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Prolog

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Wir stehen in Hamburg am Bahnsteig, Martin, die Kinder, der Hund und ich. Zwei unfassbar große Koffer, zwei winzige Koffer – einer mit Nixen- und einer mit Batmanmotiv – und zwei kleine bunte Tagesrucksäcke stehen um uns herum. Die Lautsprecher knacken: »Auf Gleis 7 fährt jetzt ein: der ICE nach München über Hannover und Würzburg. Die Wagen der ersten Klasse befinden sich im Abschnitt A bis C, die Wagen der zweiten Klasse im Abschnitt D bis G.«

»Mist, geänderte Wagenreihung. Kommt mit!«, ruft Martin.

»Lila, voran, Tempo«, gebe ich leise meiner Blindenführhündin das Kommando.

Der Zug fährt ein und kommt zum Halten. Wir rennen am Bahnsteig entlang, Martin voran, alle anderen hinterher. Wir erreichen einen Einstieg. Hoffentlich den richtigen, denke ich. Martin hievt die Koffer und Rucksäcke in den Zug. Danach wagt zuerst Eileen, dann Emil den Schritt über den bedrohlichen Abgrund zwischen Zug und Bahnsteigkante. Konzentriert klettern die Kinder die Stufen hoch in den Zug hinein. »Lila, hopp«, rufe ich, und meine Hündin springt mit einem großen Satz in den Zug. Danach taste ich mit den Füßen nach den Stufen. Geschafft. Wir sind im Zug – aber noch nicht im richtigen Wagen. Schwer bepackt wühlen wir uns durch zum Wagen 9, Plätze 62 bis 65, den vier Plätzen mit Tisch im Großraumwagen. Schnell stecken wir unser kleines Revier ab. Wir wuchten die großen Koffer und Rucksäcke nach oben in die Gepäckablage, verstauen die kleinen Koffer und Rucksäcke, die Hündin und ihr Führhundgeschirr kommen unter den Tisch. Wir füllen den verbliebenen Platz mit Knabbergemüse, Trinkflaschen, Malbüchern, Buntstiften, Memory-Karten und dem Player mit den Kinderhörspielen.

»Papa, wo ist mein Schnitzmesser?«, »Schnuffel, hast du die Reisepässe der Kinder eingesteckt?«, »Mama, wann kriege ich endlich ein Eis?!«, plappern alle durcheinander, während Lila eine Sitzreihe weiter nach vorn robbt. Hier knistert es interessant und Menschen lassen leckere Kekskrümel zu Boden fallen.

Ich muss jetzt dringend pinkeln. Wo ist mein Blindenstock? Er ist tief verbuddelt zwischen Sandspielzeug, Hundefutter und Badeklamotten. Martin kann mich nicht hinführen. Das Risiko, die Kinder alleine zu lassen, wäre zu groß, denn dann würde die gesamte Fami­liendynamik, die wir gerade erfolgreich in den Zugfahrmodus gebracht hatten, gefährlich ins Wanken geraten. Ein Begleitservice für mich ist ausgeschlossen, aber auch nicht nötig, befinde ich. »Bleib du bei den Kindern, ich geh’ mal kurz zur Toilette«, werfe ich Martin zu, bevor ich mich auf den Weg mache. Was soll auf diesen fünf Metern schon schiefgehen?

Ich folge dem Gang des Großraumwagens an ein paar Sitzreihen vorbei. Der Gang ist so eng, dass ich trotz heftiger Schaukelei des Wagens nur unwesentlich aus der Bahn geworfen werde. Am Ende des Ganges öffnet sich eine Schiebetür mit einem leise surrenden Geräusch ganz automatisch. Ich gehe hindurch und folge weiter dem Teppichboden. Links ertaste ich die kühle Fensterfront. Jetzt verändert sich die Akustik und ich merke, dass die beiden Ausstiegstüren links und rechts von mir sind. Ich bin also auf dem richtigen Weg, gleich muss die Zugtoilette kommen. Liegt sie rechts oder links? Im Gang ist niemand, den ich fragen kann. Ich taste nach der rechten Wand. Kaum berühre ich diese Wand, öffnet sich mit einem schnarrenden Geräusch wieder eine Schiebetür. Das ist ja richtig klasse: Ich habe die Toilette schon gefunden und sie ist frei! Ich trete schnell durch die Tür und bin irritiert. Das kann nicht die Toilette sein. Toilettenräume im ICE sind eng und schmal. Verglichen damit stehe ich in einem großen Saal. Die Schiebetür hinter mir steht noch weit offen. Eine männliche Stimme von links unten sagt etwas, das klingt wie »Banster sie nicht schlonk Tür infekt … äh hmm versetzt, nein …!« Ich folgere blitzschnell: Dieser offensichtlich sehr kleine Mann mit der nuscheligen Aussprache steht vor der eigentlichen Toilettentür in einem Vorraum. Er wartet, weil die Kabine noch besetzt ist. Mit meinem charmantesten Lächeln wende ich mich dem fremden Mann zu und frage sehr freundlich: »Oh, warten Sie hier auch?« Im nächsten Satz würde ich ihm erklären, dass ich blind bin und man mir das nicht gleich ansieht, da ich keinen Blindenstock dabeihabe, was wiederum daran liegt, dass ich nur wenige Schritte von hier entfernt mit meiner Familie sitze. So plante ich den weiteren Verlauf unserer Unterhaltung, doch so weit kommen wir nicht. Der kleine Mann wurschtelt hektisch irgendwas und eilt wortlos mit schnellen Schritten aus der großen Türöffnung davon. Ich finde das ziemlich unhöflich. Vielleicht dauerte ihm das Warten zu lange oder er befürchtete, dass ich mich vordrängeln möchte? Ich warte noch einen weiteren Moment ab. Es tut sich nichts und in der Toilettenkabine ist auch nichts zu hören. Ich suche links nach dem Türgriff der Kabine. Was ich finde, überrascht mich: Dort, wo eben noch der kleine Mann zu mir sprach, ist keine Tür, dort ist die Toilettenschüssel. Schlagartig ist mir klar, dass der Mann nicht klein war. Er hat auf der Toilette gesessen. Ich bin in der geräumigen Rolli-Toilette. Hier ist der Absperrmechanismus für Nicht-Eingeweihte nicht ganz einfach zu bedienen und der Mann hat es offensichtlich nicht verstanden, die Tür abzusperren.

Da erreiche ich blindes Huhn nun mein Ziel mit so viel Leichtigkeit und bringe einen ahnungslosen Mitreisenden in eine echte Scheißsituation. Ich schließe lächelnd die immer noch weit geöffnete große Schiebetür und drücke auf den speziellen Schließknopf. Unsere Italienreise fängt richtig gut an, denke ich.

Zwanzig Jahre nach der Diagnose »unheilbare Augenerkrankung – Erblindung unausweichlich« kann ich von Herzen über meine Blindheit lachen. Ich bin angekommen in einem farbenfrohen Leben, das für mich lange absolut unerreichbar zu sein schien.

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut

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