Читать книгу Depression und Burn-out überwinden - Dr. Sabine Gapp-Bauß - Страница 15
Trost und Halt auf dem Weg aus der inneren Einsamkeit
ОглавлениеZum Verständnis:
Depressive Menschen leiden vor allem unter einem quälenden Gefühl von Niedergeschlagenheit und Einsamkeit, das sich anfühlt, wie wenn jemand von sich selbst abgeschnitten ist. Es ist das Gefühl von Gefühllosigkeit, das so unerträglich ist und kaum richtig benannt werden kann. Manchen hat es geradezu „die Sprache verschlagen“. Um da herauszukommen, braucht man einen langen Atem. In diesem Prozess sind Menschen auf Trost und Halt von außen angewiesen, denn dadurch lassen sich Zuversicht und Hoffnung schöpfen. Gerade Trost ist ein Faktor im Heilungsprozess, dem in unserer technisierten Medizin kaum Bedeutung beigemessen wird. Erfahren Menschen Trost, so schöpfen sie wieder Hoffnung. Auf diese Weise hören die Alarmreaktionen im emotionalen Gehirn sofort auf und es kommt zur Regeneration der seelischen Kräfte.
Eine Patientin berichtete mir, dass in ihrer Klinikzeit ein einziges Gespräch mit der Nachtschwester, in dem sie sich auf einer tiefen Ebene verstanden fühlte, dazu beitrug, dass sie keine Schlafmittel mehr brauchte. Psychodynamik ist eben stärker als „Pharmakodynamik“, was so viel heißt wie: Heilsame Beziehungen wirken stärker als jedes Medikament. Da Sie dieses Buch in die Hand genommen haben, nehme ich an, dass Sie daraus Trost und Bestärkung schöpfen möchten. Ich werde im Folgenden beschreiben, worum es sich dabei handelt.
Menschen mit Depression quält, unabhängig davon, ob sie allein oder mit jemand zusammen leben, ein Grundgefühl von tiefer innerer Einsamkeit. Selbst in der Umgebung liebevoller Familienangehöriger kommen Sie sich phasenweise vielleicht völlig verloren vor, denn keiner kann ganz genau nachfühlen, was Sie da gerade durchmachen. Außerdem schmerzt die Erkenntnis, dass Sie an dem guten Lebensgefühl Ihrer Mitmenschen gerade überhaupt nicht teilhaben können. Stattdessen haben Sie das Gefühl wie abgeschnitten zu sein von denen, die Ihnen sonst ganz vertraut sind. Hinzu kommt, dass Sie sich kaum für Ihre Außenwelt interessieren, da sich im Moment all Ihre Kräfte nach innen richten.
Die ungewohnten Stimmungsschwankungen sind beunruhigend für Sie. Vielleicht haben Sie das erste Mal in Ihrem Leben das Gefühl, sich nicht mehr auf sich selbst verlassen zu können, und Sie können das niemandem so recht mitteilen. Die Folge ist nicht selten Verzweiflung.
In dieser Situation brauchen Sie eine sichere und zuversichtliche Begleitung durch eine Person Ihres Vertrauens, die die fachliche Kompetenz im Umgang mit solchen Lebenssituationen hat. Sie übernimmt für eine gewisse Zeit die Funktion, Ihnen Trost, Halt, und ein Geländer zu bieten, an dem Sie sich während des Heilungsprozesses festhalten können. Gehen werden Sie alleine.
Der Begriff „Trost“ mutet in unserem modernen Medizinbetrieb, in dem es oft um gnadenlose Aufklärung geht, schon fast altmodisch an. Trost ist aber gerade am Anfang ein notwendiges Element des Heilungsprozesses. Ohne Trost zu erfahren, kann man als Depressiver leicht den Mut verlieren. Die typische Befürchtung ist, nie wieder ein normales Leben führen zu können. Auch wenn man Ihnen immer wieder versichert, dass das vorübergeht, können Sie es nicht glauben.
Das Wort „Trost“ ist nach Anselm Grün (2008) vom Wortstamm „treu“ hergeleitet und bedeutet „innere Festigkeit“. Jemand, der Trost spendet, hält also mit seiner eigenen inneren Festigkeit zu demjenigen, der da gerade durch tiefe Gefühle von Einsamkeit und Angst geht. Trost wirkt aber nicht als billiger Trost. Wer wirklichen Trost spendet, kann mit dem Erkrankten mitschwingen und traut ihm aufgrund seiner Erfahrung zu, dass er oder sie wieder gesund wird. Dadurch, dass jemand an Sie glaubt, kann sich das Gefühl der Zuversicht mit der Zeit auf Sie übertragen.
Halt und Orientierung, ähnlich einem stabilen Geländer, braucht der depressive Mensch ganz besonders, weil dieses Krankheitsbild in seiner Symptomvielfalt so komplex ist. Die Betroffenen können sich nicht mehr auf Gewohntes verlassen, da täglich neue Herausforderungen bewältigt werden müssen. Ein Therapeut hilft, zu sortieren, zu erklären und schlägt Werkzeuge vor, die helfen, auch mit schwierigen inneren Zuständen umzugehen. Sie werden sich selbst auf diese Weise immer besser verstehen und steuern können. Der Therapeut feiert auch Ihre kleinen Siege mit, die dazu motivieren, am Heilungsprozess dranzubleiben. Ein Therapeut setzt aber auch Grenzen und fordert dazu auf, selbst kreativ zu werden.
Sie können sich diesen Prozess ähnlich dem Entwicklungsprozess als Kind vorstellen. Ein Kind geht an der Hand seines Vaters oder seiner Mutter überall durch, wenn Mutter oder Vater dem Kind Sicherheit vermitteln. Aus Ihrer Kindheit erinnern Sie sich vielleicht noch daran, dass einmal jemand zu Ihnen gesagt hat: „Ich weiß, das ist jetzt nicht so einfach für dich, aber wir schaffen das, wir beide zusammen.“ Vielleicht ist es wichtig, dass Sie genau diese Erfahrung jetzt machen dürfen.
Mit einem Menschen Ihres Vertrauens, der Erfahrung und Zuversicht hat, lässt sich jede Krise mit der Zeit überwinden. Anfangs braucht es vielleicht häufigere Kontakte, manchmal auch tägliche kurze Telefonate, die Sicherheit geben. Später können die Abstände länger werden, da Sie Ihre Gefühle und Reaktionen immer besser einordnen und damit umgehen können. Sie gewinnen zunehmend Ihr Vertrauen zu sich selbst zurück. Die Krankheitssymptome mögen noch so schwer zu ertragen sein – wenn da jemand ist, der Sie und die Situation versteht, lassen sich immer Lösungen und neue Perspektiven finden. Und dadurch lösen sich die Symptome mit der Zeit auf.
Nicht umsonst wird der therapeutische Prozess oftmals als ein Nachreifungsprozess verstanden. Reifung und Wachstum sind jedoch Vorgänge, die man nicht durch Aktionismus erreichen kann, sondern dadurch, dass man günstige Rahmenbedingungen schafft: indem Sie aufhören, Ihre Empfindungen wie bisher unter Kontrolle zu halten oder durch Aktionismus zu überdecken. Jetzt geht es darum, zur Ruhe zu kommen und jede Anstrengung zu vermeiden. Trost und Halt finden Sie bei Menschen Ihres Vertrauens, bei Gleichgesinnten und erfahrenen Leidensgenossen. Mit der folgenden Übung können Sie aber auch in sich selbst Halt und Trost finden.
Meine Empfehlung:
Lehnen Sie sich einen Moment entspannt zurück, spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden und erinnern Sie sich daran, wann und wo in Ihrem Leben es einmal eine Situation gegeben hat, die Ihnen Halt und Trost gespendet hat. Wer hat Ihnen einmal gutgetan? Das muss kein besonderes Ereignis gewesen sein, es kann sich sogar nur um eine kleine Geste handeln, ein Lächeln, einen Zuspruch, kleine Dinge, die Sie einmal angenehm berührt haben.
Vollziehen Sie jetzt, in diesem Moment, nach, was für ein Gefühl das bei Ihnen ausgelöst hat. Wie hat sich Ihr Körper angefühlt? Was haben Sie gedacht? Und dann lassen Sie die Empfindungen bewusst auf sich wirken und im Körper ausbreiten. Ähnlich wie in der realen Situation können Sie den Zustand im Hier und Jetzt abrufen und bei sich verankern. Falls Ihnen gerade keine solche Situation einfällt, fantasieren Sie sich selbst eine ideale Situation und das zugehörige Körpergefühl. Für unser Gehirn macht das keinen Unterschied. Es kommt nur auf die Empfindungen und Reaktionen im Gehirn an, die dadurch ausgelöst werden. Dieses innere Bild kann zu einer wichtigen Ressource werden, die Sie immer nutzen können, wenn Ihnen danach ist.
Der bekannte Arzt und Psychotherapeut Irvin D. Yalom berichtet in einem seiner Filme, wie ein Arzt ihm als kleinem Jungen einmal seine Hand auf den Kopf gelegt und ihm tröstend die Haare „gewuschelt“ habe, als er bei dem Herzinfarkt seines Vaters völlig alleingelassen war und große Angst hatte. Dieses tröstende Erlebnis war so tiefgehend, dass es zu dem frühen Entschluss führte, Arzt zu werden.
Ich selbst erinnere mich wie heute an den verstehenden Blick und ein wissendes Nicken meiner damals bereits sehr alten Atemtherapeutin, Frau Goralewski in Berlin, die mich tief in meiner Seele berührte und mir, der damals verunsicherten Studentin, vermittelte: „Ich weiß, wer du wirklich bist! Ich verstehe dich.“ Dieser Blick in meine Seele war mit entscheidend dafür, die tiefe Bedeutung von Trost und Zuspruch für Menschen in Not zu verstehen. Öffnen Sie sich für Trost spendenden Zuspruch! Er tut Ihnen gut.