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Erinnerung (Ursprung plus 16 Jahre)

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– Viktoria –

Dunkelheit empfing sie. Es war seltsam warm, nicht überhitzt. Sie war nicht im Inneren des Gefährts, denn um sich herum spürte sie keinerlei Gegenstände. Sie schwebte, das musste die seltsame Lösung sein. Ein flatterndes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Zara war bei ihr. Ihre Erinnerung schwebte in der Form eines kleinen Wesens vor ihr. Erst glomm ein kleiner Funken vor ihren Augen, dann begann Zara zu glühen wie das Herz einer Flamme. Sie kam Viktoria immer näher, doch sie spürte keine Furcht. Was auch immer hier gerade geschah, es war unausweichlich. Sie blickte in das Licht, bis es ihre Stirn berührte und in sie überging.

Der Wind rauschte durch ihre Haare und zerrte an ihren Klamotten. Sie kam ins Strudeln und drehte sich mehrfach um ihre Achse, bis sie ziemlich hart auf einem Boden landete, mit nichts als einem dicken Schaffell zwischen ihr und grob behauenen Brettern. Sie war in einem kleinen Zimmer, das mit alten Möbeln vollgestopft war. Ihr Rücken stieß an die Füße eines knorrigen alten Schaukelstuhls und eine knarzende Stimme redete eine Sprache, die Viktoria nicht verstand. Dann änderte sich ihre Perspektive. Sie blickte auf ihre Hände hinab, klein und pummelig. Sie war in ihrer Kindheit gelandet. Sie vertraute der Person, die hinter ihr saß und immer weiter redete. Viktoria schloss die Augen und lauschte. Ja, sie war hier zu Hause. Ihre Ohren folgten den fremdartigen Lauten, bis sie erste Worte ausmachen konnten. Eine Geschichte von Liebe, Verlust, Verrat und Lebensglück. Sehnsucht erfasste Viktoria. Wie gern sie Teil der Erzählung wäre, würde gegen Monster reiten, sich in einen Held verlieben und nach erfolgreichem Kampf nach Hause zurückkehren. Zuhause. Sie wollte heim! Da legte sich eine alte, faltige Hand auf ihren Kopf. Das Kind drehte sich um und lächelte die zahnlose Alte an. Sehnsucht wurde durch Trauer ersetzt, denn sie erblickte Tränen.

„Es ist Zeit, schlafen zu gehen.“

Die kleine Viktoria zog erst einen Schmollmund, dann gab sie auf und krabbelte zu der Schlafstatt vor dem Feuer hinüber. Eine kleine Kuhle zeigte, wo sie sich des Nachts in die Felle kuschelte. Bald fielen ihr die Augen zu. Die Viktoria, die zu Besuch war, blieb mit offenen Augen liegen. Kurz darauf hievte sich die Alte aus dem Stuhl und ging hinüber zu ihrem Tisch. Aus einer Schublade holte sie ein altes Buch hervor. Sie öffnete es und legte es aufgeschlagen vor sich hin. In aller Seelenruhe hob sie einige kurze Haare ins Licht, warf dem schlafenden Kind einen Blick zu und legte sie in eine kupferne Schale. Anschließend zupfte sie Blätter und Blüten verschiedener Pflanzen ab, die auf dem Tisch lagen, mischte sie unter und beträufelte alles mit einer klaren Flüssigkeit. Aus dem Buch nahm sie einen eintönigen Singsang auf, während sie die Mischung über einer offenen Flamme zum Brodeln brachte. Die ältere Viktoria stand auf und ging zum Feuer hinüber. Mit einer Schöpfkelle hob ihre Großmutter die festen Bestandteile ab und füllte die Essenz in eine angeschlagene Tasse. Mit zittrigen Schritten ging sie hinüber zu Viktoria und weckte sie sanft.

„Hier, trink noch etwas Warmes, bevor du zu fest schläfst.“

Verschlafen und vertrauensvoll nahm die Kleine einige Schlucke aus der Tasse und sank dann matt zurück auf ihre Felle.

„Kleine Viktoria. Ich hoffe, du wirst mir eines Tages verzeihen können.“

„Ist sie so weit?“

Eine helle Jungenstimme ließ die Besucherin Viktoria herumfahren. Rafi! Als etwa zehnjähriger Junge stand ihr großer Bruder vor ihr und blickte abwechselnd zwischen der alten Frau und seiner kleinen Schwester hin und her. Brummig nickte die mit Falten übersäte Eigentümerin der Hütte.

„Sie wird sich an nichts erinnern.“

Grimmig nickte der Junge.

„Gut. Ich kann sie nicht auch noch verlieren. Sie darf sich nicht an unseren Bruder erinnern. Wenn die Leute und wir ihn vergessen, werden vielleicht weder er noch Viktoria jemals in dieser Anstalt landen.“

Nana nickte, dann legte sie ihre faltige Hand auf die Schulter des für sein Alter hochgeschossenen Jungen.

„Du musst auch vergessen oder wenigstens verdrängen. Deine Eltern waren nach der Anstalt nie wieder die Gleichen, das weißt du. Sie haben es versucht.“

Rafi nickte.

„Die Experimente haben sie kaputt gemacht“, erwiderte er und schluckte unter großer Anstrengung seine Tränen hinunter.

Entsetzt kam die Besucherin ins Straucheln. Sie schwankte und fiel zu Boden. Dunkelheit umfing sie, während sie mit der Macht ihrer Erinnerung kämpfte. Rafi. Die alte Frau war ihre Großmutter. Von welchem Bruder sprachen sie? Sie und Rafi hatten Eltern, die kurz davor gestorben waren. Was war das mit der Anstalt, meinten die etwa ihre Anstalt? Die Macht der Erinnerung überflutete Viktoria. Sie hatte ihr keinen Widerstand entgegen zu setzen und wurde mitgerissen. Magie war real. Der magische Funke, den sie zwischen ihren Händen hin und her springen lassen konnte und sie als Zeitenwandlerin identifizierte, war Schuld an allem, was ihrer Familie passiert war. Magie war real und Viktoria war eine Zeitenwandlerin. Die Bilder und Emotionen an ihre Kindheit prasselten auf sie ein. Viktoria krümmte sich zusammen, presste sich die Hände an den Kopf und begann zu schreien.

Sie wusste nicht, wie lange sie zusammengesackt auf dem Boden verbracht hatte. Sie fühlte sich, als wäre sie auf einen Schlag – anders. Es war, als kämen ihre Gedanken sich selbst nicht mehr hinterher. Als würde sie, wie nach einer heftigen Erkältung, das erste Mal wieder richtig durchatmen. Als wäre sie endlich vollständig. Die Energie brauste durch ihre Nervenbahnen. Sie war nicht müde, sie war einfach nicht mehr kaputt, bedurfte keiner Reparatur mehr. Bei sich selbst angekommen. Ihr neues Bewusstsein erbebte mit jeder Erinnerung, die eine nach der anderen zu ihr zurückkam. Sie hatte schon immer mit ihrem Funken gespielt, bis ihr Vater es irgendwann gesehen hatte. Panik beherrschte seine Gesichtszüge für einen Augenblick, bevor er es zu seiner Alltagsmaske entspannte. Wenn andere Leute ihren Funken sähen, würden sie sie in den nächsten Teich werfen oder Schlimmeres mit ihr anstellen. Sie mitnehmen in ein Gebäude, das tief im Wald stand. So hatte er es gesagt. Viktoria, die nur planschen, aber nicht schwimmen konnte, bekam Angst. Sie verstand diese anderen Leute nicht.

Das kleine Mädchen begann, sie zu beobachten und was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Nachbarn und Freunde bespitzelten sich gegenseitig. Der Zentralrat ging gegen alle vor, die anders dachten oder eine Bedrohung darstellen konnten erklärte ihr Vater. Jegliche magische Begabung gehörte dazu. Nicht einmal ihrer Mama hatte sie ihren Funken gezeigt, nur Rafi. Er war krank und lag fiebernd im Bett, ihre Mama war sowieso mit dem neuen Baby beschäftigt. Der Kleine war ständig am Schreien und schien permanent krank zu werden. Irgendjemand hatte Rafi also unterhalten müssen. Als niemand hinsah, schlüpfte sie in sein Zimmer und zeigte ihm, was sie tun konnte. Ohne Scheu hatte er ihr dabei zugesehen und gelächelt. Aber er war auch traurig, Viktoria spürte das deutlich. War sie nicht gut genug? Sie konzentrierte sich und kniff die Lippen fest zusammen. Ihr Funken strahlte nun heller, während er zwischen ihren Händen hin und her kreiste. Dann verschwand das Licht, als Rafi seine Hand über die ihren legte und sagte, dass niemand mehr diesen Funken sehen dürfte. Niemand. Jemals.

Eines Tages nahm ihr Vater sie bei der Hand und ging mit ihr zum Marktplatz. Rafi musste es ihm erzählt haben. Schon von weitem stieg ihr der Gestank in die Nase. Erst einige Minuten später begriff sie, was sie da roch: brennende Menschen. Die Bewohner ihres Städtchens verbrannten Menschen. Blanker Horror ergriff sie und sie weigerte sich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Ihr Vater bückte sich herab, um die schreckensstarre Viktoria auf seine Arme zu nehmen. Sie wollte ihr Gesicht verstecken, doch seine Hände waren eisern. Er drehte sie so herum, dass sie sah. Alles sah. Das Grauen nistete sich in ihrem Herz ein. Hinterher sagte ihr Vater, dass die Menschen das Gleiche mit der ganzen Familie machen würden, wenn jemand ihren Funken sah. Viktoria verstand die Welt nicht mehr.

Eine andere Erinnerung war an der Reihe. Dann die Nächste. Irgendwann fühlte sie sich ausgelaugt, hatte keine Kraft mehr und blickte auf ihre Hände im Schoß herab. Doch es fehlte noch etwas. Das Knirschen der Stiefel im Schnee. Geflüsterte Befehle. Waffen, die in Anschlag gebracht wurden. Die Tür, die mit einem Donnern aufflog und an der gegenüberliegenden Wand abprallte. Rafis Gesicht, das angstverzerrt aus seinen Fellen zu seinen kleinen Geschwistern hinüber blickte. Ihre Mutter, die sich totenbleich von ihrer Bettstätte erhob, ihre Hände in die Höhe hielt und schweigend nach hinten wegtrat. Viktoria robbte an die Kante der Wand, die ihre Schlafstätte vom Wohnzimmer trennte. Sie sah, wie ihr Vater ungläubig auf seine Frau schaute, angstvoll zu ihr hinüber, etwas flüsterte und sich mit langsamen Bewegungen auf den Boden kniete. Die Gestalten in ihren dunklen Uniformen nahmen ihn mit. Es war das letzte Mal, dass Viktoria ihren Vater sehen sollte. Niemand von ihnen ging zur öffentlichen Hinrichtung.

Einige Tage später fand man ihre Mutter im Teich. Niemand bekannte sich schuldig und so geriet ihr Fall in Vergessenheit. Viktoria dagegen lebte in Angst. Ihr Vater wusste von ihrem Funken, ihre Mutter hatte ihn verraten. Was, wenn sie auch etwas über sie erzählt hatte? Wenn sie sie holen kommen würden? Doch niemand kam. Nur Nana, die die drei Geschwister bei sich aufnahm. Doch dem Jüngsten ging es nicht gut. Ob er nun seine Mutter vermisste, seinen Vater oder einfach spürte, dass etwas Schreckliches geschehen war, Nana wurde nicht mit ihm fertig. Eine Frau aus der Stadt kam täglich, um ihn zu stillen, wenn ihr eigenes Kind etwas Milch übrig gelassen hatte. Eines Abends beruhigte Viktoria ihren kleinen Bruder, indem sie ihm ihren Funken zeigte und spielerisch vor seinem Gesicht hin und her springen ließ. Rafi unterbrach das Spiel, indem er ihr auf die Finger schlug und sie ins Bett schickte. Wieder eine Nacht, in der Viktoria sich allein gelassen in den Schlaf weinte.

Am nächsten Tag kam die Amme wieder, doch dieses Mal wollte Nana das Stoffbündel mit dem kleine Jungen darin nicht wieder annehmen. Sie wehrte ab und nach einem kurzen Wortwechsel zuckte die Frau mit den Achseln, sah auf das Bündel in ihren Armen hinab und verschwand für immer. Viktoria verstand die Welt nicht mehr, aber genau genommen war das noch nie der Fall gewesen.

Die anderen Kinder begegneten Rafi weiterhin mit Misstrauen, Viktoria dagegen scherte sich nicht um sie. Sie war zu jung, um die Wahrheit zu begreifen, doch eines wusste sie genau: Sie musste sich warm anziehen, die Menschen waren kalt draußen.

In der Hütte atmete Viktoria aus und starrte weiter auf ihre Hände, die Werkzeuge des Todes. Es war Zeit.

„Bringt mich heim“, flüsterte sie mit von Tränen erstickter Stimme. Ein Funken glomm auf, schwach erst und zittrig, aber bald wurde er immer heller und stärker. Das Licht breitete sich über ihre Hände aus und immer weiter, bis sie in einem Kreis aus Licht kniete. Heim, dachte Viktoria, ich will heim. Ihre Kontur begann zu verschwimmen. Fasziniert beobachtete sie, wie sie sich mit dem Licht vermischte. Wie viel sie vergessen hatte. Mit einer hellen Stichflamme zum schwarzen Himmel verschwand das Licht und mit ihm Viktoria aus der Dunkelheit.

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