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Do wat du wullt, de Lüüd snackt doch

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»Bitte schreibt alle auf, die ihr in unserer Klasse für Außenseiter haltet«, forderte unser Klassenlehrer uns auf. Kornelius Thuma war gerade mit seinem Referendariat fertig und die 5d war seine erste Klasse. Er hatte lange Haare, trug meist einen übergroßen handgestrickten Pullover und saß mit Vorliebe auf der Lehne seines Lehrerstuhls mit den Füßen in den Birkenstocksandalen auf der Sitzfläche. Eine gute Klassengemeinschaft war ihm wichtig und er hielt die öffentliche Diskussion der möglichen Außenseiter anscheinend für eine geeignete Maßnahme. Es verunsicherte mich, dass mein Name auch an der Tafel stand. War ich jetzt eine Außenseiterin? Es war kein Trost, dass die Namen der halben Klasse dort standen. Für alle, die zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein oder sonst irgendwie anders waren als die meisten, war der Übergang in die große weiterführende Schule schwierig. Wir alle suchten unseren Platz und fingen an zu vergleichen. Dazuzugehören war alles, bloß kein Außenseiter sein! Mein Fall wurde diskutiert und schließlich wurde mein Name von der Tafel gewischt. Ich hatte zu viele Freundinnen aus der Grundschule, die zu mir hielten. Das hatte Gewicht, auch wenn meine neuen Pinneberger Mitschüler befanden, dass ich nach Bauernhof roch. In Prisdorf hatte das niemanden gestört, im Gegenteil. Mein Vater war sehr stolz auf unseren ertragreichen Hof und andere Kinder kamen immer gern zu uns zum Spielen. »In Pinneberg ist es ein Makel, vom Bauernhof zu kommen«, begriff ich. Ich stank und ich war hässlich. Dabei war ich eigentlich gar nicht wirklich hässlich, doch objektiv betrachtet, hatte ich ziemlich uncoole Klamotten, einen blöden Haarschnitt und eine wirklich sehr hässliche Brille.

Der Wechsel auf das Gymnasium läutete zugleich das Ende meiner Kindheit ein. An den langen Winterabenden fühlte ich mich jetzt oft sehr einsam. Ich konnte mich nicht mehr allein ins Spielen vertiefen und hätte jemanden zum Reden gebraucht. Stattdessen saß ich mit meiner alten Oma vor dem Fernseher, während meine Eltern bis acht Uhr abends im Stall arbeiteten.

Wie sehr mich der Start auf dem Gymnasium verunsicherte, war mir nicht bewusst. Ich bekam Bauchschmerzen, die langsam so stark wurden, dass ich für zwei Wochen ins Krankenhaus kam. »Guck mal, wir haben uns Monchichis gekauft«, kicherten meine beiden besten Freundinnen Annette und Kirstin fröhlich, als sie mich im Krankenhaus besuchten. Diese affenähnlichen Püppchen aus Japan waren der letzte Schrei auf dem Spielzeugmarkt. Ihre neuen Monchhichis machten die beiden zu einer verschworenen Einheit. Ich hatte keinen Monchhichi und war außen vor.

Die Ärzte konnten nichts in meinem Bauch finden und entließen mich ohne Befund. Die Schmerzen einer Kinderseele konnten ihre Apparate nicht messen. Doch auch ohne Behandlung ließen meine Bauchschmerzen langsam nach. Ich verstand immer besser, was wichtig ist, um dazuzugehören. In Sport war ich gut, damit konnte ich leicht punkten. In anderen Fächern flogen mir die guten Noten einfach zu und ich ließ andere gern abschreiben.

»Oh mein Gott, wie süß Robbie wieder guckt«, seufzte Kirstin jedes Mal, wenn die neue Bravo rauskam. Genau wie Annette war sie verrückt nach »The Teens«, einer Boyband aus Berlin. Die fünf Jungs waren kaum älter als wir und stürmten mit ihrer LP Teens & Jeans & Rock’n’Roll die Charts. Wie meine beiden Freundinnen tapezierte ich die Wände meines Kinderzimmers mit Postern der Band, lebensgroßer Starschnitt aus der Bravo inklusive. Eigentlich interessierte ich mich nicht besonders für die Band und ihre Musik, aber ich tat so, als wäre ich genau wie die anderen in einen dieser Jungs verknallt. Dazuzugehören hatte seinen Preis. So zu tun als ob, ließ sich nicht vermeiden.

In der 7. Klasse wurden wir neu zusammengewürfelt. Wie ich wählten auch Kirstin und Annette Französisch und gingen weiterhin in dieselbe Klasse. Unsere Dreierkonstellation als beste Freundinnen brachte jeder von uns über viele Jahre Freude und Kränkungen zugleich. Im ständigen Wechsel war immer eine von uns außen vor. Eigentlich harmlose kleine Intrigen und Machtspielchen belasteten uns. Ein niedrig dosiertes stetiges Gift. Wir konnten nie offen darüber reden. Es war eben nicht so einfach, wie Herr Thuma sich das vorstellte.

In der neuen Klasse wurden meine Noten noch besser und ich erhielt eine Auszeichnung als Klassenbeste. Das freute mich nicht sehr, denn gute Noten waren nicht mein Bestreben, nur mein Glück. Mein einziges Bestreben war es, dazuzugehören und cool zu sein. Dafür durfte man auf keinen Fall eine Streberin sein. Ich fing an, in der Schule aufmüpfig zu werden: ein bisschen den Unterricht stören, ein paar Streiche. Das brachte Ansehen und machte meine Noten auch nur wenig schlechter. Meine Eltern ließen mich machen und mischten sich nicht ein. Meine Erfolge nahmen sie ohne Überschwang zur Kenntnis, regten sich aber auch kaum über die vereinzelten blauen Briefe mit meinen Schandtaten auf.

»Do wat du wullt, de Lüüd snackt doch!«, sagte meine Oma häufig. Das hörte sich bei ihr nicht resigniert an, sondern eher nach einem Plädoyer für Eigensinn. Von dieser Haltung war ich noch ganz weit entfernt, machte mich aber langsam auf den Weg. Bei der Wahl von Frisuren und Klamotten experimentierte ich wild, fand aber lange keine Linie. Der Schlabberlook der Ökos gefiel mir zwar an anderen, aber nicht an mir, und der markenbetonte, glattgebügelte Look der Popper war mir viel zu schnieke.

In der 10. Klasse sollten wir wieder etwas über andere aufschreiben. Wir zogen einen Zettel mit einem Namen und sollten diese Person beschreiben. Unsere Beschreibungen hingen wir anonym an eine Pinnwand. Jeder sollte dann die zutreffende Beschreibung für sich heraussuchen. Meine war nicht dabei. Am Ende hing da nur noch ein Blatt: selbstbewusst, kreativ, viele verrückte Ideen, sportlich, überdreht, ausgefallene Klamotten …

»Das beschreibt dich doch perfekt«, fand Frau Hadersbek, unsere Deutschlehrerin. So ein Quatsch, ich war schüchtern, talentfrei, unattraktiv und schlecht gekleidet … Vor allem die Jungs in meiner Klasse sahen das ganz sicher so, glaubte ich. Trotzdem war ich ihnen nicht vollkommen egal. Sie hielten mir kollektiv eine Standpauke, als ich auf der Klassenfahrt in München mit einem einheimischen Jungen namens Klaus knutschte. Ich hatte noch keine Übung und unsere Schneidezähne stießen dauernd zusammen. Aber Klaus schien mich trotzdem sehr zu mögen. Im Biergarten trafen wir seine Freunde, die über meinen norddeutschen Vornamen schallend lachten. Klaus lachte nicht, sondern meinte mitfühlend: »Ja, aber deine Eltern haben dich doch sicher nicht so genannt.« Er konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass »Dörte« etwas anderes als ein Spitzname war. Nach der Knutscherei wurde ich in der Jugendherberge ins Zimmer meiner Mitschüler zitiert. »Du hast die Ehre unserer Klasse beschmutzt«, war ihr Vorwurf. Auch unser Lehrer Herr Kaminski war wenig amüsiert über mein bayerisches Abenteuer und erteilte mir einen offiziellen Tadel.

Die Oberstufe mit ihrem Kurssystem war für mich eine Befreiung. Alle Klassen mischten sich und im gesamten Jahrgang fand ich viele neue Freunde. Ich wurde Jahrgangssprecherin und im Jahr darauf mit Annette, Melanie, Harald und Carsten in einem sogenannten »Kollektiv« zur Schülersprecherin gewählt. Es war die Zeit der großen Friedensdemos gegen die Stationierung neuer Atomraketen. Wir waren voller Engagement dabei. »Weine nicht, wenn der Reagan fällt, er ist ja nur ein Westernheld. Alles, alles geht vorbei, auch die Pershing 2« und »We shall overcome …« sangen wir auf Hamburgs Straßen. Wir feierten viel, knutschten, tranken und kifften ein bisschen. Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll … Schlimm? Nein, nur ein ganz kleines bisschen schlimmer als der Durchschnitt.

Weil meine Eltern nie Urlaub machten, ich aber die Welt sehen wollte, begann ich früh, selbst Reisen zu organisieren. Mit dreizehn Jahren plante ich eine Radtour nach Dänemark mit meiner Cousine Susan und meinen Freundinnen Annette und Pascale. Die Jugendherbergen buchte ich per Post und Handys gab es noch nicht, dennoch klappte alles prima. Das Schlimmste, was uns auf dieser Tour zustieß, war der Diebstahl unserer großen Packung Schmelzkäseecken in der Jugendherberge auf Æerø. Der Anfang war gemacht und es folgten viele weitere Radtouren und später Reisen mit Interrail-Tickets und per Anhalter quer durch Europa. Mehrmals waren wir in Portugal, schliefen am Strand und lebten fast ohne Geld ganz herrlich.

Die Welt war voller Abenteuer und voll von wunderbaren Menschen. Was wir taten, war nicht immer ungefährlich und wir hatten manchmal mehr Glück als Verstand. Einige Male half uns unsere eigene Gewitztheit aus brenzligen Situationen heraus, andere Male half uns nur noch das rechtzeitige Eingreifen eines Schutzengel-Sondereinsatzkommandos. Risiken nahmen wir nicht ernst. Meine Mutter wusste, dass ich mich nicht aufhalten lassen würde, machte sich aber Sorgen. »Erzähl mir bitte nicht alles, sonst kann ich nicht ruhig schlafen«, bat sie mich. Mein Vater sagte nichts dazu. Er hatte sich schon bei der Erziehung seines zweiten Sohnes die Finger verbrannt, denn lange Haare und Rockmusik waren Ende der 60er-Jahre für einen Bauernsohn nicht akzeptabel. Mein Bruder zog mit sechzehn Jahren im Streit von zu Hause aus. Mein Vater wollte nicht noch ein Kind verlieren und ließ mich einfach in Ruhe.

Auf einem Trip per Anhalter mit meinem Mitschüler Christian lernte ich in München Paul Brady kennen. Ich hatte zunächst keine Ahnung, dass der nette Typ ein bekannter irischer Singer-Songwriter war. Ein paar Tage später in Wien sprach uns ein Schauspieler an. Er fand uns junge Vagabunden niedlich, lud uns in ein teures Restaurant ein und schenkte uns zum Abschied hundert Mark. »Mit Geld ist das Leben viel lustiger«, meinte er. Es war Dietrich Siegl, der in der Lindenstraße den Tennislehrer Stefan Nossek spielte. Meine Mutter liebte »Lindenstraße« und hielt mich später stets über das Schicksal des Tennislehrers auf dem Laufenden. Irgendwann schoss Klausi Beimer ihn aus Versehen mit einem Luftgewehr blind und dann lief er auch noch vors Auto. Zum Glück war das nur ein Fernsehschicksal.

Es gab so unendlich viel Spannendes außerhalb der Schule zu entdecken. Um in der Oberstufe weiterhin richtig gut zu sein, hätte ich in einigen Fächern stur büffeln müssen, aber das gefiel mir nicht. Ich war nur noch richtig gut in den Fächern, die mich wirklich interessierten. Ich beschäftigte mich voller Enthusiasmus mit dem Nationalsozialismus und mit Feminismus, hielt hierzu haufenweise Referate. Meinem Klassenlehrer aus der 5. Klasse, Herrn Thuma, begegnete ich in der Oberstufe als Geschichtslehrer wieder. Er hatte immer noch lange Haare und wir waren jetzt per Du. »Wie willst du mich eigentlich im mündlichen Abitur prüfen? Ich weiß doch jetzt mehr als du«, fragte ich ihn kurz vorm Abi. Das meinte ich ernst, denn wie konnte er so viel spezielles Wissen über »Frauen im Nationalsozialismus« haben wie ich?

Am meisten liebte ich meinen Deutschleistungskurs und deren Lehrerin Frau Kotarowski. Ich bewunderte sie, denn sie war unglaublich gebildet und stilvoll. Dabei hatte sie auch noch einen feinen Sinn für Humor und war trotz allem sehr dezent. Am allermeisten mochte ich das Halbjahr, in dem es um »Politische Rede« ging. Wir analysierten berühmte Reden und sollten schließlich eine eigene Rede schreiben und vortragen. Auf der Suche nach einem passenden Thema hörte ich im Radio einen Beitrag über die Pläne einer amerikanischen Schule, Schüler zu regelmäßigen Cannabistests zu zwingen. »Würde so etwas an unserer Schule geschehen, würde ich als Schülersprecherin zum Boykott dieser Tests aufrufen!«, war ich sicher. Ich hatte mein Redethema! Ich schrieb mit Feuereifer an meiner Rede gegen Generalverdacht, Kriminalisierung und Überwachung. Das Ergebnis war brillant, fand ich. Mein flammendes Plädoyer beeindruckte Frau Kotarowski dann auch total. Leider ganz anders, als ich es erhofft hatte. Sie führte im Anschluss an den Unterricht mit mir ein sehr ernstes Gespräch unter vier Augen: »Dörte, hast du ein Problem mit Drogen? Brauchst du Hilfe?« Nein! Nein und darum ging es doch auch gar nicht! Ich wusste noch nicht, dass man nie sicher sein kann, wie die eigenen Gedanken bei anderen ankommen. Mir fehlte die Erkenntnis, dass es am besten ist, sich nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen und den eigenen Weg zu gehen. So blieb mir nichts anderes übrig, als meine Begeisterung für die öffentliche Rede kleinlaut an den Nagel zu hängen.

Ein sehr besonderer Kurs in meinem Abiturjahr war der Religionskurs bei Frau Höfmann. Ich hätte diesen Kurs, wie es fast alle anderen taten, einfach abwählen können, aber meine Lehrerin lockte mich mit dem Versprechen: »Wir werden uns mit feministischer Theologie auseinandersetzen.« Da konnte ich nicht ablehnen und saß ein weiteres halbes Jahr wöchentlich zwei Stunden nur mit Thomas, Stefanie und Frau Höfmann zur Besprechung theologischer Themen zusammen. Die Literatur zur feministischen Theologie verschlang ich gierig und natürlich würde ich dazu ein Referat halten. Zu meiner Überraschung wollte auch unser Schulleiter Herr Hallberg dieses Referat hören. Keine Ahnung, was den älteren Herrn am Feminismus interessierte. In meinem Referat ging es um die These der Forschung, dass die ersten Menschen glaubten, Kinder entstünden durch die Frau allein. »Dies glaubte man deshalb, weil zwischen der Zeugung und den ersten deutlichen Anzeichen einer Schwangerschaft so viel Zeit liegt, dass der Zusammenhang nicht offensichtlich ist«, erläuterte ich diese These. An dieser Stelle hatte mein Schulleiter eine Zwischenfrage, die mich bis heute irritiert: »Also, der … ähm … Beischlaf wurde aber trotzdem vollzogen?«

Ich antwortete sachlich: »Ja, davon ist auszugehen.«

»Pinneberg ist einfach nur total hinterm Mond. Nichts wie weg von hier!«, dachte ich immer häufiger.

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut

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