Читать книгу Restless Legs - Dr. Uwe Kullnick - Страница 9
WENN DIE BEINE GEWITTER HABEN
Оглавление„Was für eine blödsinnige Überschrift“, höre ich den Nicht-Zappler oder Anfänger in Sachen ‘Ich leide an Restless Legs‘ sagen. Nein, es ist so, wie ich sage. Das Gefühl, wenn sich am Anfang der Krankheitskarriere erstmals langsam eine Art Energiewelle in den Beinen aufbaut, ist tatsächlich wie bei einem Gewitter. Es beginnt in einem Bein und ist wie ein neuronaler Tsunami der, noch entfernt, auf den Strand einer stillen Küste aufläuft. Doch ist das Geschehen dem sehr ähnlich, genau wie sich in der Atmosphäre ein Blitz aufbaut, und um dann, nachdem man sie bemerkt und versucht hat sie mit Willenskraft zu beherrschen und sie zu unterdrücken, dennoch mit unmenschlich sicherer, harter und gemeiner Gewalt zuschlagen. Das zuckt erbarmungslos, ebenso wie ein Blitz die Luft erschüttert. Auch der Donner fehlt nicht! Der Beinblitz, der neuronale Entladungssturm, beschießt das Bein, es zuckt wie ein unter Strom stehendes Glied und erzeugt einen inneren Donner, der so was wie „Schlaf“ oder „in Ruhe lesen“ oder „einer Fernsehsendung folgen“ mit Macht hinwegfegt und sofort die Angst vor der nächsten Welle am Horizont erscheinen lässt.
Wovon ich spreche? Vom „Syndrom der unwillkürlichen Beinbewegungen“. Es wird auch „Unruhige Beine Leiden“ genannt oder auch „Restless-Legs-Syndrom“ (kurz: RLS), wenn man es Englisch benennen will [1].
Doch vorher vielleicht noch etwas persönliches Gejammer über dieses scheiß Restless-Legs-Syndrom. Kennt ihr das auch: Ihr seid müde und kaputt und setzt euch hin? Vor dem Schlafen wollt ihr noch etwas lesen. Ihr sitzt gemütlich im Sessel, das Licht ist richtig, die Lesebrille auf der Nase, die Decke über die Beine und jetzt erst mal richtig durchatmen. Das Buch „Die Wende – Vom Mittelalter zur Renaissance“ liegt schon eine Weile auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel, aber jetzt wollt ihr noch ein paar Seiten lesen, bevor ihr Schlafen geht. Das Kapitel geht gut los, ihr seid mitten in der Zeit vor 500 Jahren und genießt die Erkenntnis, die vermittelte Geschichte einem verpassen kann. Alles ist wunderbar. Das Leben und die Kultur lassen grüßen.
Doch dann ist plötzlich irgendwas anders. Es ist so, als wäre irgendwo in eurem Körper ein winziger Motor angesprungen, der euch von einer Sekunde zur anderen beunruhigt. Ihr ruckelt euch zurecht, und während ihr euch bewegt, ist es verschwunden, und ihr taucht wieder in das Buch hinab.
Dann ist es wieder da, und ihr merkt, was es ist. Der innere Kondensator wird geladen. Mehr und mehr Ladung läuft auf seine Platten und die Spannung steigt. Ihr merkt: Euer Bein bekommt Spannung, und ihr bewegt es vorsorglich ein wenig und vertieft euch mit Macht ins Buch, doch die Aufmerksamkeit schwindet. Ihr beobachtet wie die Beine immer voller laufen. Immer mehr Bewegungsdrang entsteht in ihnen. Jetzt ist es gleich soweit. Verdammt, ihr habt doch die Tablette genommen. Das sollte nicht passieren. Aber der Pegel steigt, und dann – dann legt ihr resigniert das Buch beiseite, steht auf, legt die Decke in den Sessel und beginnt einfach, stumm und ohne Theater im Zimmer auf und ab zu gehen. Geht hin und her, bis euch im Gehen die Augen zufallen und ihr an die Wand gelehnt stehen bleibt. Aber die Beine treiben euch an, und so marschiert ihr weiter. Dann erwischt euch der Sekundenschlaf, so dass ihr an die Wand rennt, oder den Schrank streift oder auf irgendetwas tretet, das euch stolpern lässt. Dann ist es vielleicht so weit. Ihr geht mit fast geschlossenen Augen ins Schlafzimmer, alles ist vorbereitet, und ihr legt euch hin und schlaft tatsächlich ein. Der letzte Blick auf den Wecker zeigt: Es ist 23:44 Uhr
Auf 00:32 Uhr steht die Uhr, und eure zuckenden Beine treiben euch aus dem Bett, und ihr geht wieder wandern. Noch eine halbe Stunde und noch eine. 03:04 Uhr. Wieder ins Bett und kein Schlaf. 03:45 Uhr. Noch ein Versuch, und es klappt. 07:00 Uhr, der Wecker klingelt. Die Welt ist nicht in Ordnung, obwohl der Radiosprecher sich Mühe gibt, euch das einzureden; aber im Augenblick schweigen die Beine. Ja, jetzt, aber was nutzt es? Die Arbeit ruft.
Das ist Alltag beim Restless-Legs-Syndrom im fortgeschrittenen Stadium.
Fußnoten:
01. Die medizinischen Anmerkungen kommen immer mal zwischendurch im Text, aber zusammenfassend habe ich sie unter dem Punkt ETWAS HINTERGRUND dargestellt. Dort findet man auch allerhand Links und Hinweise.