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Trunkene Tage

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»Berufswunsch: Journalistin, Poetin, Weltreisende, Barbesitzerin, Unternehmerin und ich will Zirkus machen«, war neben meinem Namen in der Abi-Zeitung zu lesen. Diese Liste hatte ich spontan erstellt und wäre mehr Platz gewesen, hätte sie noch viel länger sein können. »Wer kommt wohl als Erstes ins Gefängnis?«, war eine der Abstimmungsfragen für dieses Blatt. Als Mitglied der Redaktion zählte ich die Stimmen der Befragung aus und staunte. Die Namen, die bei dieser Frage am häufigsten genannt wurden, waren: Laurenz, Sundeep und Dörte. Laurenz und Sundeep machten irgendwas mit Drogen, aber warum sollte ich auf einer Anklagebank sitzen? Ich hatte nur eine Rede über einen fiktiven Drogentest gehalten und einmal im Übermut eine Farbspraydose im öffentlichen Raum benutzt. »Ich bin viel zu harmlos, um in den Knast zu kommen«, war ich sicher. Ich konnte nicht ahnen, dass ich viel später tatsächlich in eine Justizvollzugsanstalt kommen würde, und das auch noch begleitet von einem Fernsehteam.

»Solange ich mich nicht entscheiden kann, was ich werden will, ist es am besten, Studentin zu sein«, dachte ich und schrieb mich erst einmal für Germanistik und Anglistik ein. Die Uni war eine totale Enttäuschung: viel zu verkopft und trocken. Trotzdem ging ich fleißig in die großen anonymen Vorlesungen und Seminare, bestand Klausuren, schrieb Hausarbeiten und sammelte ordentlich Scheine. Wozu das gut sein könnte, würde sich gewiss irgendwann zeigen.

Neben der Unterstützung durch meine Eltern verdiente ich meinen Lebensunterhalt als Kellnerin. »Aushilfe gesucht«, hatte ich schon in der 11. Klasse auf einem Aushang im Fenster einer Eisdiele am Altonaer Spritzenplatz gesehen. Ich hatte sofort im Laden nachgefragt und Rolf Tamm, der Inhaber, hatte mich gleich dabehalten. Meine Karriere hatte ich beim Abwasch begonnen. In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren hatte ich mich über Fenster links (Außer-Haus-Verkauf nur bei gutem Wetter), Fenster rechts (Außer-Haus-Verkauf an allen Tagen), Kellnerin 2, Kellnerin 1 bis zur »Leitenden Buffetkraft« hochgearbeitet. Nun war ich in diesem Eiscafé während meiner Schichten für alles, von der Bestellung über die Personaleinteilung bis hin zur Abrechnung, verantwortlich. Rolf war sehr selten da und wir als sein Team brachten den Laden zum Brummen. Wir waren jung, unbeschwert und entscheidungsfreudig. »Sie finden den Kuchen zu trocken? Kein Problem, ich bringe Ihnen einen anderen«, »Sie finden, dass die Eiskugeln zu klein sind? Kein Problem, ich mache sie größer«, »Sie haben nicht genug Geld? Kein Problem, ich mache es günstiger.« Wir pfiffen auf die betriebswirtschaftlichen Vorstellungen unseres Chefs, der darauf beharrte, dass eine Kugel Eis das Gewicht von vierzig Gramm unter keinen Umständen überschreiten dürfe. Wir machten alle Kunden glücklich. Das sprach sich rum und der Eisladen wurde Kult. Na ja, so viel Kult, wie ein Eiscafé Venezia mit Spaghetti-Eis und Krokantbecher eben sein kann. Ich liebte diesen Job sogar dann, wenn ich an langen, heißen Sommertagen nach Mitternacht völlig verschwitzt und verklebt noch die Stühle anketten und die Sahnemaschine reinigen musste. »Mir kann gar nichts passieren«, dachte ich mir. »Ganz egal, ob ich auf die Nase falle, ich kann mich immer gut mit Kellnern über Wasser halten.«

Ich zog nach dem Abitur in eine große WG mit taxifahrenden Musikern und anderen kreativ-chaotischen Typen in die Eulenstraße. Andreas, einer meiner Mitbewohner, zeigte mir, wie man mit drei Bällen jongliert. Das faszinierte mich vom ersten Augenblick an und ließ mich lange nicht los. Am Sportfachbereich der Hamburger Uni gab es Kurse für Jonglieren und Akrobatik. Das war in den 80er-Jahren ganz neu und genau richtig für mich. In der Akrobatikgruppe wurden wir schnell zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Schon bald buchten uns Stadtteilfeste für Auftritte. Den Applaus für unser amateurhaftes Können nahmen wir als Ansporn. Wir trainierten, so oft es ging, fuhren für Workshops nach Holland, wo die Partnerakrobatik der Como Brothers schon weit verbreitet war. Bei den Jongliertreffen gab es einige, die als Jongleure schon sehr erfolgreiche Straßenkünstler waren und für bezahlte Auftritte gebucht wurden. Weil die neuen Zirkuskünste noch eine Nische waren, konnten auch blutige Anfänger wie ich schnell Teil der bunten Familie werden. Ich hatte total Feuer gefangen, lernte auch noch Einradfahren und las alles, was ich über Zirkus in die Finger bekommen konnte. Für meine ersten beiden Auftritte wurde ich von mir selbst engagiert: Für den Geburtstag meines Vaters in unserem Wohnzimmer und für die Hochzeit meiner Cousine Gabi im Saal einer Gastwirtschaft in der Elbmarsch. Im Frühsommer 89 verbrachte ich ein paar Wochen in Lausanne bei Pascal, einem belgischen Architekten, mit dem mich eine leidenschaftliche Affäre verband. Mindestens genauso leidenschaftlich wie diese Liebesgeschichte waren meine ersten Auftritte als Straßenkünstlerin auf der Promenade des Genfer Sees. Das war sehr mutig und zugleich sehr naiv. Ich ging an die Sache genauso ran, wie ich es als Kind von Pippi Langstrumpf gelernt hatte: »Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.« Meine Jonglierkunst war kaum besser als mein Schulfranzösisch. Beides hatte einen sehr eigenwilligen Charme und dennoch schauten die Leute mir zu, klatschten Beifall und warfen danach reichlich Geld in meinen Hut. Ich war ganz besoffen davon. Auch das Liebesabenteuer mit Pascal machte mich trunken. Das war immer noch neu für mich. In Pinneberg hatte ich kein Glück in der Liebe. So oft war ich in Jungs verliebt, die umgekehrt nicht in mich verliebt waren. Zielstrebig guckte ich mir immer wieder den einen aus, der sie alle hätte haben können. Leider entschied der sich dann immer für eine andere. Jenne war eine Ausnahme. Mit ihm hatte ich vorm Abi ein paar schöne Monate. Er war ein bisschen übergewichtig, obwohl er Sport als Leistungskurs hatte, außerdem hatte er rote Haare und schlimme Neurodermitis. Das machte ihn nicht weniger begehrenswert und ich fand ihn sehr sexy. Ausstrahlung fand ich anziehender als nur Optik. Ich suchte keinen Posterboy, also nicht so ganz unbedingt.

Jenne erzählte mir oft von einer Gruppe Blinder, die er in einem Sommercamp in England kennengelernt hatte. Er erzählte von Dave, einem blinden Gitarristen, der Spaß daran hatte, bei Kneipenbesuchen sein Glasauge in Biergläsern von nichts ahnenden Leuten zu versenken. Nachdem Jenne das Abi im zweiten Anlauf schaffte, studierte er in Dortmund Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. »Ist ja ganz interessant mit diesen lustigen Blinden, aber das hat mit mir gar nichts zu tun«, dachte ich unbeeindruckt und Jenne und ich verloren uns sowieso bald aus den Augen.

Außerhalb von Pinneberg drehte sich das ganze Dating- und Matingthema für mich total um. Die Welt war plötzlich voller attraktiver Männer, denen ich gefiel. Ich war verwirrt, konnte es nicht glauben. Wunderbar strubbelige, dunkelhaarige Männer, so verwegene, großherzige Abenteurer mit jungenhaftem Charme standen plötzlich auf mich. Mir gefielen diejenigen, die sich geschmeidig bewegen konnten und Intelligenz, Leidenschaft und Humor ausstrahlten. Ich mochte die Jungs mit Turnschuhen, alten Jeans und Lederjacken. Die Angeber mit den fantasielosen Statussymbolen wie Uhren, Autos oder teuren Klamotten interessierten mich dagegen überhaupt nicht.

Ständig knisterte es in alltäglichen Begegnungen, überall elektrisierende Augenblicke. Pausenlos war ich verliebt und berauscht davon, dass mein Begehren jetzt fast immer erwidert wurde. Pascal war lange der Schwarm meiner Mitbewohnerin Carina, einer atemberaubend hinreißenden Schwedin. Sie war die sexuell umtriebigste Frau, die ich kannte. »Das ist nur so lange so, bis ich Pascal bekomme«, gestand sie mir. Sie bekam ihn nie. Nachdem ich in eine neue WG gezogen war, begann er heftig um mich zu werben. Kurz bevor er in die Schweiz zog, fingen wir eine stürmische Liebesgeschichte miteinander an. Carina nahm mir das zum Glück nicht übel. »Er hat sich einfach anders entschieden«, meinte sie und heiratete Hals über Kopf einen Jurastudenten im zwanzigsten Semester mit Potenzstörungen.

In der Liebe hatte ich jetzt zwar Glück, aber keine Ahnung, wie es geht. Ich rannte immer einfach drauflos, egal ob für kurz oder ein bisschen länger. Immer loderte mein Herz. Zeiten im siebten Himmel, kleine und größere Dramen wechselten sich ab. »Bei dir muss es immer gleich mit Liebe sein«, beschrieb meine Freundin Dunja später ziemlich treffend mein romantisch-verklärtes Balzverhalten.

So intensiv die Zeit von Pascal und mir war, so schnell war sie auch wieder vorbei. Nach Lausanne hatte ich endgültig genug Drama, wollte einfach auch mal eine ganz normale feste Beziehung. »Aber wie geht das?«, fragte ich mich.

Felix lernte ich beim Jongliertreff in der Uni kennen. Er spielte mit seinem Jonglierpartner Nils in der Mitternachtsshow des Schmidt ­Theaters. Das Varieté-Theater auf der Reeperbahn hatte gerade erst eröffnet. Die frechen Shows wurden von Ernie Reinhardt in der Kunstfigur der alternden Diva Lilo Wanders, die später einem breiten Fernsehpublikum bekannt wurde, moderiert. Felix und Nils betteten ihre Jongliernummer in das biblische Gleichnis von den Talenten ein: »Auch wenn du nur eine Keule hast, du kannst sie immer noch auf der Nase balancieren«, meinte Felix, während er genau das vorführte. Es war ein bisschen bizarr, von der Bühne des verruchten Theaters etwas über ein christliches Gleichnis zu hören. »Hach, herzallerliebst, geradewegs aus dem Konfirmandenunterricht auf die Bühne«, seufzte Lilo Wanders in der Abmoderation. Felix kam aus Bad Godesberg und war für ein Lehramtsstudium mit den Fächern Mathe und Physik nach Hamburg gekommen. In der Godesberger Kirchengemeinde hatte er mit einer Jugendgruppe die Teestube organisiert. Vermutlich brachte er von dort die Idee mit dem Gleichnis mit.

Er wohnte in einer WG am Altonaer Bahnhof und kam wie viele andere manchmal bei meinem Eiscafé vorbei, denn für Freunde machten wir natürlich immer besonders viele und besonders große Eiskugeln.

Ein paar Wochen nach meinem Debüt als Straßenkünstlerin in Lausanne fuhren wir mit einer Truppe von zwanzig Akrobaten und Jongleuren aus Hamburg und Nijmegen in einem alten Reisebus nach Frankreich. Wir entwickelten eine große Straßenshow, tourten durch die Städte an der Atlantikküste und traten zum krönenden Abschluss in Paris vor dem Centre Pompidou auf. Am ersten Tag dieser Tour brach mein Nasenbein. »Ein Zahnarzt fiel mit seinem Hintern auf meine Nase«, schilderte ich später den Unfall. Und das stimmte wirklich. Kai war ein junger Zahnarzt und ehemaliger Leistungsturner, der Teil unserer Truppe war. Bei den Proben stand er im gegrätschten Handstand, als ich mit einer Flugrolle über ihn sprang. Leider sprang ich zu knapp, riss ihn um und er landete mit seinem Steißbein auf meiner Nase. »Jo, die is ab«, befand Kai sachlich, als er am nächsten Morgen die Nase in meinem blauverquollenen Gesicht befühlte. Im Krankenhaus ergab das Röntgenbild, dass der Bruch ohne Weiteres heilen würde und ich nach ein paar Tagen weiterturnen könnte. Zum Glück, denn die Tour und das Leben in der Truppe hätte ich auf keinen Fall verpassen mögen.

Felix und ich kamen uns in Frankreich ganz langsam näher und irgendwann richteten wir unsere Schlafplätze im Bus nebeneinander ein. Frisch verliebt mit großartigen Menschen im sonnigen Frankreich Zirkus machen: Für mich hätte es nichts Schöneres geben können.

Als Felix und ich nach dem Rausch der Tour das erste Mal allein in seinem WG-Zimmer saßen, fragte er schüchtern: »Ich habe meiner Mutter erzählt, dass ich eine neue Freundin habe. Siehst du das auch so?« Ja, das sah ich auch so. Nun musste ich nur noch lernen, wie feste Beziehung geht. Felix wusste das, er war kein Mann für Affären. Über seinem Schreibtisch hingen die Fotos von Karin und Ingrid, seinen beiden verflossenen Freundinnen. Das fand ich erstaunlich. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich von meinen Lovern gar keine Fotos aufhängen können. Ich hatte schlichtweg keine. Felix und ich waren in vielen Dingen verschieden, aber die Leidenschaft für Zirkus hatten wir schon mal gemeinsam. Das war ein Anfang.

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut

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