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Hornbrillen und andere Irrtümer

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Sehen andere eigentlich genauso wie man selbst? Kann man da überhaupt je sicher sein? Als Kind stellte ich mir diese Fragen nicht. Ob ich vielleicht schon immer anders, genauer gesagt weniger sah als andere, kann ich deshalb nicht sagen. Ich sah und Zweifel daran gab es nicht.

Den Sehtest bei der Untersuchung zur Feststellung der Schulreife bestand ich ohne Beanstandungen. In der zweiten Klasse stellte der Augenarzt unserer Familie Dr. Gröger dann bei mir eine Hornhautverkrümmung fest und verordnete mir eine Brille. Damit wurde ich das einzige Mädchen mit Brille in meiner Klasse. Das war nicht schön und meine Mutter weinte deswegen sogar ein bisschen. Natürlich ist es gar nicht schlimm, eine Brille zu brauchen, und auch kein Grund für ernsthafte Trauer. Schlimm war allerdings, dass ich mich mangels geeigneter Vorbilder für eine Hornbrille entschied. Die einzige Person mit Brille, die ich gut kannte und mochte, war meine Großmutter. Meine ersten beiden Brillengestelle waren daher scheußliche Kassenmodelle aus den 60er-Jahren. Sie kamen in ihrer braunbeige melierten Farbgestaltung und ihrer Form der Brille meiner Großmutter sehr nah, nur dass sie in meinem Kindergesicht absolut wie von vorgestern wirkten. »Oh, hast du jetzt eine Brille?«, fragten mich Nachbarn und Mitschüler und sagten dann nichts mehr. Die Reaktionen waren auffallend verhalten. »Brillen sind etwas für Omas und einfach nicht schick. Da kann man nichts machen«, dachte ich. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass es an meinem speziellen Modell liegen könnte. Ich akzeptierte, dass ich mit der Brille zwar schärfer sehen konnte, dafür aber doof aussah. Egal, denn Aussehen spielte für achtjährige Mädchen in der Prisdorfer Grundschule ohnehin eine Nebenrolle. Ich trug die Brille, ohne zu murren, nur für die Klassenfotos setzte ich sie vorsichtshalber ab.

Als Aussehen mit der Pubertät ein zunehmend wichtigeres Thema wurde, war ich längst überzeugt, dass jede Brille unabhängig von ihrer Form und Farbe nicht anders kann, als mich hässlich zu machen. Hässlich sein aber galt es in der Pubertät natürlich um fast jeden Preis zu vermeiden. Ich trug die Brille nur noch im Unterricht und später auch dort nicht mehr. Aussehen hatte jetzt eine deutlich höhere Priorität für mich als sehen.

»Ich komme gut ohne Brille klar«, redete ich mir ein. Sicher war das nur die halbe Wahrheit, denn sonst hätte ich wohl gar keine Brille verordnet bekommen. Ganz nebenbei und meist unbewusst eignete ich mir Techniken an, um mit dem unperfekten Sehen klarzukommen. Ich fand heraus, dass man Tafelanschriebe in den meisten Fächern nicht sehen musste, um gute Noten zu bekommen. Es reichte, den Lehrern zuzuhören.

In der neunten Klasse wurde in der Augenarztpraxis von Dr. Gröger bei mir ein Perimetertest gemacht. Das ist ein Test, bei dem man auf zwei Punkte in einer Halbkugel starrt. An den Seiten erscheinen Punkte, die sich auf die Mitte zubewegen. Sobald man einen Punkt in der Peripherie des Blickfelds wahrnimmt, soll man reagieren. Ich fand den Test ungeheuer anstrengend. Es war mir fast unmöglich, den Blick unbeweglich auf den beiden mittleren Punkten zu halten. Ich gab alles, strengte mich an, doch immer wieder verpasste ich die Punkte und reagierte erst sehr spät. Die Arzthelferin, die den Test durchführte, war streng und ungeduldig. »Nun konzentriere dich endlich! So dumm bist du doch auch nicht!«, schnauzte sie mich an. Ich war den Tränen nahe und fing an, Punkte anzuzeigen, die ich gar nicht sah. Schließlich war die Arzthelferin zufrieden oder vielleicht hatte sie es einfach aufgegeben mit mir. Jedenfalls übergab sie ihrem Chef ein Testergebnis, dass kein eingeschränktes Gesichtsfeld bei mir zeigte. Rückblickend bin ich der resoluten Frau enorm dankbar, denn ein korrektes Testergebnis hätte eine Diagnose ermöglicht, mit der weder ich noch meine Familie damals hätten umgehen können. Das falsche Testergebnis hat mich vermutlich vor der Ausgrenzung bewahrt, die in den 1980er-Jahren für ein Kind mit einer Beeinträchtigung die Regel war. Ich konnte einfach ein durchschnittlich unbeschwerter Teenager bleiben und noch lange ein Leben wie alle anderen führen. Weder ich noch sonst jemand wusste, dass ich sehbehindert war und immer weniger würde sehen können. Niemand kam daher auf die Idee, mich auf eine Sonderschule zu schicken. Nach meinem ersten Perimetertest verließ ich die Arztpraxis mit der guten Nachricht, dass ich im kommenden Jahr Kontaktlinsen bekommen würde, mit denen die unregelmäßige Hornhautverkrümmung noch besser ausgeglichen werden könnte. »Das ist dann auch fürs Autofahren besser«, meinte Dr. Gröger in seiner gutmütigen Art. Seine Ansage, dass ich zweifellos die Sehanforderungen für den Führerschein erfüllen würde, ließen mein vage mulmiges Gefühl bezüglich meines Sehvermögens ganz verschwinden. »Es ist wohl ein bisschen kompliziert mit meinen Augen, aber im Grunde ist alles ganz in Ordnung. Zum Glück! Kontaktlinsen sind bestimmt toll. Die sieht keiner und ich kann dann alles damit sehen«, schrieb ich voller Zuversicht in mein Tagebuch.

Die versprochenen Kontaktlinsen wurden mir in einer Fachpraxis in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs angepasst. Herr Johannsen senior und auch sein Sohn Johannsen junior waren freundliche, einfühlsame und auch enorm kompetente Fachleute auf ihrem Gebiet. Ganz in Ruhe passten sie täglich Kontaktlinsen individuell an schwierige Augen an. Herr Johannsen junior übte mit mir über einem großen Spiegel, die Linsen ins Auge einzusetzen. Das Erste, was ich in diesem Spiegel sah, war mein eigenes Gesicht. Ich hatte es noch nie in dieser Schärfe sehen können. »Ups, ich sehe ziemlich okay aus«, dachte ich überrascht.

Meine Gewöhnungsphase an die harten Kontaktlinsen in meinen Augen verlief zwar etwas holprig, aber das Ergebnis war großartig. Ich konnte besser sehen als je zuvor, und das ganz ohne Brille. Die Welt war so intensiv farbig, alles hatte scharfe Konturen und ich konnte Details ohne Mühe erkennen. Die Bäume hatten jetzt einzelne Blätter, Stoffe hatten Struktur und am Himmel sah ich nicht mehr nur den Mond, sondern unzählige Sterne. Ich konnte in den Gesichtern von Menschen auch auf Distanz Gefühle sehen und ihnen ohne Anstrengung in die Augen schauen. Was war das für eine wunderschöne, schillernde Welt um mich herum!

Mich beflügelte das neue Sehen sehr. Wenn ich früher schon meist Freude am Dasein hatte, verliebte ich mich nun noch mehr ins Leben. Ich wurde immer mutiger, extrovertierter und lebenshungriger. Ich konnte aber auch mit wenig Sehvermögen gut zurechtkommen. Obwohl meine Sehschärfe ohne Kontaktlinsen nur bei etwa zehn Prozent lag, vergaß ich ab und zu, die winzigen Sehhelfer am Morgen einzusetzen. Es konnte passieren, dass ich ohne Kontaktlinsen aus dem Haus ging und es erst später am Tag bemerkte. Das ging auch.

Manchmal verlor ich eine der kleinen Kunststofflinsen. Ich spülte sie im Abfluss des Waschbeckens hinunter oder ließ sie fallen und fand sie in meinem langhaarigen Flokatiteppich einfach nicht wieder. Herr Johannsen hatte dafür Verständnis und passte mir jedes Mal geduldig eine neue Linse an.

Nach einiger Zeit sollte ich zwei ganz neue Linsen bekommen. Als der junge Herr Johannsen sie bei mir eingesetzt hatte, konnte ich damit jedoch alles andere als scharf sehen. »Welche Buchstaben erkennen Sie?«, fragte er mich, nachdem er die Leuchttafel an der Wand eingeschaltet hatte.

»Nur das große E in der ersten Zeile, danach geht nichts mehr«, sagte ich verwirrt. »Manchmal brauchen die Augen Zeit, um sich an neue Linsen zu gewöhnen. Gehen Sie bitte eine Stunde in die Stadt und kommen dann wieder her«, meinte er freundlich. Er schien völlig unbeeindruckt von meinem drastischen Sehverlust zu sein.

Mein Weg durch die Hamburger Mönckebergstraße war mühsam. Ich sah mit diesen neuen Linsen schlechter als ganz ohne Linsen. Das reichte kaum, um meinen Weg zu finden und dabei niemanden umzulaufen. Erschöpft kam ich in die Praxis des Optikers zurück. Der Sehtest ergab das gleiche Ergebnis. Erneut überprüfte Herr Johannsen die Position der Linsen in meinen Augen und schickte mich schließlich mit beruhigenden Worten nach Hause: »Manchmal brauchen die Augen eine längere Zeit, um sich an neue Linsen anzupassen. Tragen Sie die Linsen heute und kommen Sie morgen wieder zu uns.« Er klang nicht beunruhigt, jedoch ein wenig ratlos.

Ich trug die neuen Linsen den ganzen Tag. Es war absolut nervig. Ich sah so schlecht wie sonst nur, nachdem der Augenarzt mir die Pupillen mit Tropfen weitgestellt hatte. Ich konnte keine Schrift erkennen, nichts lesen oder schreiben. Das blieb unverändert, bis ich abends die Linsen rausnahm. Ohne die blöden Linsen konnte ich immerhin so viel oder wenig sehen wie sonst auch. Immerhin.

Am nächsten Tag setzte ich die Linsen wieder ein und machte mich tapfer auf den Weg ins Kontaktlinsenstudio. »Tut mir leid, ich sehe mit diesen neuen Linsen einfach gar nichts!«, begrüßte ich meinen Linsenexperten. Noch einmal überprüfte er alles mit höchster Akribie, fand keine Antwort und wurde zunehmend nervös.

»Wann ist Ihr Geburtstag?«, wollte er unvermittelt von mir wissen. Warum? Was sollte das mit seinen nutzlosen Linsen zu tun haben?

»3. November 1967«, antwortete ich irritiert. Tatsächlich lag des Rätsels Lösung in meinem Geburtsdatum oder vielmehr in der Kombination aus meinem Namen und meinem Geburtsdatum. Es gab in diesem spezialisierten Kontaktlinsenstudio eine weitere Patientin namens Dörte Maack und unsere Patientenakten wurden verwechselt. Ich trug die Kontaktlinsen einer fremden Frau. Ich versuchte die Welt durch die Augen einer anderen Dörte Maack zu sehen und bin damit gescheitert. Herr Johannsen war genauso baff wie ich. Wie meine späteren neugierigen Recherchen ergaben, gibt es in Deutschland nur zwei oder drei andere Frauen neben mir mit dem Namen Dörte Maack. Vermutlich gilt das sogar weltweit, denn außerhalb von Norddeutschland heißt fast niemand Dörte. Eine dieser seltenen Exemplare lebte ganz in meiner Nähe und hatte ebenso wie ich komplizierte Augen, die spezielle Kontaktlinsen brauchten.

Ich staunte über die kreativen Varianten des Zufalls und freute mich bald über meine neuen eigenen Kontaktlinsen. Die Welt war wieder in Ordnung. Die Welt erschien wieder in Schärfe und Pracht vor meinen Augen, den Augen von Dörte Maack, geboren im November 1967.

In den kommenden Jahren trug ich ständig Kontaktlinsen, ließ jedes Jahr die Sehschärfe überprüfen und kümmerte mich nicht weiter um meine Augen. Wieso auch? Es war ja alles in Ordnung. Ganz unabhängig von meinem Sehvermögen war meine Welt so farbenprächtig, leuchtend und detailreich, dass es so oder so keine Rolle spielen musste, wie gut ich bei einem Sehtest abschnitt. Rückblickend habe ich in dieser Zeit immer mal wieder bemerkt, dass ich in ganz bestimmten Situationen nicht so gut sah, wie andere anscheinend sehen konnten. Weil ich mir das nicht erklären konnte, schob ich das schnell beiseite und vergaß es. Richtig auffällig war nur meine Nachtblindheit. Meine Freunde und ich hielten sie für eine unbedeutende Eigenart. Hin und wieder hatte ich im Dunkeln Unfälle, kam aber immer unbeschadet oder nur mit blauen Flecken davon. Alle lachten mit mir, als ein Begrenzungsstein spät abends in der Altonaer Fußgängerzone frech vor mein Rad sprang und mir ermöglichte, einen beeindruckenden Stunt mit Salto hinzulegen. Fahrrad total kaputt, Dörte wütend, aber heil. Alles in Ordnung.

Es ärgerte mich, dass ich einzelne Tricks bei der Keulenjonglage beim besten Willen nicht beherrschen konnte. Ich übte wie verrückt, aber es gab Muster, die mir immer wieder misslangen. Na gut, man kann nicht alles können, akzeptierte ich mein Versagen bei den Triplewürfen und den Backcrosses.

Ich machte mir selbst dann noch keine Sorgen, als ich während der Ausbildung an der Zirkusschule Felix darum bat, mir seine vielen Briefe mit einem schwarzen Filzstift zu schreiben. Das Licht in meinem WG-Zimmer war einfach zu schlecht, um mit dünnem Kugelschreiber handgeschriebene Briefe zu lesen. Das würde wohl für jede so sein, oder? Ich hatte eine zu aufregende Zeit, um weiter darüber nachzudenken.

Erst als ich bei gutem Licht Mühe hatte, gedruckte Schrift flüssig zu lesen, weil ich immer wieder die Zeile verlor, ging ich zu meinem Optiker. Herr Johannsen junior stellte fest, dass ich auch mit optimal angepassten Kontaktlinsen nur auf eine Sehschärfe von dreißig Prozent kam. Wie immer suchte er nach naheliegenden einfachen Erklärungen. »Haben Sie gerade einen Infekt hinter sich? Da kann das mal sein, dass die Sehschärfe vorübergehend nachlässt.« Nein, ich hatte keinen Infekt hinter mir. Ich war fit und gesund. Dieses Mal gab es keine einfache Antwort für mich und ich begann langsam zu ahnen, dass es lange keine einfachen Antworten mehr geben würde.

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut

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