Читать книгу Wie man aus Trümmern ein Schloss baut - Dörte Maack - Страница 10
Die Party ist zu Ende
ОглавлениеDer Augenarzt meiner Wahl hatte seine Praxis am Schulterblatt im Schanzenviertel. Ich hatte ihn aus den Gelben Seiten ausgesucht, weil dort stand, dass er auch eine »Sehschule« hat. Das klang für mich irgendwie alternativ und öko. Bei strahlendem Sonnenschein fuhr ich auf meinem roten Fahrrad durch die Schanzenstraße zu seiner Praxis. Auf dem Weg hatte ich keine Energie für Sorgen, denn der Radweg erforderte meine ganze Aufmerksamkeit. In den letzten Monaten waren meine Augen so blendungsempfindlich geworden, dass ich trotz Sonnenbrille fast nichts sah, wenn mir die Sonne direkt ins Gesicht schien. Sobald ich in den Schlagschatten eines Hauses oder Baumes kam, musste ich meine Sonnenbrille sofort hochschieben, um noch etwas zu sehen. Wenn ich aus einem Hausflur ins Freie ging oder umgekehrt aus der Sonne kam und ein Gebäude betrat, musste ich manchmal minutenlang warten, bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Trotz dieser extremen Situationen von plötzlichem Nichtssehen fühlte ich mich nicht sehbehindert. Im Grunde sah ich ja fast normal. Ich brauchte eben nur das richtige Licht und einen direkten Blick auf das, was es zu sehen gab. Dann war alles in Ordnung.
Der Augenarzt am Schulterblatt stellte die gleiche Sehschärfe wie Johannsen junior fest: etwa dreißig Prozent. Ich war zum ersten Mal in dieser Praxis und er hatte daher keine Patientenakte mit früheren Untersuchungen meiner Augen zum Vergleich. Eine Erklärung für meine geringe Sehschärfe hatte er nicht. Der Blick auf meine Netzhaut zeigte ihm aber offenbar ein sonderbares Bild, das er nicht deuten konnte. Dann schien er doch noch eine Idee zu haben und fragte: »Haben Sie vor Kurzem eine Sonnenfinsternis beobachtet?«
»Nein, das habe ich noch nie«, antwortete ich verwirrt.
Er entließ mich ohne weiteren Befund, aber auch ohne mich weiter zu beunruhigen. Irgendetwas war gerade nicht so gut mit meinen Augen, würde aber sicher bald wieder besser werden. Es fühlte sich an wie irgendetwas Unspezifisches, wie eine hartnäckige Erkältung oder lästige Verdauungsprobleme in stressigen Zeiten. Was soll schon sein, wenn die Fachleute auch nichts finden konnten?
Ich hatte außerdem noch Wichtigeres zu regeln. Felix hatte plötzlich mit seinem Examen begonnen. Von jetzt auf gleich saß er nur noch am Schreibtisch, dachte, sprach und tat nichts anderes mehr, als was mit Mathe und Physik zu tun hatte. Wir machten keine gemeinsamen Auftritte mehr und überhaupt schien es in seinem Leben keinen Platz mehr für unsere Liebe zu geben. Ich rebellierte und er trennte sich von mir. »Drama ist im Examen gar nicht gut«, fand er. Wir konnten nicht mehr miteinander, aber ohneeinander konnten wir schon gar nicht. Irgendwie waren wir also nicht mehr zusammen und machten trotzdem einfach weiter wie bisher. »Okay, wird schon wieder«, war ich sicher. Ich steckte all meine Energie in die Vorbereitungen für die Party zu meinem 25. Geburtstag. Ich kannte so viele großartige Leute: Jongleure, Akrobaten, Kleinkünstler und ein paar autonome Aktivisten aus meiner früheren WG am Pferdemarkt. Ich hatte sie alle eingeladen. Im Haus hatte ich den Nachbarn Bescheid gegeben, um Nachsicht wegen der lauten Musik gebeten und sie vorbeugend mit Pralinen besänftigt. All meine Freundinnen und Freunde kamen in Scharen in unsere Altbauwohnung im vierten Stock und brachten mir tolle Geschenke mit. Einige der Akrobaten hatten zusammengelegt und für mich einen großen Lenkdrachen in quietschbunten Farben ausgesucht. Diesen Flugdrachen habe ich immer noch, aber geflogen ist das Ding noch nie.
»Schau mal, was ich für dich gestern gepflückt habe«, forderte mich mein ehemaliger Mitbewohner aus der Schanze verschmitzt auf und legte mir ein kleines Päckchen in zerknittertem Geschenkpapier in die Hand. Oh nein, Hartmut schenkte mir einen Mercedes-Stern. Würde er irgendwann noch erwachsen werden? Egal, Leben war jetzt und erwachsen werden konnten wir später. Um Mitternacht sangen alle für mich, küssten und umarmten mich. Wir tranken und tanzten alle zusammen wild auf meinen 25. Geburtstag. Ich war so glücklich!
Nachts um 3 Uhr rief jemand: »Dörte, komm mal an die Wohnungstür. Da sind die Bullen.« Ups, vor mir standen drei junge Polizisten in Uniform. »Hi, wollt ihr mir gratulieren? Ich bin gerade 25 geworden«, begrüßte ich sie lachend. Nein, eigentlich waren sie gekommen, weil es zu viel ausgelassener Tanz für das ältere Ehepaar in der Wohnung unter uns wurde. »Na dann, herzlichen Glückwunsch, alles Gute für dich und feiere nicht mehr so lange«, gratulierten sie mir. Ich versprach ihnen, dass die Party gleich aus sein würde. Dass es für mich schon bald nichts mehr zu feiern geben würde, ahnte ich in dieser Nacht noch nicht.
Ende November hatte ich einen Termin bei Dr. Gröger in Pinneberg. Meinen Augen ging es überhaupt nicht besser. Dr. Gröger war schon in meiner Kindheit mein Arzt gewesen und würde daher anhand seiner Akten einen genauen Überblick über die Entwicklung meiner Sehschärfe haben. Ich war mittlerweile so beunruhigt, dass ich meine Mutter bat, mich zu dem Termin zu begleiten. Ich kam mit der S-Bahn und meine Mutter mit dem Fahrrad nach Pinneberg. Wir trafen uns vor der Praxis. Gemeinsam setzten wir uns ins Wartezimmer. Wie schon vor zwanzig Jahren war das Wartezimmer sehr voll. Viele, meist ältere Menschen besetzten die alten, mit bunten Kunststoffpolstern bezogenen Stühle. Wie früher schon gab es nichts zu lesen als die Mappen vom Lesezirkel mit Illustrierten für Menschen, die dreimal so alt waren wie ich. Das war mir aber egal, denn Lesen fand ich jetzt fast bei jedem Licht zu mühsam. Ich fühlte mich wie damals, als ich als Zweitklässlerin mit meiner Mutter zum ersten Mal in diesem Wartezimmer saß und keine Ahnung hatte, was auf mich zukommen würde.
Nach langer Wartezeit wurde endlich mein Name aufgerufen. Dr. Gröger war immer noch der besonnene, gutmütige Arzt, den ich in Erinnerung hatte. »Du warst ja ganz lange nicht hier. Wie geht es dir? Nein, ich muss wohl jetzt fragen: Wie geht es Ihnen?«
Ich erzählte ihm voller Vertrauen von all meinen rätselhaften Symptomen. Bei ihm war ich in guten Händen. Der Sehtest bestätigte abermals meine geringe Sehschärfe. Weiter als zur vierten Buchstabenzeile kam ich nicht. Dr. Gröger tropfte mir die Pupillen weit, leuchtete mit einer kleinen Lampe in meine Augen und nahm sich viel Zeit, meinen Augenhintergrund von allen Seiten zu betrachten. Er war sehr konzentriert und sprach kaum. Irgendwann erhob er sich von seinem Drehhocker, verließ den Raum und redete vor der Tür kurz mit einer seiner Arzthelferinnen. »Wir können jetzt gleich einen Gesichtsfeldtest machen«, teilte er mir mit, als er wieder ins Zimmer kam.
Wie schon vor mehr als acht Jahren musste ich also einen Perimetertest machen. Das Gerät war neu. Um die gesehenen Punkte anzuzeigen, gab es jetzt einen Schalter. Ich musste nicht mehr mit einem Kugelschreiber auf den Tisch klopfen. Die Perimetristin musste die Ergebnisse auch nicht mehr per Hand eintragen. Das Ergebnis würde das Gerät automatisch als Ausdruck bereitstellen. Anders als beim ersten Mal war diese Perimetristin sehr entspannt und fast so gutmütig wie mein alter Augenarzt. Der Test selbst aber war für mich eine Katastrophe. Ich strengte mich an, konzentrierte mich, so stark ich nur konnte, versuchte mit der ganzen Kraft meines Willens meinen Blick nur auf den Mittelpunkt der Halbkugel zu fixieren. War der Test schon gestartet? Wo blieben die Punkte aus der Peripherie? Endlich sah ich einen und drückte den Schalter, dann lange wieder keinen. Erbarmungslos ging der Test über endlose Minuten weiter. Sosehr ich es auch wollte, ich sah die verdammten Punkte nicht. Ich scheiterte in diesem blöden Perimetertest und trotzdem schimpfte die Arzthelferin kein bisschen mit mir. Ich machte mir Sorgen.
Schließlich saßen meine Mutter und ich wieder im Sprechzimmer. Dr. Gröger saß hinter seinem großen Schreibtisch, meine Untersuchungsergebnisse lagen vor ihm. Er sagte nichts. Ich dachte: »Ja, nun sag mir, was wir machen müssen, wenn ich in deinem Perimetertest versage!« Ich bangte: »Medikamente vielleicht, möglichst ohne Nebenwirkungen natürlich, hoffentlich keine Operation.« Dr. Gröger sagte nichts und er lächelte nicht. Es war eine Stille in diesem kleinen Raum, die ahnen ließ, dass etwas nicht in Ordnung war, eine Stille, die ahnen ließ, dass irgendetwas absolut und ganz und gar nicht mehr in Ordnung war. Endlich räusperte sich Dr. Gröger und fragte sehr sachlich: »Gibt es in Ihrer Familie jemanden, der schlecht sieht oder sehr schlecht gesehen hat? Ein entfernter Onkel vielleicht?« Meine Mutter und ich verneinten, beide gleichermaßen verunsichert. Was sollte diese Frage? Es ging hier doch um mich.
Die nächste Aussage fiel meinem Augenarzt spürbar schwer. »Es hilft ja auch nicht, um den Brei herumzureden …«, murmelte er. »Es ist Retinitis pigmentosa«, sagte er dann hastig. Häh? Was ist das? Das hatte ich noch nie gehört. Ernst und sehr ruhig erklärte Dr. Gröger uns, dass Retinitis pigmentosa eine sehr seltene degenerative Erkrankung der Netzhaut ist. Sie ist genetisch bedingt, ist fortschreitend und man kann sie nicht heilen. Man kann diese Erkrankung noch nicht einmal behandeln. Man kann gar nichts machen. In meinen Kopf dröhnte das Echo der Wörter: Erbkrankheit … fortschreitend … unheilbar … Ich erstarrte. Nach langen Augenblicken war mein erster klarer Gedanke: »Scheiße, jetzt werde ich blind.« Als Nächstes dachte ich: »So ein Blödsinn! Es gibt doch gar keine Krankheit, die man nicht behandeln kann. Wenn das in Deutschland so ist, dann gibt es ja noch die ganze Welt. Es kann überhaupt nicht sein! Ich bin ja mal die Allerletzte, die eine so beschissene Krankheit bekommt!«
Meine Mutter und ich verließen die Praxis mit einem Rezept für ein Vitaminpräparat und einer Überweisung in die Uniklinik zur weiteren Abklärung. Ich fasste in diesem Moment einen Plan: Ich werde nicht blind! Ich würde den Augenärzten zeigen, dass man doch was machen kann! Ich hatte auch einen Plan B: Wenn ich blind werde, dann nehme ich mir das Leben.
Meine Mutter und ich standen uns im dunklen Novembernieselregen gegenüber. Sie weinte und sagte voller Zärtlichkeit: »Dörte, komm mit zu uns.« Ich schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, Mama, ich will zu Felix.«
Ich tappte zurück zum Pinneberger Bahnhof. In nur zwanzig Minuten war ich in der Hamburger City, bald darauf in meiner WG in Eimsbüttel. Meine Mitbewohnerin Laura und ihr Freund Nick empfingen mich. Sie setzten sich mit mir in die Küche und hörten zu. Nick bot uns Zigaretten an. Wir rauchten. Ich hatte lange keine Zigarette geraucht, aber das war jetzt alles egal. Verena, unsere strenge Hauptmieterin, kam kurz danach in die Wohnung. »Seid ihr jetzt von allen guten Geistern verlassen«, begann sie wegen des Zigarettenrauchs in der Wohnung laut zu zetern. Dann sah sie uns bedröppelt um den Küchentisch sitzen und verstummte. Sie blickte fragend in mein Gesicht. »Ich werde blind«, sagte ich tonlos und sie nahm mich in den Arm.
Felix war an diesem Abend wie jeden Donnerstag beim Tischtennistraining. Einmal in der Woche Tischtennis und hinterher ein Bier war gerade noch vereinbar mit seinem Mathe- und Physikexamen. Ich versuchte, ihn überall zu erreichen. Handys gab es ja noch nicht. Der Wirt der Kneipe neben der Sporthalle informierte Felix schließlich, dass ich ihn brauchte. Er wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste und dass es dringend war. Es war so gut, dass er kam, denn in seinen Armen fühlte ich mich geborgen und konnte endlich weinen.
Auch Felix weinte und sagte: »Wir machen eine Weltreise. Dann kannst du alles noch anschauen.«
»Und dein Examen?«, schniefte ich.
»Das mache ich danach fertig.«
Seine Reaktion war wunderbar. Nur wenige Stunden zuvor hätte ich alles stehen und liegen lassen, um mit ihm auf Weltreise zu gehen. Aber was für eine unendlich traurige Weltreise würde das sein? Ich würde alles mit dem Gedanken anschauen, dass ich es nie wieder sehen könnte. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte kämpfen!