Читать книгу Depression und Burn-out überwinden - Dr. Sabine Gapp-Bauß - Страница 16
Sie müssen jetzt nichts können!
ОглавлениеZum Verständnis:
Erinnern wir uns noch einmal an die neurobiologischen Ursachen für die depressive Stimmungslage: Durch andauernden Alarm im limbischen System kommt die Produktion der Neurotransmitter dem Bedarf nicht mehr hinterher. Die so wichtigen Botenstoffe, die für eine stabile Motivation und Stimmung, für Frustrationstoleranz und Offenheit im sozialen Kontakt sorgen, fehlen. Auch die Nebennierenrinde ist in Mitleidenschaft gezogen. Der Körper wird überflutet mit Adrenalin, was ein ständiges Gefühl von Unruhe oder Blockiertheit erzeugt. Indem Sie aufhören, sich anzustrengen oder sich selbst Druck zu machen, tragen Sie dazu bei, dass Ihr System aus diesem Notstand herauskommt.
Vielleicht haben Sie – schon seit Jahren – die Empfehlung bekommen, gegen ihre depressiven Stimmungen anzukämpfen und sich auf keinen Fall in depressive Stimmungen hineinfallen zu lassen, sondern stets die Kontrolle über ihr Erwachsenen-Ich zu behalten. Häufig haben Sie als Betroffene genau das schon viel zu lange versucht. Stattdessen ist es gerade jetzt wichtig, nichts können zu müssen und nichts tun zu müssen. Das bedeutet nicht, den ganzen Tag nur noch auf dem Sofa zu liegen, sondern ganz bewusst ein Gefühl dafür zu bekommen, wann es gut ist, von sich selbst etwas zu fordern, und wann genau das Gegenteil besser ist.
Die oben erwähnten Ratschläge sind gerade im Familien- und Freundeskreis oft gängige „Rezepte“, um die eigene Angst (der Ratgebenden) vor solchen seelischen Befindlichkeiten abzuwehren. Meist sind sie gut gemeint, manchmal auch sinnvoll, oft aber eine Überforderung und vor allem jetzt: kein guter Ratschlag. Was können Sie selbst also zu Ihrer Entlastung beitragen?
Viele Betroffene erzählen mir, wie wohltuend es für sie ist, wenn sie die Erlaubnis bekommen, nichts tun zu müssen. Dazu gehört manchmal, einfach nur auf dem Boden zu sitzen und nur wahrzunehmen, dass es ganz still ist. Andere halten sich mit leichten Spaziergängen am liebsten in der Natur auf. Menschen im Arbeitsprozess können zum Beispiel darauf achten, dass sie keine Höchstleistungen von sich erwarten, sondern einfach nur das Notwendigste schrittweise abarbeiten. Die Seele sucht nach Ausgleich. Wenn Ihr System diesen Ausgleich bekommt, werden Sie ganz von selbst wieder aktiver, indem Sie Ihre Belastung steigern oder mehr Kontakt nach außen aufnehmen. Entscheidend ist, sich nicht einfach passiv „hängen zu lassen“, sondern sich ganz bewusst in eine entspannte, anstrengungslose Verfassung zu bringen oder etwas zu tun, was Ihrer Verfassung gemäß ist.
Vielen Betroffenen ist es peinlich, sich wegen einer seelischen Krise krankschreiben zu lassen. Sie kommen sich unnütz vor und haben das Gefühl, anderen nur noch zur Last zu fallen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schlimm sich jedes Eingeständnis anfühlt, gerade nicht einsatzfähig zu sein. Ja, das ist schwer auszuhalten, nichts mehr „bringen“ zu können, aber Ihr entschiedenes Ja zu all dem, was jetzt ist, wird Ihnen helfen zu heilen. Es gibt Gründe für Ihren derzeitigen Zustand, für den Sie nur bedingt etwas können. Fangen Sie an, sich selbst wertzuschätzen, mit all dem, was jetzt ist! So kommt Ihre Seele zur Ruhe und kann sich Schritt für Schritt erholen.
Nichts zu können oder nichts von sich zu verlangen ist kein Rückzug in die Resignation, im Gegenteil: Die Depression ist ähnlich wie ein Verpuppungsstadium im Tierreich. Im „Kokon“ eines geschützten Raumes spart Ihr gesamtes System wertvolle Energie, um innere Kräfte zu mobilisieren. Nach außen hin geschieht nichts Großartiges, denn Anzeichen der Genesung sind sehr subtil. Und doch ist genau dieser innere Ruhezustand so notwendig, um aufzutanken und Körper, Geist und Seele wieder in Einklang zu bringen. Wenn die Zeit reif ist, werden Sie aus diesem Zustand langsam auftauchen. Ich kann Ihnen versichern, Sie werden danach alles, was wirklich für Ihr Leben wichtig ist, ganz leicht aufholen. „Ja, im Moment geht noch nicht viel“ – genau dieses Eingeständnis der eigenen geringen Kraft ist etwas sehr Wertvolles.
Wenn Sie also merken, dass es Ihnen schwerfällt, Ihre Hausarbeit zu machen, dass jede Aktion sich anfühlt, als hätten Sie Blei in den Knochen, dann sagen Sie Ja dazu: „Ja, so ist es gerade!“ Sie werden feststellen, dass Sie sich dadurch schon etwas leichter fühlen. Der Druck ist weg und Sie können schauen, was gerade möglich ist. Tun Sie die Dinge Schritt für Schritt und so gut Sie können. Eine Kleinigkeit geht immer. Allein dadurch, dass Sie den Druck herausnehmen, werden Sie viel mehr schaffen, als Sie gedacht haben. Sie werden dadurch Ihr Alarmsystem zunehmend außer Gefecht setzen und Ihr emotionales Gehirn wird sich erholen.
Viele Betroffene beschreiben ihre Krankheitsphase als eine besondere Zeit, in der sie ihr Leben so intensiv erlebt haben wie noch nie zuvor. Sehr gut ist, wenn Sie von einem Experten ihres Vertrauens begleitet werden, der die „Zeichen der Zeit“ versteht und Sie in Ihrem Bemühen unterstützt.
Meine Empfehlung:
Die nachfolgende Übung hilft Ihnen, sich für einen Moment auf sich selbst zu besinnen und sich angenommen und beschützt zu fühlen. Falls Sie mögen, legen Sie sich eine gemütliche Decke um und lassen Sie sich an einem ruhigen Ort nieder. Sie können die Anleitung aber in jeder Haltung erst einmal lesen.
Die Kontaktübung
Legen Sie eine Hand auf den Brustkorb und die andere Hand auf den Bauch. Spüren Sie den angenehmen Kontakt Ihrer Hände auf Ihrem Körper. Vielleicht können Sie die feinen Atembewegungen wahrnehmen. Nehmen Sie den Kontakt von Gesäß und Rücken zu Ihrer Sitzgelegenheit, den Kontakt Ihrer Füße zum Boden, den Kontakt zu Ihrer Kleidung wahr und folgen Sie mit den Händen den natürlichen Atembewegungen Ihres Körpers. Wenn es geht, spüren Sie den Schutz, den Ihnen Ihre eigenen Hände vermitteln, und sagen Sie zu sich etwa Folgendes: „Ganz ruhig, alles gut, ganz geborgen, das wird wieder…“ Falls Ihnen Tränen kommen, lassen Sie sie zu. Tränen sind unser natürliches Stressventil. Sie sind Ausdruck von Gefühlen und Zeichen innerer Bewegtheit. Depression ist eher die Stagnation von Gefühlen. Die verträgliche „Dosis“ von Gefühlen werden Sie mit der Zeit selbst herausfinden.
Ich nenne diese Übung gerne die „Kontaktübung“, denn sie hilft, den in der Depression verlorenen Kontakt zu sich selbst wieder herzustellen, auch wenn das nur für kurze Zeit gelingen mag. Sie können diese Übung auch ganz dezent als kleine Geste überall einschieben, wo Sie sind. Sie wird Ihnen helfen, immer wieder zu sich zu kommen und sich von innerem Druck zu entlasten.
Foto Dr. Reinhard Bauß
„Kontaktübung“