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Joshua Tree

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Mein Vater. Ich weiß wirklich nicht, womit ich besser anfangen soll als damit, dass er einfach kein »Vater« war. Er war ein mystisches Geschöpf. Teils Einhorn, teils Orkan. Und obwohl er sich von meiner Mutter trennte, als sie schwanger war, konnte ich ihm irgendwie verzeihen. Es war, als hätte ich schon als Kind begriffen, dass dieses Pferd so wild war, dass man ihm keine Zügel anlegen konnte. Und selbst wenn er bei uns hätte bleiben können, bin ich mir nicht sicher, ob ich mir das hätte wünschen sollen. Er war die Sorte Mann, die man nur in geringen Dosen verträgt. Die Begegnungen mit ihm waren unvergesslich. Manchmal düster, manchmal lustig, manchmal zitierwürdig. Ein Beispiel: Als ich als Teenager einmal bei ihm zu Besuch war, sagte er, er bräuchte etwas zu essen. »Oh ja, hast du Hunger?«, fragte ich. Er schaute mich entrüstet an. »Hunger? Ich habe Hunger, seit ich auf der Welt bin!«

Das ergab schon irgendwie Sinn, denke ich. Ein andermal stattete er mir eine seiner Stippvisiten aus einem anderen Universum ab. Ich brauchte damals eine Zeitlang Security vor meinem Haus, und mein Vater kam die Einfahrt hochspaziert und fragte: »Wofür brauchst du Security? Du hast doch mich! Ich habe meinen Schlagstock und mein drittes Auge!« Ja, genau.

Niemand hätte je gedacht, dass aus meinem Vater der Mann werden würde, der er damals war. Er war der einzige Sohn meines Großvaters John Barrymore, und er war in jungen Jahren ein vielversprechender Schauspieler gewesen. Er war hinreißend gewesen, voller Energie, aber in einem Akt der Selbstsabotage hatte er seine Karriere hingeschmissen. Inzwischen sah er aus wie ein gebrechlicher, obdachloser alter Hippie. Eher wie jemand, den man lieber nicht zu sich nach Hause einladen würde. Ich habe nie mit meinem Vater zusammengewohnt. Es gab nicht ein einziges Abendessen, bei dem meine beiden Eltern anwesend waren. Und ich kenne auch die Geschichte nicht, wie sie zusammenkamen. Wahrscheinlich haben sie sich im Comedy Store oder im Troubadour kennengelernt. Sie verbrachten ein paar stürmische Jahre miteinander und trennten sich dann noch vor meiner Geburt.

Meine Mutter und mein Vater waren als Eltern beide völlig unfähig, und ich werfe ihnen das nicht vor. Mein Therapeut würde da nicht zustimmen, aber die Wahrheit ist, dass sie mir mit ihrem Verhalten eine großartige Vorlage dafür geliefert haben, wie ich mit meinen eigenen Kindern nicht umgehen will. Fürs Erste werde ich mit meinen Kindern viele hunderte Male gemeinsam zu Abend essen. Es wird eine feste Schlafenszeit geben, meine Kinder werden zusammen ins Bett und zur Schule gehen. Ihr Leben wird so stabil und beständig sein, dass sie sich darüber beschweren werden, aber wenn sie erst einmal erwachsen sind, werden sie verstehen, dass es so besser ist. Eine stabile, liebevolle Familie kann absolut und grundsätzlich niemals als selbstverständlich hingenommen werden. Ich bin froh, dass das Schicksal mir Karten zugespielt hat, die mir gezeigt haben, wie es ist, keine intakte Familie zu haben. Und noch viel froher bin ich, dass ich jetzt die Chance habe, mein eigenes Kartendeck zu gestalten. Ich werde kämpfen wie William »Braveheart« Nachname-vergessen, um meine Familie zu beschützen und zusammenzuhalten! Ich bin eine Kämpferin. Ich bin eine Soldatin. Ich bin eine Löwin, mit der man sich besser nicht anlegt. Ich bin eine Mutter!

Wenn ich an meinen Vater denke, denke ich ganz besonders an die Zeit, als er Krebs bekam und ich mich eine Zeitlang um ihn kümmerte. Ich war damals Ende zwanzig. Aus dem ersten Hospiz, das ich für ihn ausgesucht hatte, wurde er rausgeworfen – wegen ungebührlichem Benehmen (Gras und launisches Verhalten, eigentlich passt das nicht zusammen, aber was soll ich sagen). Ich war nicht im Geringsten überrascht, aber ich musste eine neue Einrichtung für ihn finden, denn mit seinem Multiplen Myelom musste er rund um die Uhr medizinisch betreut werden, mein eigenes Zuhause war also keine Option. Ich fand schließlich eine Einrichtung, die ihn aufnahm, die Zimmer hatten sogar Meerblick, und wir besorgten meinem Vater ein langes, dünnes Kissen für den Türschlitz, damit der Grasgeruch nicht hinaus auf den Flur drang. Die Leute dort waren Heilige im Umgang mit meinem Vater und seinen unzumutbaren Forderungen. Niemand in seiner Nähe durfte Parfüm tragen: »Mörder, allesamt!« Wenn jemand Waschmittel benutzt hatte – »Oh Mann, ihr bringt mich um!« –, ordnete er an, dass derjenige sich mit nichts anderem als Dr. Bronner’s Seife waschen sollte, vom Kopf bis zu den Zehen (»Damit kann man sich sogar die Zähne putzen!«, sagte er). Sich selbst begoss er mit frischem Zitronensaft und Olivenöl. Er war wie ein menschlicher Salat. Überall waren Zitronen. Mein Vater benahm sich wie Kleopatra auf dem Thron seines temporären Betts. Alles in seinem Leben war nur temporär. Solange ich ihn kannte, und ich kannte ihn eigentlich kaum, kam er immer irgendwoher und war irgendwohin unterwegs. Mein Vater hatte nie eine eigene Wohnung. Keine Adresse, an die man einen Brief hätte schicken können. Keine Telefonnummer, die man hätte wählen können, wenn einem danach war. Er trug nicht mal Schuhe! Sogar die Füße dieses verrückten Mannes mussten frei sein! In den 70ern und 80ern durchstreifte er den Topanga Canyon und tauchte zusammen mit David Carradine (aus der Fernsehserie Kung Fu) bei meiner Mutter auf, erzählte verrücktes Zeug, richtete normalerweise Chaos und Verwüstung bei ihr an und verschwand dann wieder. Er und meine Mutter lieferten sich immer Wortgefechte, bei denen es darum ging, wer witziger war und wer das letzte Wort hatte. Sie stritten sich wie zwei desolate Dichter, aber meine Mutter hatte mit meinem Vater ganz ernsthaft eine schreckliche Wahl getroffen. Er wollte von weitem verehrt werden, ohne dass man es wagen durfte, irgendetwas von ihm zu erwarten. Ich saß einfach immer nur da und zählte die Minuten, bis er wieder verschwand.

Dann tauchte er bei einem Weihnachtsessen im Haus von Freunden wieder auf, wo es ein bisschen traditioneller und lebendiger zuging als in unserem tristen Alleinerziehenden-Haushalt. Wir saßen gerade beim Essen, als aus dem Nebenzimmer der Klang von Chaos und Tumult ertönte. Dann kam mein Vater hereingestürmt und begann herumzuschimpfen, bis er schließlich von unseren Gastgebern wieder nach draußen begleitet werden musste. Dasselbe veranstaltete er in irgendeinem chinesischen Restaurant. Ich weiß nicht einmal, wie er uns dort gefunden hatte, aber er kam einfach in Hoppla-hier-bin-ich-Manier hereingeplatzt, und ein paar Leute versammelten sich um ihn und brachten ihn wieder nach draußen. Tja. Er war kein Vater, auf den ich jemals voller Stolz gezeigt hätte, um zu verkünden: »Das ist mein Dad!« Es war eher so, dass ich seinen Auftritten voller Ehrfurcht beiwohnte.

Viele Jahre später – ich hatte ihn seit sieben oder acht Jahren nicht gesehen – stand ich neben ihm, er war inzwischen etwa fünfzig Jahre alt, die Drogen und das Leben auf der Straße hatten seine großtuerische Art ein wenig gemildert, und er wirkte nicht mehr ansatzweise bedrohlich auf mich. Also änderte ich meinen Status von »verletztes Kind« zu »Mit dem kann ich es locker aufnehmen«, und so waren wir mehr auf Augenhöhe und konnten Freunde werden. Einmal erzählte ich ihm, dass ich wütend auf meine Mutter sei, und er sagte: »Ach, das musst du in die Tonne treten«, wie um mir zu sagen, dass ich allen Ärger vergessen sollte. »Äh, okay.« Er war einfach ein Typ, der nichts mit sich herumschleppen wollte. Im wörtlichen und im metaphorischen Sinne. Und wieder einmal dachte ich mir: Wir sehen uns, wenn wir uns eben sehen. Keine Schmerzen. Keine Anhänglichkeiten. Kein Drama.

Gelegentlich ergab sich eine brieftaubenartige Kommunikation zwischen uns, denn Handys gab es damals noch nicht, und dann trafen wir uns in Joshua Tree. Ich übernachtete immer in der seltsamen Absteige, die er für das Wochenende organisiert hatte, brachte meine Hunde mit, und wir setzten uns in ein Golfmobil (auch hier wieder, woher um alles in der Welt hatte er ein Golfmobil?) und kurvten im Joshua-Tree-Nationalpark herum. Nur wir beide mit Flossy und Templeton, meinen völlig entspannten Hunden, die ich überallhin mitnehmen konnte. Ich mochte diese Treffen sehr. Sie waren einfach. Und seltsam. Und zeitlich begrenzt. Und sie versorgten mich normalerweise mit einer Menge Bemerkungen, über die ich auf dem Heimweg noch lachen konnte.

Mein Vater sprach über Buddha, er zitierte Walt Whitman, aber am besten gefiel es mir, wenn er Anekdoten über unsere Familie zum Besten gab, die Barrymores.

Er ließ das alles so real erscheinen. Alle Barrymores waren vor meiner Geburt schon verstorben, ich war also nicht innerhalb einer Art Dynastie groß geworden. Aber ich konnte verstehen, warum manche Leute das dachten. Mein Großvater war der berühmte Schauspieler John Barrymore gewesen. Er und meine Großtante Ethel und mein Großonkel Lionel wurden als die königliche Familie der Schauspielerei bezeichnet. Ich habe sie nie kennengelernt, aber ich wünschte es mir mehr als alles andere auf der Welt. Ich dachte ständig an meinen Großvater. Viele meiner Freunde kannten ihre Großeltern so gut, und ich wünschte, mir wäre derselbe Luxus vergönnt. Mein Großvater John faszinierte mich ganz besonders. Wenn mein Vater über seinen eigenen Vater sprach, hörte ich zu, als würde ich in eine Märchenwelt eingelassen, in der Gefahren drohen, aber auch fantastische, magische Dinge geschehen können. Er erzählte mir die Legende, wie die Leiche meines Großvaters aus der Leichenhalle gestohlen wurde – von seinen Freunden, darunter W. C. Fields, Errol Flynn, ein verrückter Dichter namens Sadakichi Hartmann, ein Maler namens John Decker und der Schriftsteller Gene Fowler (der später ein berühmtes Buch mit dem Titel Good Night, Sweet Prince über meinen Großvater schrieb).

Der Legende zufolge stahlen sie also seine Leiche und gaben eine letzte Party für ihn. Sie setzten John mit Sonnenbrille auf der Nase und Cocktailglas in der Hand an einen Pokertisch, luden Leute ein und veranstalteten eine letzte irrsinnige Sause. Eins muss man ihnen lassen: Sie taten dem Tod nicht auch noch den Gefallen, sich von seiner Traurigkeit deprimieren zu lassen. Sie hatten einen ganz anderen Ansatz, den ich zwar nicht unbedingt weiterempfehlen würde, aber das war eben die Linie der genialen Verrückten, von der ich abstamme. Sie waren talentiert und hatten einen Schaden, und ich kann nicht anders, als sie zu idealisieren, denn ich habe nur sie. Und so wie die Freunde meines Großvaters will auch ich um Verluste nicht trauern.

Als die Kräfte meines Vaters langsam schwanden und seine Tage gezählt waren, verbrachte ich noch mehr Zeit im Hospiz. Tagsüber lief ich manchmal herum, um mir die Beine zu vertreten, und beobachtete die anderen Patienten. Es gab da ein altes Paar, das ich jedes Mal anstarrte, wenn ich dort war. Die Frau, ganz offensichtlich die Patientin, saß immer in einem Ruhesessel im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss, wo die Besucher sich versammeln konnten. Ihr Mann saß bei ihr, und manchmal nahm er einfach ihr Gesicht in seine Hände und schaute sie an, und so saßen sie einander lange Zeit gegenüber, von Antlitz zu Antlitz. Er verteilte klebrige Küss­chen auf ihrem ganzen Gesicht, und sie nahm seine Zuneigung hin, saß einfach da, ohne große Kraft, sich noch zu bewegen. Ich weiß nicht, ob er etwas wiedergutmachen oder nachholen wollte oder ob das eine Gewohnheit zwischen ihnen war, aber all ihre gemeinsamen Jahre hatten zu mehr Liebe geführt. Mehr Zuneigung. Mehr Wertschätzung. Eine Einheit, die ich nur bewundern konnte. Mein Vater hatte oben in seinem Zimmer sein Gras und seine Zitronen, aber er war allein. Vielleicht wollte er es so. Sicherlich verprellte er jeden, der sich ihm näherte. Aber ich wäre dereinst lieber wie dieses Paar gewesen, das stundenlang beieinandersaß. Ich ging wieder nach oben.

Später an diesem Nachmittag saß ich auf dem Stuhl neben dem Bett meines Vaters, ich hatte ein Kleid an und war barfuß, und mein Vater lag ganz ruhig da, was völlig neu war. Er dachte nach. Ich weiß nicht, wann er sich sonst Zeit dafür genommen hatte, er war ja immerzu damit beschäftigt, irgendwelche Forderungen zu stellen. Vielleicht hatte er in Joshua Tree viel nachgedacht. Vielleicht mitten in der Nacht. Vielleicht in all den Jahren im Topanga Canyon? Jetzt, in diesem Moment, war er ganz sanft. Ich wusste nicht, wohin er schaute, und war mir nicht sicher, was ich in der Stille tun sollte. Aber ich saß da und wartete geduldig darauf, welche wilde Äußerung wohl als nächstes aus seinem Mund kommen würde. »Du bist perfekt, so wie du bist«, sagte er. Er blickte auf meine Füße. Dann schaute er auf, in mein Gesicht, schaute mir tief in die Augen. »Du bist perfekt, so wie du bist.«

Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Also speicherte ich den Moment einfach in mir ab. Und schwor mir, ihn immer in Erinnerung zu behalten. Denn das war seine Art, mein Gesicht in seine Hände zu nehmen und mir zu sagen, dass er mich liebte.

Ein paar Monate später starb er. Als ich seine Sachen abholte, waren da nur Seifenspender von Dr. Bronner’s, Zitronenschalen und seine alten, fadenscheinigen Bandanas. Ich behielt ein lilafarbenes und warf den restlichen Hippie-Müll weg. Wir planten eine Zeremonie, bei der wir seine Asche über Joshua Tree fliegen lassen wollten, seinem Zuhause in all der Rastlosigkeit.

Ich fuhr spätabends dorthin, ich hatte ein Zimmer mitten in der Wüste reserviert, aber wie es schien, hatte das Hotel vergessen, einen Schlüssel für mich zu hinterlegen, also schlief ich im Auto. Als die Sonne aufging und es nicht mehr so furchtbar dunkel war, suchte ich nach dem Schlüssel, und ich fand ihn, er klebte zusammen mit einer Nachricht an einer sehr versteckten Stelle. Um die zu finden, hätte ich am Vorabend meine Taschenlampe und mein drittes Auge gebraucht, wie mein Vater gesagt hätte. Ich bezog mein kleines Zimmer und legte mich hin. Und gerade als ich einschlief, öffnete sich wie von Zauberhand die Tür. Ein Sonnenstrahl schien herein. »Dad?« Ich sagte das laut, denn ich spürte, wie ein Energiefeld das Zimmer durchströmte. Ich setzte mich für eine Weile in meinem Bett auf, ganz still, bis ich das Gefühl hatte, dass ich aufstehen und die Tür respektvoll wieder schließen konnte. Ich legte mich noch einmal hin. War er das gewesen? Schon möglich. Warum nicht? Es gibt keine Regeln.

Wildflower

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