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4 Vermeintlicher Durchbruch

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Die Frau, die an der Haltestelle Schiffbau aus dem Vierer Tram stieg, war hochgewachsen und etwas zu hager. Ihr halblanges, fransig geschnittenes, rostbraunes Haar war von feinen, grauen Strähnen durchzogen. Sie trug eine weite, beige Wolljacke und hautenge, schwarze Jeans, die sich satt an ihre dünnen Beine anschmiegten. Von weitem sah sie aus wie eine magersüchtige Gymnasiastin, war aber über dreissig Jahre alt. Céline Durand ging unter der Hardbrücke zur Viaduktstrasse und bog in eine der Sackgassen in diesem Labyrinth alter Häuser und Schuppen ein. Die «KOKI», bei der sie arbeitete, befand sich in einem zweistöckigen Ziegelbau. Von aussen sah das Gebäude schäbig aus, doch innen war es frisch renoviert worden und verfügte nun über moderne Heizung und Lüftung, ein ausgeklügeltes Alarmsystem und elektronische Zugangskontrolle.

Céline wollte eben ihren Zeigefinger auf das Touchpad legen, um die Tür zu entriegeln, als diese von innen aufgerissen wurde. Es war ihr Arbeitskollege Otto, der sie am Arm packte und mit sich zog: «Komm mit, ich muss dir etwas zeigen.» Er zog sie zu den Tierställen, im Untergeschoss. Aus Rücksicht auf die Allergie des Chefs war ein separater Eingang auf der zum Bahndamm gerichteten Seite des Gebäudes eingerichtet worden.

Ihr Kollege war aufgeregt. Céline fühlte, wie seine Hand zitterte, und sein sonst peinlich genau gebündelter Haarknoten war zu einem lächerlichen Pferdeschwanz ausgefranst. Angesichts dieser bedenklichen Anzeichen und der Tatsache, dass Otto sie zum Tierstall führte, befürchtete Céline, dass mit den Mäusen etwas nicht in Ordnung sei. «Und oder Gatz?», fragte sie in ihrem französischen Akzent.

Otto blieb stehen und sah sie verständnislos an, bis ihm dämmerte, was sie sagen wollte. «Weder Hund noch Katze sind bei den Mäusen eingebrochen», erwiderte er lachend, «aber es sind sehenswerte Jungtiere zur Welt gekommen. Mein Experiment hat funktioniert!»

Sie hatten ihr Ziel erreicht und traten ein. Vor einer Reihe von Mauskäfigen blieb Otto stehen und deutete auf die noch spärlich behaarten Mausbabys, die im Sägemehl herumkrabbelten. «Da sind graue Tiere dabei!»

Das war allerdings bemerkenswert. Céline wusste, dass Otto seit Monaten versuchte, das Transportprotein dahingehend zu verändern, dass es auch in Mäusen, und somit wahrscheinlich auch im Menschen funktionierte. Er hatte Monate damit verbracht, Signale ausfindig zu machen, die von Rezeptoren an der Oberfläche von Eizellen der Maus erkannt würden. Das Problem bestand darin, dass bei den Säugetieren keine Proteine bekannt waren, die in wachsende Eizellen transportiert wurden. So konnten auch keine Signale, die eine Bindung an diese Zellen vermittelt hätten, daraus abgeleitet werden. Als Alternative hatte Otto unzählige synthetische, mit fluoreszierenden Stoffen markierte Peptide in den Blutkreislauf von Mausweibchen eingespritzt. Leider wanderte keiner dieser Marker in die Eizellen. Schliesslich versuchte er, die Gene via den Follikel einzuschleusen, der die Eizelle umgab und durch kleine Kanäle mit ihr verbunden war. Er erwartete, dass auf diesem Weg auch DNA von den Zellen des Follikels in die Eizelle gelangen könnten. Célines Einwand, dass nur kleine Moleküle wie Ionen und Nährstoffe, nicht aber das Transportprotein mit angehängter DNA, diese engen «Gap Junctions» passieren konnten, hatte er ignoriert.

Nun, anscheinend hatte Otto rechtbekommen, was Céline allerdings ernstlich bezweifelte. Entsprechend kritisch musterte sie die mehr als fünfzig kleinen Mäuse, die von den zehn Weibchen zur Welt gebracht worden waren. Sie nahm jedes einzelne Jungtier in die Hand, führte es nahe vor die Augen und prüfte es sorgfältig. Sie wusste genau, wonach sie suchte, hatte sie doch dem in genetischen Aspekten etwas unbedarften Kollegen geholfen, die Versuchsanordnung zu entwerfen.

Um ein bestimmtes Gen auszuschalten, wurde gewöhnlich ein Genkonstrukt eingeschleust, das aus zwei langen Abschnitten des angepeilten Gens, und einem dazwischen eingeklemmten Marker bestand, der ein fluoreszierendes Protein produzierte. Durch den Einbau des fremden DNA Segments, wurde das angezielte Gen inaktiviert und die Technik deshalb «knock-out» genannt. Mittels eines ähnlichen Vorgehens, dem «knock-in», konnte anstelle eines Markers eine normale Genregion anstelle der defekten eingesetzt werden.

Der Austausch zwischen DNA Strängen des zu korrigierenden Gens und der funktionierenden Spender DNA wurde durch die Zugabe einer aus Bakterien isolierten Genschere, CRISPR-Cas9, erleichtert. Die CRISPR RNA reagierte mit einer bestimmten Stelle im angepeilten Gen und das Cas9 Protein durchschnitt die DNA Anhang III, was die genetische Rekombination förderte Anhang IV. Kürzlich hatten sie im Labor einen Weg gefunden, die Chancen für einen erfolgreichen Genaustausch mit der Shuttle Technik bedeutend zu erhöhen und nicht nur das Gen, das man einbauen wollte, sondern auch CRISPR-Cas9 an das Transportprotein anzudocken. Ein Segment des Shuttles entsprach Streptavidin, einem bakteriellen Protein, das Biotin bindet. Biotin konnte in die Enden von DNA aber auch RNA Molekülen eingebaut werden. Die RNA von CRISPR-Cas9 war bei der Synthese leicht verlängert und an ihrem Ende ein biotinyliertes Nukleotid eingebaut worden. Die derart veränderte Genschere wurde nun ebenfalls an das Transportprotein gebunden und in die Eizelle eingeschleust.

Diese neue Technik war von Otto in seinem Versuch verwendet worden. Die Mutation, die er korrigieren wollte, hiess Pax6AEY11. Das normale Pax6 Gen spielte eine Rolle in der Entwicklung der Augen, aber auch zahlreicher anderer Organe. Tiere mit einem defekten Pax6AEY11 und einem normalen Pax6 Gen überlebten, bildeten aber nur kleine Augen aus. Wenn das Gen auf beiden Schwesterchromosomen defekt war, starben die Föten vor der Geburt. In Ottos Versuchsanordnung trugen die Elterntiere zwei rezessive letale Gene, Pax6AEY11 auf einem der beiden Chromosomen 4 und AgoutiYellow auf dem anderen. Der Pelz von Mäusen mit einem AgoutiY Allel war gelb. Tiere mit zwei AgoutiY Kopien starben bereits als Föten.

Céline kannte die Testkreuzung Anhang V, bei welcher ein defektes Gen beim Weibchen korrigiert werden sollte, und wusste auch, welche Nachkommen zu erwarten waren. Die Elterntiere waren gelb mit kleinen Augen. Von ihnen konnten nur Jungtiere hervorgehen, die gleich aussahen, wie die Eltern. Wenn aber in der Keimbahn des Weibchens das defekte Pax6AEY11 Gen durch ein normales Pax6 Allel ersetzt wurde, so konnten auch gelbe Mäuse mit grossen, sowie graue Tiere mit kleinen Augen entstehen. Der Pelz der erst ein paar Tage alten Jungtiere war noch spärlich, doch die gelbe und schwarze Färbung war deutlich unterscheidbar.

Céline liess sich bei ihrer Inspektion reichlich Zeit, die Augen zu mustern und Otto begann, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. «Ich habe schon lange genug warten müssen, bis ich die Haarfarbe habe unterscheiden können. Jetzt möchte ich endlich ein Kompliment hören.»

«Entschuldige, mir ist einfach die Sprache weggeblieben. Ich habe nie geglaubt, dass der Transport durch die Follikel Zellen funktionieren würde. Félicitations!» Céline versuchte, die Bedenken, die sie hegte, nicht durchschimmern zu lassen. Etwas stimmte nicht, doch das musste sie sorgfältig prüfen, bevor sie auf ihre Zweifel zu sprechen kam. So spielte sie das Spiel mit: «Wann stossen wir auf deinen Erfolg an?»

«Ich lade dich auf einen Drink in die Bar des Prime Tower ein.»

«Kommt nicht infrage! Wenn du mit diesem Erfolg unsere Bude vor dem Ruin gerettet hast, so ist es an mir, dich einzuladen», protestierte Céline und fügte bei: «Hast du Fred informiert? Er will in Basel mit Investoren reden und ein Trumpf im Ärmel könnte ihm dabei helfen.»

«Ich habe ihm ein E-Mail geschrieben. Er ist begeistert, kommt aber erst übermorgen zurück. Ich soll meine Resultate am Nikolaustag vortragen. Am Abend lädt er uns auf ein nobles Nachtessen ein.»

Céline hoffte inständig, dass ihre geplanten Nachforschungen ihnen den Appetit nicht verderben würden.

Fatale Manipulation

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