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6 Vitamin B
ОглавлениеZur Feier des neunzigsten Geburtstags der Grossmutter hatte sich die Familie Durand in der «Domaine de Châteauvieux» in Satigny zu einem Festessen versammelt. Üblicherweise fanden solche Anlässe in bescheidenerem Rahmen statt, doch der neue Freund von Célines zehn Jahre älteren Cousine Eliane wollte seinen ersten Auftritt in der Durand Familie würdig gestalten und hatte die Geburtstagsfeier nach seinem Geschmack – und auf seine Kosten – organisiert.
Céline musterte neugierig Elianes sympathischen, ziemlich schwergewichtigen Freund, und ihre Mutter flüsterte ihr zu, er sei als Investor tätig und habe unglaublich viel Geld mit Immobiliengeschäften im Bassin lémanique gemacht. Gerüchten zufolge habe er einmal eine Liegenschaft am See für vierzig Millionen gekauft und zwei Monate später für das Dreifache wieder verhökert – und das sei nicht der einzige derartige Streich gewesen.
Das Essen war ausgezeichnet. Céline, die sich im Labor oft von Schinkenbroten ernährte, war es sich nicht gewohnt, reichhaltige Menüs zu verzehren und hatte das Bedürfnis, vor dem Dessert eine Zigarette zu rauchen. Im Hinausgehen zog sie ihr Feuerzeug und die Zigaretten aus der Handtasche. Der neue Freund Elianes bemerkte dies und folgte ihr. Im Raucherzimmer bat er den Kellner, zwei Armagnac zu servieren, und als Céline abwinkte, versicherte er: «Das ist gut für die Verdauung, und wenn du ihn nicht magst, trinke ich ihn.» Er setzte sich zu ihr, köpfte gekonnt eine Zigarre und zündete sie sorgfältig an. Nach den ersten Zügen brach er das Schweigen: «Wir sind noch nicht dazugekommen, uns kennenzulernen. Ich heisse Pierre Jaccard. Eliane hat mir gesagt, du seist Céline und würdest als Biologin in Zürich arbeiten, konnte mir aber nicht sagen, auf welchem Gebiet. Wie viele Aussenstehende nimmt sie wohl an, dass du Vögel beobachtest oder Ameisen zählst.»
«Nicht ganz! Ich bin Molekularbiologin und versuche mich in der biomedizinischen Forschung.»
«Das tönt interessant. Erzähl mir, worum es geht.»
«Ich arbeite in einem Start-up …» Céline zögerte und überlegte, wie sie einem völligen Laien ihre Arbeit erklären solle. Die Schwierigkeit bestand nicht darin, die Fragestellung und die Logik zu übermitteln, sondern in den vielen Fachausdrücken, die für die meisten Laien unverständlich waren und sie verwirrten. «Mein Chef hat ein Patent angemeldet betreffend ein Protein, das Gene selektiv in bestimmte Zelltypen transportiert», bemerkte sie einleitend.
Sie wollte zu einer längeren Erklärung ansetzen, doch Pierre unterbrach sie: «Dann heisst dein Chef Fred Sutter, und es geht um das Protein, das DNA bindet und in den Kern von Eizellen im Eierstock lebender Weibchen transportiert. Ich habe letzthin Sutters Patentanmeldung studiert, sehr interessant. Hat er inzwischen herausgefunden, wie er sein Gen-Taxi in Eizellen von Säugern hineinbringt?»
Céline brauchte eine Weile, ihre Überraschung zu überwinden. «Nein, wir haben es lange versucht, aber es ist uns noch nicht gelungen.» Sie hütete sich, Pierre von Ottos Betrug zu erzählen, und beschränkte sich auf die Aussage: «Es sind leider noch keine Liganden bekannt, die sich an Säuger Eizellen andocken und von diesen aufgenommen werden.»
«Schade, das wäre kommerziell wichtig. Die paar Franken, die Sutter von der ‹RareMed› für die Patentnutzung erhalten hat, sind ja nur ein Tropfen auf einen heissen Stein.»
«Du kennst dich besser aus als ich, zumindest in finanziellen Belangen. Wie kommst du dazu, Pierre?»
«Nun, ich finanziere bevorzugt biomedizinische Start-ups, und die ‹RareMed› ist eines davon.»
«Oh, da lade ich dich herzlich ein, uns einen Besuch in der ‹KOKI› abzustatten. Sutter sucht dringend einen neuen Investor.»
«Nicht so eilig. Zuerst möchte ich wissen, wie eure Projekte vorankommen. Die Unterlagen, die Sutter mir geschickt hat, sind schon ein paar Monate alt.»
Jetzt brauchte Céline nicht mehr so behutsam vorzugehen und erklärte, dass sie mit dem Transportprotein nicht nur Gene, sondern neuerdings auch CRISPR-Cas9 Genscheren gezielt in bestimmte Zellen von Organen adulter Tiere einbringen konnten. Von ihren Versuchen, mit diesem Verfahren gezielt Krebszellen zu töten oder ihr Wachstum zu hemmen, wollte sie im Moment keine Einzelheiten preisgeben und deutete das Vorhaben nur an.
Jaccard konnte nicht weiter insistieren, denn Eliane steckte ihren Kopf ins Raucherzimmer und meckerte: «Natürlich, Alkohol, Zigarre, und meine kleine Cousine! Ihr seid schon seit einer halben Stunde weg, die Ansprache und Fotoschau zu Ehren von Mémé habt ihr verpasst und wenn ihr nicht bald zurückkommt, kriegt ihr kein Dessert.»
Im Aufstehen fasste Pierre Céline am Arm. «Nur noch eine Frage: Hast du im Sinn, in der Forschung zu bleiben?»
«Ich kann mir nichts anderes vorstellen, zumindest so lange die ‹KOKI› überlebt.»
«Gut, du kannst Sutter sagen, er soll mich anrufen.» Er steckte ihr seine Visitenkarte zu. Céline warf einen Blick darauf und hatte das Gefühl, den Namen Pierre Jaccard schon gehört zu haben, wusste aber nicht, in welchem Zusammenhang. Sie konnte nicht lange nachdenken, denn Pierre fügte an: «Beim Treffen mit Sutter musst du dabei sein. Bringt alle Unterlagen mit. Ich muss die wissenschaftliche und finanzielle Situation genau unter die Lupe nehmen, bevor ich einsteige. Wenn alles in Ordnung ist, werde ich euch auf lange Sicht finanzieren.» Nach kurzer Überlegung fügte er an: «Unter der Bedingung, dass du gleichberechtigte Partnerin in der ‹KOKI› wirst.»
Céline drückte Pierre, den sie eben erst kennengelernt hatte, einen Kuss auf die Wange, und da sie eben unter der Türe des Speisesaals angekommen waren, wurde diese Geste von der Tafelrunde mit lautem Hallo aufgenommen.
~
Sie kennen ja meine Probleme, Herr Bernauer, und jetzt sind noch zwei neue dazugekommen», begann Sutter die Unterredung mit dem Anwalt, der sich nicht nur um die rechtlichen Aspekte der «KOKI», sondern auch um Sutters private Angelegenheiten kümmerte.
«Als hätten Sie nicht sonst schon genug davon», brummte Bernauer, «Worum geht es?»
«Um eine Forderung eines entlassenen Mitarbeiters. Ich glaube nicht, dass er die geringste Aussicht hat, damit gerichtlich durchzukommen, aber ich möchte Ihren Rat.» Sutter übergab dem Advokaten den eingeschriebenen Brief, den ihm Otto Egli zugestellt hatte.
Bernauer setzte sich die Brille auf und begann, das Dokument zu studieren. Sein hageres Gesicht zeigte nicht an, was er von der Sache hielt. Erst als er zu Ende gelesen hatte, schnaubte er verächtlich. «Reichlich hoch gegriffen: eine halbe Million Entschädigung für gestohlenes geistiges Eigentum und eine Beteiligung von zehn Prozent an allen Gewinnen, die die Firma je erarbeiten könnte.» Bernauer zog die Brauen hoch. «Da ist er wirklich optimistisch.»
Sutter zog es vor, die letzte Bemerkung Bernauers dahingehend zu interpretieren, dass die Forderung Ottos zu optimistisch sei, und nicht etwa die Möglichkeit, dass die Firma je einen Gewinn erzielen könnte, doch sicher war er nicht. «Wie soll ich darauf reagieren?»
«Kommt darauf an, wie stichhaltig der Grund gewesen ist, ihn zu entlassen.»
Sutter erklärte Bernauer, das Egli unter seiner Anleitung über zwei Jahre lang fleissig aber erfolglos gearbeitet, aber keine eigenen Ideen eingebracht habe – bis auf seine letzte, selbst entwickelte Versuchsreihe, deren Resultate von A bis Z gefälscht waren.
«Tönt sehr gut», bemerkte der Anwalt. Diesmal liess er keinen Zweifel offen, was er damit meinte: «Da hat der Typ noch Glück, wenn Sie ihn nicht auf Schadensersatz verklagen. Er hat keine Chance, mit einer Klage durchzukommen. Spätestens der Friedensrichter wird ihn darüber aufklären. Ich würde ihm nicht antworten. Abwarten und Tee trinken – apropos, möchten Sie einen Kaffee?» Er griff zum Telefon, um die Bestellung aufzugeben. Während sie warteten, fragte der Anwalt: «Worin besteht das andere neue Problem?»
«Da wäre noch ein Erpressungsversuch, aber den nehme ich nicht sehr ernst.» Sutter erzählte dem Anwalt seine unangenehme Unterredung mit Dr. Ward in Basel.
«Das ist weitaus gefährlicher als die lächerlichen Forderungen Ihres entlassenen Mitarbeiters. Dieser Ward scheint ein echter Profi zu sein, hat anscheinend Geld und wird wohl nicht zögern, vor Gericht zu gehen. Auch wenn seine Chancen zu gewinnen verschwindend klein sind, verlieren Sie viel Zeit – und unerledigte Affären schrecken Investoren ab.»
«Muss man es denen unter die Nase reiben?»
«Ich würde Ihnen raten, mit offenen Karten zu spielen, denn wenn sie später dahinterkommen, dass man Ihnen beim Vertragsabschluss etwas Wesentliches verheimlicht hat, könnten sie den Vertrag annullieren.» Bernauer runzelte die Stirn. «Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn Sie Ward wegen Erpressung anzeigen würden. Sie haben zwar keine Beweise für die Unterredung mit ihm, aber es könnte ihn von seinem Vorhaben abbringen.»
Bernauer schaute auf die Uhr. «Wir haben noch zwei wichtige Aspekte zu besprechen. Das eine sind die Finanzen und dann haben Sie mir am Telefon gesagt, ihre Frau wolle sich wahrscheinlich scheiden lassen. Soweit ich weiss, gibt es eine einvernehmliche, eine gerichtliche, aber keine wahrscheinliche Scheidung – rechtlich gesehen. Was meinen Sie damit?
«Nun, meine Frau hat mir mit Scheidung gedroht, falls ich weiteres Geld in die Firma einschiesse. Und da ich dies vorhabe, will sie nun die Konsequenz daraus ziehen. Ich halte sie nicht zurück und möchte die Sache möglichst rasch hinter mich bringen. Können Sie abklären, auf welche Entschädigung sie Anrecht hat? Ich habe ja meine Erbschaft vor unserer Hochzeit gemacht. Kann Evita wegen des Geldes, das ich während der Ehe in die Firma gesteckt habe, nach der Scheidung Anspruch auf einen Teil der eventuell anfallenden Gewinne erheben?»
«Das muss ich genau abklären. Wenn Sie schon von zukünftigen Gewinnen sprechen, gibt es erfreuliche Neuigkeiten zur finanziellen Lage?»
«Der Verkauf einer Nutzungsberechtigung für unser Transportprotein gibt mir ein wenig Spielraum. Ich habe sogar Ihre offene Rechnung beglichen, sonst hätte ich es nicht gewagt, zu Ihnen zu kommen. Auf lange Sicht brauche ich aber einige Millionen. Zwischen den ersten erfolgreichen Versuchen und einer möglichen Anwendung können Jahre verstreichen. Haben Sie inzwischen einen neuen Investor ausfindig machen können?»
«Leider nicht. Dazu müssen wir dringend die finanzielle Situation auf den neusten Stand bringen, einen vernünftigen Geschäftsplan erstellen, und Sie müssen die Projekte und Resultate aktualisieren.»
Auf Papier sah die finanzielle Situation noch prekärer aus, als dies Sutter bewusst gewesen war. Sie einigten sich darauf, dass Bernauer einige ihm bekannte Investoren mit den revidierten Unterlagen nochmals angehen würde. Immerhin hatte die «KOKI» neue Eisen im Feuer, was für die Geldgeber ausschlaggebend war. Sutter versicherte, er sei seinerseits daran, die Leute erneut zu kontaktieren, denen er bereits ein Gesuch eingereicht hatte.
«Haben wir alles besprochen?», erkundigte sich Bernauer. «Mein nächster Klient sollte bald eintreffen.»
Als Sutter wieder auf der Strasse stand, zündete er sich eine Zigarette an. Bei seinem Asthma war das zwar idiotisch, aber in Stressmomenten wie diesen brauchte er eine Ablenkung. Er stieg in sein Auto und fuhr ins Labor.
«Kennst du Pierre Jaccard?» Mit dieser Frage wurde er von Céline empfangen, die er noch nie so freudestrahlend gesehen hatte.
«Jaccard ist einer der bedeutendsten Investoren in unserer Branche. Ich habe ihm unsere Unterlagen vor einiger Zeit geschickt, aber leider hat er nie darauf geantwortet. Noch heute früh habe ich versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Hat er zurückgerufen und hast Du mit ihm reden können?»
«Habe ich, aber nicht am Telefon, sondern bei einem Armagnac an einem Clubtischchen. Nur wir zwei, unter vier Augen.»
Sutter sah Céline mit offenem Mund an. «Hast Du ihn aufgespürt und wegen unserer Finanzen angeschnorrt?» Die Frage tönte leicht vorwurfsvoll.
Céline war verschnupft. «Aber sicher, ich habe nun einmal die üble Gewohnheit, fette Herren anzumachen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.»
«Das habe ich nicht so gemeint. Aber Jaccard ist fast meine letzte Hoffnung, unser Schiff wieder flott zu kriegen, und das möchte ich auf keinen Fall vermasseln.»
«Beruhige dich! Pierre hat mich bei einer Familienfeier angesprochen und sich über unsere Firma erkundigt. Er kennt sie fast besser als ich und wusste auch deinen Namen. Anscheinend hat er dich schon lange im Auge. Unsere zufällige Begegnung bei einem Familientreffen hat sein Interesse neu entfacht. Die richtigen Beziehungen sind doch nützlich – Vitamin B!»
Céline informierte Sutter, was sie Jaccard über den Stand der Forschung mitgeteilt habe, und dass dieser von sich aus angeboten habe, die Firma auf lange Zeit flottzumachen. «Er wird dich anrufen und ein Treffen mit dir vereinbaren.» Céline wurde bleich und zögerte, weiterzusprechen.
«Und worin liegt der Haken?» Sutter hatte Célines Verlegenheit bemerkt.
«Nun, er möchte, dass die kleine Cousine seiner Partnerin deine Teilhaberin wird – die kleine Cousine bin ich. Ich schwöre dir, dass ich das nicht eingefädelt habe. Das ist seine Idee gewesen.»
Sutter schien keine Mühe mit diesem Vorschlag zu haben. «Er ist nicht der einzige Mann, der nicht zögert, Geld auszugeben, wenn es um junge Damen geht. Ich freue mich ehrlich, dass du meine Partnerin wirst.» Er stand auf. «Komm Céline, das feiern wir mit ein paar Drinks in der Central Bar.