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Paradiesvögel

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1975 war West Hollywood – jedenfalls die Gegend, in der ich aufwuchs – ein sehr buntes Fleckchen Erde. Es hatte den Charme von alten Autos, erinnerte auch ein wenig an Havanna, und die Häuser und Apartmentgebäude waren alle völlig unterschiedlich gebaut. Da war der Santa Monica Boulevard mit seinen Zuhältern und den alten Kinos. Und da waren die Dragqueens, die für uns Kinder einfach dazu gehörten: »Mom, ist das ein Mann oder eine Frau?«, und dann konnten unsere Mütter wahrscheinlich immer spontan entscheiden, was sie antworten sollten. Aber dass die Welt hier so bunt war, machte die Gegend auch interessant.

Meine Mutter, die damals noch Ildiko Jaid hieß, zog mich alleine groß. Sie war angehende Schauspielerin, übernahm hier und da kleine Nebenrollen und hatte zwei Jobs in berühmt-berüchtigten Clubs, im Comedy Store und im Troubadour. Sie kannte viele wilde Musiker und Künstler, die gesamte Szene war damals sehr hedonistisch. Sie war auch mit vielen schwulen Männern befreundet, sie gehörten für mich ebenfalls einfach dazu, und ich mochte ihren Stil und Witz. Wir wohnten in Poinsettia Place in einem Doppelhaus, dessen Vorderfront eine riesige Wand aus tiefroten Bougainvillea zierte, sie war etwa sieben Meter hoch, was auf mich als Kind wie ein Wolkenkratzer wirkte, und unser Haus stach in der Straße wirklich hervor. Diese dramatischen, freundlichen Blüten machten mich glücklich. Ich war verliebt in ihre Farbe, und sie zeigten mir, dass es auch in einer schäbigen Gegend Schönheit geben konnte. Dass sie sogar strahlen konnte und leuchten!

Wir wohnten in der einen Doppelhaushälfte, und in der anderen Hälfte wohnten Joanie Goodfellow und ihr Sohn Daniel Faircloth. Erst Jahre später fiel mir auf, wie unterschiedlich ihre Nachnamen waren. Damals war Joanie einfach eine weitere alleinerziehende Mutter, so wie meine, ihr Mann war abgehauen und hatte sie mit dem Kind sitzengelassen. Ich erinnere mich nicht mehr, wie der Vater hieß, nur dass er aus Delaware oder Denver kam (beides Orte, die ich nicht kannte, so wie ich von Geografie generell keinen Schimmer hatte). Jedes Mal, wenn sie von ihm sprach, stellte ich ihn mir aus irgendeinem Grund im Westernshirt und mit Cowboystiefeln vor. Männer machten sich aus dem Staub und Mütter gingen arbeiten – das war die Botschaft, die mir das Leben in diesem Haus vermittelte.

Ich habe noch immer keine Ahnung, womit Joanie sich eigentlich beschäftigte. Sie war exzentrisch. Sie hatte mal himmelblaue, mal neongrüne Haare und lief immer wie eine Exhibitionistin im Haus herum, sehr leicht bekleidet, mit ihren beiden Kakadus, jeweils einen auf jeder Schulter. Anfangs wunderte ich mich darüber noch, aber mit der Zeit hätte es mich eher verstört, sie anders zu sehen. Seltsam, woran man sich so alles gewöhnt.

Ihr Sohn Daniel wurde mein bester Freund, auch wenn ich damals noch gar nicht wusste, was das war. Aber wir verkauften immer Äpfel auf der Straße und prügelten uns miteinander. Eine typische West-Hollywood-Freundschaft, würde ich sagen. Wenn es Zeit für ihn war, ins Bett zu gehen, wiederholte sich jeden Abend dasselbe Schauspiel. Joanie verkündete: »Okay, Zeit fürs Bett«, und Daniel kletterte sofort die Gardinen in ihrem Wohnzimmer hoch, als würde er sich in der Turnhalle am Seil hochziehen. Dann brüllte er: »Ich will nicht ins Bett!« Und wenn er fast ganz oben war, pflückte Joanie ihn einfach herunter und warf ihn in sein Schlafzimmer am Ende des Flurs. Unsere Doppelhaushälften hatten jeweils zwei Schlafzimmer. Mir kam das geräumig vor. Ich war stolz darauf, dass unsere Mütter uns Kindern eine so großzügige Wohnsituation bieten konnten. Jeder hatte sein eigenes Zimmer – da gab es nichts zu meckern.

Wir hatten auch einen winzig kleinen Hinterhof mit einer billigen Schaukel und einem Avocadobaum. Ich aß täglich etwa zehn Avocados von diesem Baum, und das ist nicht übertrieben. Ich liebte diesen Baum. Er schenkte mir Nahrung und war neben der Bougainvillea meine einzige Verbindung zur Natur. Dem Baum und der Pflanze war es egal, dass wir inmitten von Kriminalität und Pornokinos lebten, und mir auch. Wir lebten alle glücklich und zufrieden in unserer Fantasiewelt. Tatsächlich bedeuten mir Avocadobäume noch immer sehr viel. Es steht sogar in meinem Testament, dass ich unter einem beerdigt werden möchte oder dass meine Asche darunter verstreut werden soll. Unter irgendeinem Avocadobaum, irgendwo auf einem Hügel, fernab von allem, weit oben inmitten von sanften Bergen, am liebsten mit Meerblick. Von so was träume ich!

Noch aber bestand Natur für mich aus dem, was in Poinsettia Place so grünte und blühte, und am meisten irritierte mich diese seltsame Pflanze, die seitlich von unserem Haus wuchs. Es gab dort eine schmale Einfahrt, die von der Straße bis hinter das Haus führte und völlig zubetoniert war. Dort parkte meine Mutter immer ihren zerbeulten, bockigen alten VW Karmann-Ghia. Aber entlang dieser Einfahrt, an der Hausseite, wuchsen Paradiesvogelblumen. Sie haben lange, blassgrüne Stängel und leuchtend orangefarbene, spitz zulaufende Blütenblätter mit blauen Akzenten. Man kann sich die Farben so ähnlich wie die einer Gasflamme vorstellen – dieses Blau, dieses Orange. Die Blütenblätter sind lang und spitz und sehen aus, als gehörten sie nach Palm Springs oder auf die Galapagosinseln. Aber nicht nach West Hollywood. Ich starrte diese Gewächse an und fragte mich, ob sie Pflanzen oder Blumen waren. Sie sahen aus wie wütende Flamingos. Sie jagten mir Angst ein. Ich suchte immer nach ihren Augen und fürchtete, sie könnten zum Leben erwachen und mich beißen. Ich hielt mich von ihnen fern, aber dann schlich ich mich mit einer kranken Faszination doch immer mal wieder an sie heran. Das Leben warf für mich als Kind viele Fragen auf, was dieses und was jenes war, und dieses Gewächs verkörperte gewissermaßen das gesamte Viertel: Es konnte nicht definiert werden.

Als ich etwa vier oder fünf Jahre alt war, zogen Joanie und Daniel aus. Ich war traurig. Aber dann zog ein wirklich nettes Pärchen mit einem Dalmatiner namens McBarker ein. Gina und Joel waren ein attraktives, großartiges Paar, und sie waren mir sofort sympathisch. Besonders Joel, denn ich sehnte mich nach allem, was eindeutig war – zum Beispiel nach einem Mann, bei dem keine Fragen offen blieben. Bei Joel gab es kein: »Bist du schwul oder hetero, ein Mann oder eine Frau?« Ich liebte die beiden. Gina war eine schöne Latina, die kleine Filmrollen übernahm und sich für Budweiser-Kalender ablichten ließ, Joel war auch Schauspieler. Wir feierten zusammen Weihnachten in ihrer Hälfte des Doppelhauses, Joel zog Hosen mit Weihnachtsmuster an, wir packten alle unsere Geschenke aus, und ich erlebte einen ganz normalen Weihnachtstag und genoss jede Sekunde von diesem traditionellen Moment in unserem Leben. Joel schenkte mir einen Teddy. Ich nannte ihn Bailey Bear – Bailey war Joels Nachname – und liebte ihn über alles in der Welt. Die beiden waren ein tolles Paar. Als sie heirateten, besuchten wir ihre Hochzeit, und selbst wenn sie einen ihrer seltenen Streits hatten, die auch auf unserer Seite der dünnen Doppelhauswand zu hören waren, war es tröstlich für mich, dass da eine Männerstimme war. Die beiden gaben mir ein Gefühl der Geborgenheit. Sie waren gute Menschen, und sie führten ein geradliniges Leben in einer Stadt voller Rätsel.

Es waren glückliche Jahre, die stabilsten Jahre meines Lebens. Seit ich denken konnte, lebten wir in diesem Haus. Aber als ich sieben wurde, nachdem E.T. Premiere gefeiert hatte und ich viele Filmangebote bekam, änderte sich mein Leben und das meiner Mutter. Ich werde nie vergessen, wie wir eines Abends auf meine Mutter warteten, wir wollten zusammen essen gehen, und sie fuhr in einem brandneuen BMW 320i vor. Ich verstand das nicht. Wo war der zerbeulte Karmann-Ghia? Was war hier los? Veränderungen waren mir unheimlich. Wir gingen dann alle zusammen essen, aber es fühlte sich an, als wäre ich auf einem schlechten Trip. Es gefiel mir alles gar nicht. Ein paar Wochen später sah ich beim Heimkommen schon von Weitem, dass jemand die Bougainvillea zurückgeschnitten hatte. Ich bekam einen riesigen Schreck und begann zu weinen. Diese Pflanze hatte unser Haus eingehüllt. Sie war Schönheit. Sie war Natur. Sie war der Grund, weshalb ich sagen konnte, wir haben eigentlich kein Geld, aber man braucht kein Geld, um etwas zu bewundern! Der riesige Wasserfall aus burgunderroten Blüten war einfach verschwunden. Panisch rannte ich nach hinten zum Avocadobaum. Der Baum war noch da, aber er war völlig kahlrasiert. An diesem Tag lernte ich das Wort »gestutzt«. Mir wurde ganz schwer ums Herz – da waren nur noch der Stamm und die Zweige. Man sagte mir, dass alles wieder nachwachsen würde und dass es nötig gewesen sei, damit der Baum gesund blieb. Aber mich machte das krank. Wir hatten hier sieben Jahre lang gelebt und niemand hatte irgendetwas gestutzt oder beschnitten, und alles war in Ordnung gewesen! Gab es einen neuen Gärtner? Und das Auto? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Es fühlte sich an, als würde alles um mich herum einstürzen.

Und dann fielen mir die Paradiesvogelblumen ein. In was für einem Zustand sie wohl waren? Ich ging langsam hinüber zu der Einfahrt, wo Joel mittlerweile seinen alten Mustang parkte. Waren diese irren Paradiesvogelblumen heil davongekommen oder waren sie derselben Behandlung unterzogen worden? Ich schlich um die Ecke, setzte einen Fuß vor den anderen, wartete auf die Offenbarung … und dann sah ich sie. Grüne Stängel ohne Köpfe. Sie waren demjenigen nicht entgangen, der hierhergekommen und alles zurückgeschnitten hatte. Sie wirkten nicht mehr beängstigend. Sie waren guillotiniert worden, und da standen sie und warteten auf ihre Wiedergeburt. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, wie mir etwas das Herz brach. Das hatten sie nicht verdient. Ja, sie waren anders gewesen. Nein, ich hatte sie nie ganz verstanden. Aber jetzt wollte ich sie nur trösten und ihnen sagen, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Und dann wurde mir klar, dass ich gar nicht wusste, ob alles wieder in Ordnung kommen würde. Ich verstand überhaupt nichts mehr.

Später kam meine Mutter heim, sie hatte ihren Job gekündigt und sagte mir, sie wolle sich nun in Vollzeit dem Management meiner Karriere widmen. Und dann ließ sie die Bombe platzen: »Wir ziehen ins Valley! Ich habe ein Haus gekauft, und wir werden ein richtiges Zuhause haben!« Als wäre das ein Argument. Ich war angewidert. Toll. Jetzt musste ich also das Geld nach Hause bringen. Verließen wir also Joel und Gina und McBarker und zogen nach San Fernando Valley, was auf einem völlig anderen Planeten zu liegen schien. Wie betäubt packte ich meine Sachen, und wir zogen in unser neues Zuhause in Sherman Oaks. Das war 1983. Deswegen rede ich übrigens immer noch wie ein Valley Girl. Dieser Tonfall hat sich in mein Leben geschlichen, als ich acht war – ein Alter, in dem man alles aufsaugt wie ein Schwamm. Selbst heute noch, wenn ich zum Beispiel mit wichtigen Geschäftsleuten rede, höre ich mir manchmal dabei zu und denke, das ist totally Sherman Oaks!

Die einzig gute Nachricht war, dass unser neues Haus einen Pool hatte. Aber ich vermisste Poinsettia Place. Ich habe nie wieder von dem Team Goodfellow-Faircloth gehört, aber ich hoffe, es geht ihnen gut. Jahre später, als ich mich um meinen krebskranken Vater kümmerte, fragte ich mich, ob Daniel wohl auch wieder Kontakt zu seinem Vater aufgenommen hatte. Ich fragte mich, ob Joanie sich immer noch die Haare färbte. Ich fragte mich, wie es Joel und Gina ging. Ich habe gehört, dass sie Kinder bekommen haben und wahrscheinlich auch ins Valley gezogen sind. Ich denke an den Avoca­dobaum.

Als Erwachsene war ich fest entschlossen, in meine alte Heimat zurückzukehren, und zog wieder nach West Hollywood. Ich konnte jetzt selbst über mein Schicksal entscheiden und kaufte ein Haus in unserer alten Nachbarschaft. Ich wollte zurück in meine gewohnte Umgebung.

Es ist ein bisschen sauberer geworden, die Stadt hat die Gegend aufpoliert. Ich gehe mit meinen Kindern in denselben Park, in den ich als Kind schon gegangen bin, und gerade heute habe ich meiner Tochter einen Lolli in dem alten Mini-Markt gekauft, in dem Daniel und ich damals das Kleingeld aus unserem Apfelverkauf in Süßigkeiten investiert haben.

Zurzeit arbeite ich mit einem Landschaftsarchitekten namens Marcello zusammen. Marcello und ich führen lange Gespräche über Pflanzen und – wichtiger noch – über das Beschneiden. Er weiß, dass wir ohne vorherige Diskussionen nicht ein einziges Blatt kappen können. Er merkt es, wenn ich kurz vorm Ausflippen bin, aber ich bin extrem respektvoll. Er ist der Experte, also erklärt er mir, warum er jedes Jahr die Blätter zurückschneiden muss. Er erklärt mir, dass die Pflanzen einen Pilz bekommen, der sie tötet, wenn wir sie nicht jährlich beschneiden. Er hilft mir zu begreifen, dass ich die Wahl habe zwischen Tod und Beschneiden.

Er geht sehr sensibel mit mir um, und ich versuche, mit ihm zu scherzen. Ich sage ihm im Spaß, dass ich ihm seine Arme und Beine abschneiden und ihn dann damit jagen werde. Er lacht. Und doch denkt ein kleiner Teil von ihm, dass ich ein bisschen verrückt bin. Vielleicht ein Prozent von ihm denkt, dass ich keine Witze mache. Vielleicht ist das gut. Es gibt auch Tage, da sieht er, dass ich einen bestimmten Blick in den Augen habe, und dann fahren wir los und kaufen Wagenladungen voller Bougainvillea und pflanzen sie alle an. Ich pflanze rund um mein Haus so viel Bougainvillea wie möglich, und ich finde immer neue Ecken, an denen ich noch welche anpflanzen kann. Marcello und ich sind schon zwei großartige Gärtner.

Mein Großvater John Barrymore verbrachte viel Zeit mit W. C. Fields, und W. C. war offenbar besessen von seinem Rosengarten. Hinter seinem Schreibtisch hatte er eine große Kreidetafel, und darauf stand eines Tages in großen Lettern geschrieben: »Blüht, ihr Bastarde! Blüht!« Ein Mann ganz nach meinem Geschmack. Ich liebe Blumen. Ich beschütze Blumen. Wenn ich Werbung für ein Spray sehe, das Löwenzahn vernichtet, denke ich: »Warum?« So was tut mir weh. Bei der Verteidigung von Blumen stehe ich an vorderster Front.

Und ich frage mich bis zum heutigen Tag, ob den Paradiesvogelblumen wohl jemals neue Köpfe gewachsen sind. Ich werde sie immer blühend in Erinnerung behalten. Sie waren wild, wie wir alle in diesem Viertel. Lasst uns alle so sein, lasst uns gegen die Traditionen verstoßen und gleichzeitig unsere eigenen Traditionen erschaffen. Lasst uns alle Wildblumen sein!

Wildflower

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