im Vorfeld hätte zeigen müssen! Die Psychotherapeutenkammer fährt einen Anpassungskurs an medizinisch-ärztliche Interessen, die der PP den Boden für Eigenständigkeit und letztlich Ausweitung ihres offiziellen Berufsfeldes nehmen und Abrechnungsziffern für eine psychotherapeutische Grundversorgung erst gar nicht in Erwägung ziehen. Die Ausschließlichkeit von Verhaltenstherapie ist in der Leitlinie S-3 zu Ungunsten aller anderen Psychotherapieverfahren beschrieben, wobei mir nicht bekannt war (und vermutlich nur Ärzten bekannt war oder ist!!!), dass es medizinisch-ärztliche Leitlinien gibt/gab, die AUSSCHLIEßLICH zur Behandlung von Depressionen Verhaltenstherapie verordnen! Gut zu wissen, dass ärztliche Leitlinien unser Berufsfeld methodisch lenken, ohne dass wir Kenntnis davon haben!
Andererseits muss im Sinne von Patienten zur Leitlinie S-3 unter Aussparung des politischen Fokus – in dem Mediziner Psychologischen Psychotherapeuten den Boden ihres Berufs- und Kompetenzbereiches schmälern wollen – gesagt werden, dass möglicherweise Patienten, die im ersten Schritt zu ihrem Hausarzt gehen, dann vielleicht doch eine Empfehlung für Psychotherapie von ihm (wenn auch möglicherweise erst nach 6 Wochen) bekommen statt Nicht-Behandlung oder ausschließlich medikamentöse Behandlung. Allerdings ist die Leitlinie S-3 nur eine Empfehlung, an die Hausärzte sich halten können oder auch nicht. Denn: Wer überprüft es denn, ob die Hausärzte sich diesbezüglich fachkundig machen? In jedem Falle werden Ärzte für diese „aktiv-abwartende Begleitung“ Abrechnungsziffern bekommen. Und sie müss(t)en dann mit ihren Patienten sprechen und ihnen zuhören – und es bleibt zu hoffen, dass sie dafür eine Zusatzqualifikation erworben haben. (Siehe im vorliegenden Band „Unheiliges ärztliches Ansinnen: Psychosomatische Medizin kontra Psychologische Psychotherapie, S. 247 und in Band 3 „Die Partizipative Entscheidungsfindung.“ S. 447)
Ohne klare Wert-Leitlinie wird diese gegenwärtige Kultur (und Gesellschaft) nicht wieder auferstehen; denn wir brauchen gesunde, freundliche und fröhliche Menschen, die alle auf gleiche Rechte und Pflichten blicken und in Freiheit leben können. Unter einem für alle verbindlichen moralischen und ethischen Himmel, der jedem Menschen in dieser Gesellschaft die individuell notwendigen Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten gewährt. Dazu ist der Konsens über den Wert des Lebens und des Menschen an erste Stelle über alle anderen Werte einer gesellschaftlichen Werteordnung zu stellen: An erster Stelle der Wertehierarchie einer Kultur muss der Mensch stehen. Und die Ökonomie hat sich nach menschlichen Bedürfnissen zu richten – nicht umgekehrt. Menschen müssen wieder fühlen dürfen und lernen, gemäß ihrer Gefühle zu handeln, sonst verlieren sie ihr Urmenschliches im Kampf um ihr Leben – in der Gesundheitswirtschaft und generell in unserer Kultur.
Vielleicht macht sich ja mal einer die Mühe, die Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (s. http://homepage.hamburg.de/menschenrechtsbund/allgemeine-erklaerung.html) mit dem kulturellen Ist-Zustand zu vergleichen und nachzuvollziehen, in wie vielen Punkten sie im Interesse der weltweiten kapitalistischen Ökonomie bereits abgewandelt wurde …
Dieser Mühe unterzog sich nun nach Fertigstellung des vorliegenden Buches die Landesärztekammer Baden-Württemberg in einem Festakt und gedachte der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen 1948. Vieles blieb bei Deklarationen. Konsens war zum einen, dass der Einfluss des sozialen Status auf die Gesundheit heutzutage niemand mehr bestreitet. Zum anderen, das eine flächendeckende menschenwürdige Grundversorgung von Pflegebedürftigen offensichtlich nicht mehr gewährleistet sei. Zusätzlich sei es eine der wichtigsten Aufgaben, so der Menschenrechtsbeauftragte Ulrich Clever, der das durch die Ärztekammern Anfang der 90ziger Jahre neu geschaffene Amt bekleidet, „Menschenrechtsverletzungen von Ärzten und an Ärzten zu vermeiden, aufzudecken und anzuprangern.“ (Korzilius, Heike, 2009, S. 66) Insbesondere kümmere man sich um ausländerrechtliche Verfahren, in denen es um Attestierung der Reisefähigkeit oder Feststellung einer Posttraumatischen Belastungsstörung gehe. Weiter sei die Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus ein zentrales Thema. Eine Sorge der Ärzte, die Illegale behandeln, wurde ausgeräumt: „Es gibt keine rechtliche Verpflichtung von Ärzten, Menschen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, die sie behandeln, zu verpfeiffen.“ (Korzilius, 2009, S. 66) Nun, dann kann es in Deutschland nun nicht mehr lange dauern, bis ein entsprechendes Gesetz vorliegt...denn kein Land der Welt ist so emsig in der Schaffung von Gesetzen, möchte ich hier realiter nach den vorliegenden Erfahrungen anfügen.
Kritisch ist anzumerken: In diesem Amt des Menschenrechtsbeauftragten werden die Probleme, die sich für Menschen und Patienten aus den in Deutschland verabschiedeten Reformen im Gesundheitswesen – wie im vorliegenden Buch aufgezeigt – ergeben, nicht aufgegriffen. Sie werden nicht einmal reflektiert. Missstände werden akzeptiert und im Konsens bestätigt: So ist es halt..... Was mit Menschen in Deutschland im großen Maßstab passiert, ist eben etwas, was fast alle Menschen erleben und von daher nicht diskussions- noch reflexionswürdig? Es kann diesbezüglich sowieso nichts geändert werden? Menschenrechtsverständnis konzentriert sich auf kulturelle Randgebiete wie sie Migranten oder Asylanten betreffen? Wo bleibt die grundsätzliche Reflexion über die Verleugnung des Menschseins, über die Verleugnung des menschlichen Wesens und dessen Gefühlen, welche eine transkulturelle, transhistorische und anthropologische Reflexion des menschlichen Wesens, nach allem was wir über uns wissen, gestattet? Nur eine solche Reflexion kann Grundlagen für eine menschenwürdige Lebensbasis und deren Gesundhaltung generieren, die zu angemessenen Handlungen in einem menschenwürdigen Gesundheitswesen führen. Kapitalistische Ökonomisierung von Menschen zählt nicht zum Heilinventar einer intakten, auf das menschliche Wesen zentrierten Kultur und Gesellschaft.
Gefühle sind wichtige Seismographen in einer Kultur. Doch den Menschen werden sie ausgetrieben, respektive mittels Manipulation gegen sie selbst gerichtet. Am besten, die Bürger trauen sich selbst nicht mehr über den Weg – das ist der Garant, mit ihnen machen zu können, was man will. Momentan wird das gesamte deutsche Volk zur Unterordnung erzogen bei gleichzeitiger Durchleuchtung des Einzelnen. Setzt er sich vor den Fernseher, besorgen Diskussionen und Erwägungen der Moderatoren eigene Gefühls- und Meinungsbildung. Bewegt sich der Bürger, muss er in Deutschland aufpassen, keinen Fehler zu machen, kein Gesetz zu missachten, keine Grenzen zu überschreiten und sei es die, an der Parkuhr die Zeit überschritten zu haben, oder per Zufall in eine Demonstration zu geraten. Der deutsche Bürger muss sich in jeder Hinsicht gut auskennen, sonst zahlt er. Gesetze machen’s möglich. Aber wie sich zeigt, ist der Bürger so gut wie nicht geschützt: Eine Bespitzelung nach der anderen fliegt auf (Telekom, Bahn, Lidl etc.) und der Staat hat zusätzlich die Möglichkeit selbst auch noch unerkannt Bürger im Rahmen der Anti-Terror-Gesetze zu bespitzeln. Dies schafft ein sehr ungutes Klima. Die Regierung bittet um das Vertrauen der Bürger, aber die Regierung hat kein Vertrauen in ihre Bürger. Unterordnung gewährleistet den Erhalt der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft. Und statt den negativen Einflüssen Grenzen zu setzen, werden die Ursachen und Auswirkungen auf jene abgewälzt, die sensibel darauf reagieren und zum Beispiel krank oder aggressiv werden.
Beispiele:
(1) Chronisch erkrankte Menschen müssen sich zusatzversichern, wenn sie sich weiter behandeln lassen wollen.
(2) Hinsichtlich der medialen Gewaltverherrlichung wird seit Jahren eine Grenzziehung vermieden.
(3) Kinder sind durch Fernsehen, Zeitschriften, filmische Übertragungen von Handy zu Handy „bestens“ unterrichtet.
So hörte die Kindheit meiner Tochter mit ihrem ersten Tag im Kindergarten (einem anthroposophischen Kindergarten) auf. Plötzlich kam sie mit eindeutig sexuellen Inhalt transportierenden Wörtern nach Hause. Eltern haben kaum Möglichkeiten, die Welle negativer Einflüsse, die unsere Kultur durchströmt, zu stoppen – auch die Lehrer nicht. Da mit Kindern Milliarden verdient werden können, bleiben langfristige Änderungen aus, und Gewalt wird zur Adrenalin erzeugenden Sucht. Mein Literaturtipp: Manfred Spitzers Buch „Vorsicht Bildschirm“ (2006). Ihm können sie entnehmen, was Fernsehen verursacht: Fettleibigkeit, Gewaltbereitschaft, Festlegung von Abhängigkeitsstrukturen, Krankheiten und neuronale Mustern, die Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft steuern. Gerade Kinder und Jugendliche werden gezielt als Käufer bestimmter Produkte angesprochen und missbraucht.
(4) Da Misshandlungen und Missbrauch von Kindern zunehmen, fordern Politiker jetzt den allgemeinen Zugriff der Jugendämter auf Familien-Daten. Missbrauch und Gewalt gegen Kinder hat also sehr, sehr viele Gesichter – in Deutschland und wie international: Einschließlich der Genitalverstümmelung an Mädchen, aus der sich auch Kinderhilfswerke wie PLAN heraushielten. Sie könnten nichts unternehmen, weil Beschneidung ein "wichtiger Teil der lokalen Tradition" sei, wie Monika Gerstendörfer (Lobby für Menschenrechte) in einem ihrer Artikel mitteilt: „Die Verstümmelung von Mädchen ist in Teilen Afrikas Teil lokaler ‚Identitätspolitik’. Die Forderung nach Abschaffung dieser barbarischen ‚Initiationsriten’ wird oft mit dem Hinweis zurückgewiesen, das sei ein wichtiger Teil der lokalen Tradition, und man lasse sich vom Westen nicht die eigene Kultur kaputt machen.“ (Artikel: .welt.de, Verstümmelung des Patenkindes; siehe E-Mail-Verteiler Michaela Huber, 23.12.2007)
An diesen täglichen Hiobsbotschaften wird der kulturelle Verfall (und auch international nicht akzeptable Tradition) deutlich – aber auch die Unfähigkeit der Politiker, Entscheidungen im Sinne einer funktionierenden und menschlichen Kultur von der Wurzel her zu fällen. Und so wird der Mensch weiterhin Lebensstrukturen und Einflüssen ausgesetzt, die seelisch und körperlich krank machen. Der Mensch in unserer Kultur ist Objekt ökonomischer Interessen. Entsprechend werden seine Gefühle so manipuliert. Je besser diese Instrumentalisierung funktioniert, desto mehr rollt der Rubel und desto größer ist die Freude derjenigen, denen es gelungen ist, Menschen zu benutzen. Diese Kultur verherrlicht und fördert damit jede denkbare Perversion – bis der Mensch den Menschen auffrisst, die Seele und den Körper. Jacques Attali nannte dies „Die kannibalische Ordnung“ (1981). Eine exakte Beschreibung einer Kultur, in der jeder Bürger aufgefordert wird, seine Idealisierung von Lebens- und Arbeitsstrukturen zum eigenen Selbstschutz angesichts der Grausamkeit zu bewahren – damit die ökonomische Ordnung samt Besitzverhältnissen bleibt, wie sie ist: Die Idealisierung schützt vor der Wahrheit, wie der Mensch unter politischen und ökonomischen Gesichtspunkten verwertet wird.
Will man also im Sinne des Erhaltes von Menschen Grundlegendes unternehmen, reichen die tradierten Denkmuster zur Heilung des Einzelnen wie der Kultur nicht mehr aus. Aber solange den Betroffenen die Schuld an den Symptomen, unter denen sie leiden, gegeben wird und sie zusätzlich dafür bezahlen müssen, bewegt sich in Deutschland nichts in Richtung einer gesunden kulturellen Entwicklung. Unterdessen zahlt der Bürger weiterhin für das, was Industrie und Wirtschaft verseucht und verbockt haben. Die Säuberung des Menschen von all den Umweltgiften, von den negativen kulturellen Einflüssen und medialer Verseuchung erwachsener und kindlicher Gehirne kostet uns buchstäblich den Kopf. Körper und Seele stehen unentwegt unter Stress, werden überflutet, überfordert und durch das gleichzeitige Wirken völlig unterschiedlicher Werte vorsätzlich psychisch fehlgeleitet und seelisch gebrochen. Generationen werden unter den negativen Folgen unserer heutigen Kultur leiden und sie abtragen müssen.
Denn nicht nur unsere natürliche Lebensbasis, Erde, Luft und Erdatmosphäre, ist angegriffen: Der Mensch selbst ist bis ins Mark – körperlich und seelisch – ge- und betroffen. Wie lange wird es dauern, bis der Mensch dem Menschen wieder trauen und vertrauen kann – ohne dass er sich zuvor durch das zelebrierte, lukrative Leid und die von Macht dominierten Beziehungsfallen hindurchquälen und erst zusammenbrechen muss, um zu erkennen, dass nicht der Hass, sondern nur das Vertrauen im Leben ihn tragen kann. Hass, Aggression und deren Steigerungen in Form terroristischer Akte müssen aus allen Kulturen verschwinden. Ob Maßnahmen wie Anti-Terror-Gesetze dazu beitragen können, wird von einigen Seiten stark bezweifelt.
Hier möchte ich noch einmal auf das Buch von Auchter, Büttner, Schultz-Venrath und Wirth „Der 11. September. Psychoanalytische und psychohistorische Analysen von Terror und Trauma“ (2003) hinweisen. Aus dem darin Gesagten ist eine Forderung an die Medien, aber vor allem an ärztliche bzw. medizinsiche und Psychologische Psychotherapeuten abzuleiten: Die Hintergründe von Terror und Terroristen gehören mit in die Berichterstattung. Fatalerweise wird das Vertrauen, das Menschen sich aus Krisen – psychisch, seelisch oder körperlich – neu erarbeitet haben, dieses wieder errungene humane Kapital, von Politik und Wirtschaft oftmals ausgenutzt und damit erneut missbraucht. Alexander Mitscherlich, den ich bereits im Band 1 zitierte, bezog in seinen psychoanalytischen Reflexionen historische und geschichtliche Ereignisse in die psychosoziale Gegenwartsbewältigung der Menschen in Deutschland nach dem Krieg mit ein – aber er geriet in Vergessenheit. Erst anlässlich des Freud-Jahres 2006 gewannen seine Ausführungen wieder an Bedeutung. Zum Beispiel durch die Veröffentlichung von Sibylle Drews, „Freud in der Gegenwart. Alexander Mitscherlichs Gesellschaftskritik“ (2006), in der Vorträge verschiedener Autoren eines Symposiums an der Frankfurt Universität zu Ehren Freuds zu Wort kommen. Gesellschaftskritik und -reflexion erscheinen dringend notwendig. Denn diese Kultur zeichnet sich nicht nur im kapitalistischen Wettbewerb durch Grenzenlosigkeit aus. Konkurrenzstrukturen übertragen sich auch auf Kinder und Jugendliche, die sich ihre eigenen Felder suchen, um zu beweisen, dass sie dieses Spiel auch beherrschen: In Schulen, in Peer-Groups, in Banden, aber auch durch Marken-Kleidung wird das Machtspielchen nachempfunden und zelebriert.
Diese Kultur wird als Kultur der Tabubrüche und Rekorde in die Geschichte eingehen – im negativen wie im positiven Sinne. Aber die negativen werden die positiven Errungenschaften zunichte machen, wenn sich politisch nichts ändert. Der Mensch hat mit dem Menschen gebrochen.
Das kann nicht überboten werden!
Wenn „Heilung“ kulturell nicht mehr im Vordergrund steht, dann hat eine Kultur alles verspielt, was sie hatte: Menschen. Wenn Heilung als prinzipielle Ausrichtungen auf Leben, Mensch und Behandlung wertlos ist, gibt es keine Liebe mehr, kein Vertrauen, weder Mitleid noch Mitgefühl, keine Zukunft und keine Menschen mehr: Es gibt nur noch Pflichterfüller, die funktionieren.
Die politische und wirtschaftliche Ignoranz sowie die Bereitschaft, Risiken einzugehen im vollen Bewusstsein, Menschen damit zu schädigen, nehmen derzeit erschreckend zu.
Die Chuzpe ist generell ebenso unverschämt wie die Scham der Fühlenden und Denkenden beim Realisieren, wozu politisch geschwiegen werden soll. Geschwiegen werden soll zur Demontage und, überspitzt formuliert, zu Schädigungen des Menschen durch Präferierung von Zielen, die am konkreten Menschen vorbeigehen. Über das Ausmerzen von Ursachen soll nicht gesprochen werden – damit alles in Sachen Ökonomie so bleibt, wie es ist.