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Kapitel 4: Institut für Altertumsforschung

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Paris, Oktober 2027

»Verflucht! Immer noch keine Nachricht von Nabil.« Es war ein gewöhnlicher Mittwoch im Herbst. Erst viel später erkannte Dr. Marcel Lavoisier, dass dieser Tag das Schicksal der Menschheit verändern würde. In seinem grosszügig eingerichteten Büro im westlichen Paris, in der Défense, hatte der Tag begonnen wie immer. Punkt 8:00 trat Lavoisier durch die Türe. Sein Anzug sass perfekt, seine dunkelblaue Krawatte passte ausgesprochen gut zum entsprechenden Hemd. Dies erstaunte eigentlich, denn Lavoisier verabscheute Anzüge und für Krawatten hatte er grundsätzlich nichts übrig. Aber so waren eben die Spielregeln, und Lavoisier wusste geschickt mit ihnen umzugehen. Irgendjemand hat mal gesagt, dass es im Leben nicht darum geht, gute Karten zu haben, sondern mit schlechten gut zu spielen. Und Lavoisier konnte sehr gut spielen. Seine Projektmanagerin Alice Bonmot, fünfunddreissig, seit kurzem mit einem Offizier der Luftwaffe verheiratet, attraktiv, intelligent und mit viel Charme ausgestattet, präsentierte kurz die Vorkommnisse der letzten zwei Tage.

»Marcel, das Analyseteam ist auf drei auffällige Ereignisse gestossen«, begann Alice.

»Zudem gab es an anderen Stellen eigenartige Beobachtungen«, setzte Alice ihre Zusammenfassung fort.

»Beginne mit den drei auffälligen«, bat Lavoisier.

Lavoisier nahm wie gewohnt eine Sitzposition in seinem Bürostuhl ein, die man auch als halbe Schlafstellung bezeichnen konnte. Die Beine waren lang gestreckt und die Arme liess er baumeln. Es war seine Art, sich zu konzentrieren. Dabei richtete sich sein Blick an die mit Stuckaturen verzierte Decke. Alice fragte sich oft, was er da oben wohl sehen konnte. Sie wusste allerdings auch, dass er in diesem Zustand die grösstmögliche Konzentrationsfähigkeit besass.

»Im Ngorongoro Krater verschwand ein Wildhüter samt Jeep, nachdem eine aus fast 10‘000 Gnus bestehende Herde sich im Kreis zu drehen begann. Dazu kam eine riesige Gewitterfront. Weisst du, wo der Ngorongoro…«

»Im Serengeti Nationalpark in Tansania«, kam er ihr zuvor.

»Ja, genau«, antworte Alice.

»Dann haben wir am Great Blue Hole einen verrückt gewordenen Barrakudaschwarm, der sich im Kreis angeordnet haben soll. Dazu soll das Meer kurz wie eine geschüttelte Cola-Flasche gesprudelt haben. Danach waren vier amerikanische Taucher spurlos verschwunden, ebenso die Barrakudas.«

»In Belize also«, sagte Lavoisier.

»Barrakudas sind Einzelgänger, sehr speziell«, sagte er mehr zu sich selbst.

Anschliessend fasste Alice die Ereignisse von Stonehenge zusammen. Sie ging natürlich davon aus, dass er schon im Bilde war, was er auch mit einem Nicken bestätigte.

»Schon speziell, fast wie zwei Sonnen am Himmel«, sagte er.

»Was gab es sonst noch?«, fragte er sie.

»Über dem Uluru, also früher Ayers Rock genannt, im Herzen Australiens entstand für kurze Zeit mitten am Tag ein Tornado, der sich wieder in nichts auflöste.«

»Weiter«, sagte Lavoisier.

»Die Moschee des Sultan Hasan in Kairo leuchtete konzentrisch wie ein silberner Strahlenkranz.«

»Für wie lange?«, wollte er wissen.

»Für etwa fünf Minuten«, antwortete sie.

Für einen Augenblick wanderte Lavoisiers Blick von seinem imaginären Punkt an der Decke auf seinen aus Eichenholz bestehenden Bürotisch, zu einer Sandsteinkopie eines Gargoyles, eines jener magischen, geflügelten Wesen, die tagsüber Steinstatuen sind, bei Sonnenuntergang jedoch zum Leben erwachen und bei Sonnenaufgang wieder zu Stein werden. Auch stand eine aus Alabaster gefertigte Horusfigur, die leicht gelblich zu schimmern schien, daneben. Jener altägyptische Hauptgott, der meistens mit einem Falkenkopf dargestellt wurde. Alice wusste, dass alles, was mit Ägypten zu tun hatte, ihn immer betroffen machte. Er liess sich allerdings nichts anmerken. Jedoch entging ihr dies nicht.

»Sonst noch was?«, fragte er.

»Ja, es gab noch eine kreisrunde, fast hundert Meter breite, senkrecht abfallende Eintiefung in Sibirien. Sieht aus wie ein riesiger Zylinder im Boden. Weiter brennt es plötzlich wie aus dem Nichts aus einem kreisrunden, neuentstandenen Loch an einer Bergflanke in Peru«, sagte sie.

»Du hast noch was für mich, so wie du da sitzt«, bemerkte Lavoisier.

»Genau, über dem Yellowstone Nationalpark Park schwebte für kurze Zeit eine perfekte Wolkenkugel. Das ist alles«, beendete sie die Zusammenfassung.

Schnell analysierte Lavoisier die Ereignisse. Er stellte noch einige präzisierende Fragen und nickte von Zeit zu Zeit bestätigend mit dem Kopf.

Dr. Marcel Lavoisier war ein pragmatischer Realist, ein Macher und mit 39 Jahren zurzeit das jüngste Mitglied der Académie des Sciences, der Akademie der Wissenschaften. Seine Erfolgsquote war nahezu hundert Prozent und ihm wurde deshalb nachgesagt, er habe die Begabung, Dinge vorherzusehen. Ältere Kollegen schrieben dies mehr der Kombinationsfähigkeit, dem vernetzten Denken und dem unbändigen Willen zu, seine Ziele zu erreichen. Sein Leistungsausweis konnte sich mehr als sehen lassen. Nach dem Abitur studierte er Philosophie an der Sorbonne. Aus Wissensgier, wie er später meinte. Nach einem Studienaufenthalt in Ägypten, dem Irak und Syrien promovierte er anschliessend in Harvard zum Doktor der Astrophysik. Aus diesem Grund verliehen ihm seine Freunde den Spitznamen Galilei, obwohl er nicht Italiener, sondern Franzose war. Es waren seine überdurchschnittliche Intelligenz und seine einzigartige Fähigkeit, in kürzester Zeit die entscheidenden Problemstellungen zu erkennen, entsprechende Massnahmen einzuleiten und Anweisungen umzusetzen, welche letztlich den Ausschlag zur Beförderung zum Generaldirektor des Institutes für Altertumsforschung vor drei Jahren gaben. Dies war die offizielle Bezeichnung der Institution. In Tat und Wahrheit war das Institut eine dem Geheimdienst und somit direkt dem Innenminister unterstellte Forschungsabteilung, welche unerklärliche Phänomene und Ereignisse sowohl in der Gegenwart, als auch in der Vergangenheit erforschte. Er war unverheiratet und kinderlos, aber man sah ihn des Öfteren in Begleitung von sehr attraktiven Frauen. Aber eine Beziehung im engeren Sinne hatte er nie, wollte er nie. Im Institut ging schon länger das Gerücht um, dass er früher eine komplizierte Beziehung zu jemand aus dem arabischen Raum hatte. Er beherrschte neben verschiedenen anderen Sprachen auch das Arabische, was nicht immer allen gefiel. Die über neunzig Mitarbeitenden wussten, dass es besser war, ihn nicht auf seine Zeit in Ägypten, Irak und Syrien anzusprechen, sofern man keinen Ärger mit ihm haben wollte.

»Wie haben die Medienkonzerne auf die verschiedenen Ereignisse reagiert? Gibt es Stellungnahmen der einzelnen Regierungen? Und was spielt sich in den sozialen Medien ab?«, wollte Lavoisier wissen.

»Wie üblich versuchen die Regierungen, dies alles auf natürliche Phänomene oder Versuche wie Wetterballone zu reduzieren. Die Anhänger von Verschwörungstheorien geben ebenso gewohnt ihre Ansichten der Ursachen bekannt. Also alles wie seit Roswell schon gewohnt«, antwortete Alice.

»Haben die da draussen irgend eine Theorie?«, wollte er wissen.

»Nicht im Geringsten. Die verschiedenen Gruppieren konzentrieren sich auf einzelne Ereignisse. Ein Zusammenhang wird zurzeit nicht vermutet«, antwortete sie.

»Haben wir schon eine Theorie?«, fragte er.

»Noch nicht, aber es ist auffällig, dass überall ein Kreis eine Rolle zu spielen scheint.«

»Gibt es Aussagen über den exakten Zeitpunkt der Ereignisse?«, fuhr Lavoisier fort.

»Das ist genau der springende Punkt«, sagte Alice.

Lavoisier starrte wieder seinen imaginären Punkt an der Decke an, dachte kurz nach und sagte »Lass mich raten! Alles geschah innerhalb von wenigen Minuten überall gleichzeitig auf der Erde?«

Dass Lavoisier mit seiner Frage genau ins Schwarze getroffen hatte, erstaunte sie nicht. Er hatte einfach so eine spezielle Art, an Dinge heranzugehen. Manchmal empfand sie dies als unheimlich, wie wenn er schon im Voraus wüsste, worum es eigentlich ginge.

»Ja, unsere Recherchen haben ergeben, dass alle Ereignisse innerhalb kurzer Zeit geschehen sind«, sagte sie.

»Aber unsere Spezialisten haben keine Ahnung«, was nicht als Frage, sondern mehr als eine Feststellung klang.

»Ja, das ist so, aber wir arbeiten daran.«

»Was hältst du persönlich davon?«, fragte er Alice.

Lavoisier wusste, dass Alice ausserordentliche Fähigkeiten besass, die weit über das normale Management solcher Spezialprojekte hinaus gingen. Sie war für ihn oftmals ein Buch mit sieben Siegeln. Einerseits war sie der Inbegriff von verstandesmässigem Denken und Handeln. Anderseits konnte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, alle Fakten über den Haufen werfen und aus dem Bauch heraus Entscheide fällen. Dabei lag sie nie daneben. Lavoisier mochte das an ihr, obwohl es ihn manchmal verzweifeln liess.

»Ich denke, dass die Ereignisse zusammengehören. Sie sind unnatürlich, und jemand oder etwas steckt dahinter. Aber wer oder was?«

»Gut«, sagte Lavoisier, »das war dein Verstand, der geantwortet hat. Was sagt dir dein Bauchgefühl?«

»Hmm, ich habe irgendwie ein mieses Gefühl. Sollte es tatsächlich einen Zusammenhang geben und jemand dahinterstecken, dann bedeutet das wohl nichts Gutes. Die Dimension, in dem sich alles abspielt, die zeitliche Koordination, das dahintersteckende Muster, das alles gefällt mir ganz und gar nicht. Da geschieht etwas ganz Grosses«, antwortete sie in ihrer offenen und vertrauten Art, die Lavoisier an ihr so schätzte. Oftmals dachte er, was wohl aus ihnen geworden wäre, hätte er auf ihre Avancen anders reagiert. Aber er konnte einfach nicht. Zu nahe lagen die anderen Ereignisse zurück.

»Was sind deine Schlussfolgerungen?«, fragte sie ihn.

»In etwa dieselben wie deine. Es ist wichtig, dass wir das Ganze im Auge behalten. Mögen die Regierungen, die Medien und die Verschwörungstheoretiker sich nur für einzelne Ereignisse interessieren, wir müssen aber alles im Blickfeld behalten«, sagte er.

»Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Alice.

»Ich möchte, dass du für mich ein paar Dinge erledigst«, sagte er.

»Ich nehme an, dass es in Tansania und in Belize Augenzeugen gab. Ich möchte mit ihnen sprechen. Ich möchte aber, dass kein Staub aufgewirbelt wird. Zudem möchte ich von unseren internen IT-Spezialisten in Erfahrung bringen, ob es im Vorfeld entsprechende Auffälligkeiten gab. Ich will eine Zugriffsanalyse über den Ngorongoro Krater, das Great Blue Hole und Stonehenge für die letzten drei Monate und zwar in geografischer, religiöser und sprachlicher Aufschlüsselung.«

»Werde ich sofort veranlassen«, erwiderte sie.

»Ich bin für die nächsten zwei Stunden nicht zu sprechen« sagte er.

»Ich weiss«, war die kurze Antwort von Alice.

Sie lächelte und sagte: »Nachdem gestern diese Meldungen eingetroffen waren, habe ich für dich bis Mittag vorsorglich alle Termine verschoben.«

Lavoisier nickte kurz und dachte, wie wichtig doch Alice für ihn war. »Danke« erwiderte er. Er setzte sich zu seinem mit Unterlagen bedeckten Schreibtisch und wartete, bis Alice das Büro verlassen hatte.

»Warum immer wieder Ägypten, und was spielt die Moschee des Sultan Hasan in Kairo für eine Rolle? Muss mich die Vergangenheit immer einholen?«

Er starrte eine Weile seine Sandsteinkopie des Gargoyles an und hatte das Gefühl, dass ihn das Ganze oder ein Teil davon an etwas erinnerte. Es war mehr ein Bauchgefühl. Aber er konnte diesen dünnen Faden der Erinnerung nicht greifen. Er spürte aber, dass es wichtig war. Nach einer Viertelstunde rief er Alice über das interne Kommunikationssystem an.

»Kannst du schnell in mein Büro kommen?«

»Da bin ich schon, was gibt’s Neues?«, fragte sie.

»Wie hiess gleich schon wieder der Journalist, der die Geschichte in Stonehenge im Fernsehen brachte?«, fragte er sie.

»Baker Edward«, antwortete sie.

»Er hatte einen tragischen Autounfall«, ergänzte sie.

»Das habe ich auch gelesen. Er hat die Bilder aufnehmen können, als er in Stonehenge war.«

»Alice, darf ich dich mal was fragen? Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Journalist, der sein Geld hauptsächlich mit Enthüllungsberichten verdient, ausgerechnet an diesem Tag in Stonehenge ist und zufälligerweise sieht, was sich am Himmel abspielt, und dann noch geistesgegenwärtig einige Bilder davon schiesst?«

Sie nickte und fragte ihn: »Eilt es?«

»Ja, sehr. Höchste Priorität!«

Schon bevor Lavoisier den Satz fertig gesprochen hatte, wusste sie, worauf er hinaus wollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Edward Bakon alleine gehandelt hatte, strebte gegen Null. Also war die Chance gross, dass auch noch jemand anderes davon wusste. Dass nach einer solchen Enthüllung der Journalist einen tödlichen Autounfall hatte, war zwar bedauerlich, aber rein mathematisch betrachtet absolut unwahrscheinlich.

»Du denkst, dass die andere Person sich in grosser Gefahr befindet? «

»Ja, das denke ich«, sagte Lavoisier. »Denn wenn wir darauf gekommen sind, dann werden diejenigen, die den Autounfall inszeniert haben, auch bald darauf kommen, wenn sie es nicht schon vermuten.«

»Wir werden die Person finden«, versicherte sie ihm.

»Gut«, war seine knappe Antwort.

Alice wollte sein Büro verlassen. Lavoisier rief ihr kurz zu, dass ihn etwas beschäftigte und an irgendetwas erinnerte, er es aber nicht greifen konnte. Deshalb werde er das Institut verlassen. Sie nickte und fragte nur:

»Die Métro?«

»Ja«, antwortete er, erhob sich und ging.

Wie immer in solchen Situationen verliess er das Institut, um in die Métro einzutauchen. Er ging zum nächsten Kiosk, der vor dem Institut und unmittelbar vor dem Treppenabgang zur Métrostation stand.

»Hallo Charles«, begrüsste er den Kioskinhaber, den er schon lange kannte.

»Hallo Marcel«, ertönte es freundlich. »Wie kann ich dir behilflich sein?«

»Ich brauche geistige Nahrung.«

»Aha, wie viele Comics sollen es diesmal sein?

»Ich werde zwei Stunden unterwegs sein.«

»Métro, wieder so eine Nachdenkübung?«, fragte Charles.

»Ja, sowas in der Art.«

»Da habe ich was für dich«, sagte Charles.

Er mochte Charles. Er hatte zwar ein einfaches Gemüt aber ein grosses Herz, aber auch eine enorme Lebenserfahrung. Niemand wusste genau, wie alt er war. Aber er dürfte über 70 Jahre auf dem Buckel haben. Ihm konnte niemand etwas vormachen. Er war sowas wie der Beichtvater in diesem Quartier. Wenn man Probleme hatte, ging man zu Charles. Der hatte immer einen guten Ratschlag, und die Leute waren dankbar dafür. Er war einer von ihnen. Er stammte ursprünglich aus der Kleinstadt Cassis, die etwa 30 Kilometer östlich von Marseille am Mittelmeer liegt. Obwohl er schon sehr lange in Paris lebte, konnte man anhand der Art, wie er das »r« aussprach oder, besser gesagt, rollte, seine südfranzösische Herkunft erkennen. Charles bat ihn vor einigen Jahren um Unterstützung. Sein Neffe hatte einige Schwierigkeiten mit der Polizei. Im Grund der Dinge Banalitäten, aber es sah plötzlich nicht mehr so gut aus. Lavoisier nahm sich seiner an und sorgte dafür, dass sein Neffe glimpflich davon kam. Charles versicherte ihm, dass, wenn er jemals in Schwierigkeiten sei, er ihm jederzeit zur Verfügung stehen werde, egal, was es wäre. Es war auch Charles, der ihm seinerzeit empfahl, es mit Alice zu versuchen. Er verstand nicht, dass er nicht auf ihre Bemühungen einging. Er wusste, dass Charles zwischendurch mit Alice sprach, um herauszufinden, ob nicht doch was zwischen ihnen beiden am Laufen war.

»Wie wärs mit ‚Die Verschollenen von Alpha 14‘?«, fragte Charles.

»Tönt abwechslungsreich«, meinte Lavoisier.

»Nein, zu durchschaubar«, sagte Charles. »Du brauchst was Kniffliges, Herausforderndes.«

»Nur Science-Fiction-Comics?«, fragte er nach.

»Ja und nochmals ja.«

Lavoisier hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, immer nur Science-Fiction-Comics zu lesen, wenn er das Gefühl hatte, er erinnere sich an etwas, aber er es nicht aus den Tiefen des Gedächtnisses heraufholen konnte. Sie wirkten inspirierend und ausgleichend zugleich auf ihn. Oftmals gelang es ihm mit dieser Methode, sich wieder an das Gesuchte zu erinnern.

»Dann empfehle ich dir ‚Das Ende der Zukunft‘ und ‚Heute ist gestern‘. Beides hat mit Zeitreisen oder sowas zu tun.«

»Ich nehme sie, was bin ich dir schuldig?«, fragte Lavoisier

»Nichts«, war die Antwort von Charles.

»Ich weiss, dass du nie etwas willst. Aber ich werde sie bezahlen.«

Er legte eine 10 Euronote auf die Verkaufsplatte, bestellte noch Kaugummi mit Minzengeschmack und nahm die beiden Comics.

»Machs gut, mein lieber Freund«, sagte er zu Charles.

»Du auch, und hoffentlich wirkt die Medizin. Er bezeichnete die Comics für Lavoisier immer als Medizin. Das war so eine Angewohnheit von ihm.

»Schliesslich helfen sie gegen Vergesslichkeit«, sagte er oftmals.

Als Lavoisier die Treppe zur Métro hinabstieg, dachte Charles für sich: »Was wäre wohl aus meinem Neffen ohne Lavoisier geworden?« Aber der Gedanke wich augenblicklich, denn eine Kundin, die etwas ungeduldig wirkte, wollte bedient werden.

Lavoisier bestieg die Zugkomposition, welche auch zu dieser Zeit gut gefüllt war. Er nahm so Platz, dass er seitlich zur Fahrtrichtung sass. Der Geruch von abgestandener und leicht nach Schweiss riechender Luft verlieh ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Die Hektik der vorbeieilenden Menschen schien ihn zu beruhigen. Auch die in den Stationen übergrossen, ins halbrunde Tunnelgewölbe eingepassten und mit einem goldfarbenen Rahmen versehenen Werbeplakate gefielen ihm. Er fühlte sich wohl in der Pariser Métro. Was man von den meisten Menschen nicht behaupten konnte. Er sass so, dass er immer die weiss geschriebenen Namen der Stationsschilder auf blauem Hintergrund ablesen konnte. Einmal versuchte er einen vertrackten Fall zu lösen, aber ihm fehlte der entscheidende Einfall. Er spürte, dass er der Lösung sehr nahe war, aber der notwendige Durchbruch wollte ihm nicht gelingen. Damals setzte er sich in die Métro und fuhr ziellos umher. Dann blieb der Zug an der Station Bolivar im 19. Arrondissement stehen. Er las den Namen, und augenblicklich wurde im alles klar. Er wusste, dass es ein für die Aufklärung notwendiges Dokument aus dem 15. Jahrhundert in Privatbesitz war. Jedoch hatten alle Recherchen keinen Hinweis auf den Besitzer ergeben. Er wusste aber, dass er vor Jahren an einem unbedeutenden Anlass den gesuchten Namen gehört hatte. Die Station hatte ihren Namen in Erinnerung an Simón Bolívar, auch »El Libertador« genannt, erhalten. Bolívar galt als Held der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege. Der Verehrer Napoleons führte die südamerikanische Unabhängigkeitsbewegung gegen die spanischen Kolonialherren in mehreren mittel- und südamerikanischen Staaten an.

Lavoisier wusste, dass Bolívar eine Geliebte hatte, welche den Namen Manuela Sáenz trug. Sie war ebenfalls Freiheitskämpferin und galt als erste Feministin des amerikanischen Kontinents. Er leitete daraus ab und erinnerte sich plötzlich an den Namen des Besitzers. Victor Sáenz! Drei Tage später war der Fall aufgeklärt. Seither wandte er von Zeit zu Zeit seine Métromethode an, und der Erfolg gab ihm irgendwie Recht, obwohl niemand genau erklären konnte, warum es funktionierte. Lavoisier war es egal, warum es funktionierte. Hauptsache, es funktionierte.

»Ich werde also für die nächsten zwei Stunden unterwegs sein«, dachte er, während er sich seinem ersten Comic‘Das Ende der Zukunft‘ zu widmen begann. Obwohl er sich mit 39 Jahren noch nicht alt fühlte, spürte er die etwas argwöhnischen Blicke der Métrofahrer, die sich insgeheim zu fragen schienen, weshalb ein so alter Mann noch Comics las. Aber das kümmerte ihn nicht. Ganz im Gegenteil amüsierte ihn dieser Gedanke.

»Sollen sie doch denken, was sie wollen«, dachte er.

Lavoisier hatte noch nie viel auf die Meinung anderer gegeben. Er ging zielstrebig seinen Weg. Und wenn dieser mit Comics durch die Pariser Métro führte, dann war das halt so. Punkt. Aus.

‚Das Ende der Zukunft‘war ein Science-Fiction-Roman, worin es hauptsächlich um die Fragestellung der Zeitreise ging. Lavoisier überflog die Texte, denn seine Aufmerksamkeit lag wie gewohnt bei den Bildern. Sie hatten etwas Inspirierendes an sich. Er mochte die gezeichneten Figuren und Objekte, die bei ihm immer eigene Fantasien und Vorstellungen auslösten. Das mochte er an den Science-Fiction-Romanen.

»Sind Zeitreisen eigentlich möglich?«, dachte er nicht zum ersten Mal über dieses Thema nach. Obwohl er Physik studiert hatte und so gut wie alle Theorien darüber kannte, war er sich bis heute nicht im Klaren, ob eine Zeitreise möglich sei.

»Hat das Ereignis von Stonehenge etwas damit zu tun? Und die anderen? Was spielt der Kreis für eine Rolle?«, fragte er sich selber.

Lavoisier tat es wie immer in der Vergangenheit: Wenn die Métro an der nächsten Station hielt, schaute er das Stationsschild an und liess seinen Gedanken freien Lauf. Sein Gefühl gab die Richtung vor. Auch entschied er spontan, ob er auf eine andere Linie umsteigen wollte, was er mehrfach tat. Die Zeit verging, aber eine wirkliche Erinnerung, die helfen könnte, kam nicht zum Vorschein. Manchmal glaubte er, sich an etwas zu erinnern, aber der Gedanke verflüchtige sich wieder, bevor er ihn greifen konnte. Es erinnerte ihn an eine fallende Schneeflocke, die, bevor man sie richtig greifen konnte, schon wieder weggeschmolzen war.

Er wusste, dass da was war. Aber es wollte ihm nicht einfallen. Wieder wechselte er die Linie und begann mit dem zweiten Comic-Heft. Das Ende des ersten konnte ihn nicht überzeugen. ‚Heute ist gestern‘ tönte zumindest spannend. Im Comic gab es eine Zeichnung einer roten Sonne. Da war es wieder dieses flüchtige Gefühl, er spürte, dass er ganz nah an der Erinnerung war. Aber auch diesmal verflüchtigte es sich, wie das Parfum einer vorbeigehenden Frau. Es war ein Erinnerungsfetzen, aber er war nicht zu greifen. Lavoisier begann sich zu ärgern. Er war sicher, dass es da war, aber der Zugriff auf seine Festplatte, wie er manchmal spasseshalber sagte, wollte einfach nicht gelingen. Schon bald waren die zwei Stunden vorbei, und er musste wieder zurück ins Institut. Sollte diesmal seine Métromethode versagt haben? Es schien so. Enttäuscht stieg er die Treppen hoch und als er die Station La Défense, welche von der Métrolinie 1 bedient wurde, verliess, um wieder ins Institut zurückzukehren, blendete ihn die tiefliegende Herbstsonne und spiegelte sich an einem Werbefenster. In diesem Augenblick kam die Erinnerung zurück.

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