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Das Chaos der Welt (Ursprung)
Оглавление– Rafi und Viktoria –
Als die Revolution starb, versank die Welt rund um Viktoria ins Chaos. Die Warntrommeln des Lagers verkündeten den Überraschungsangriff der Regierung und versetzten alle in Aufruhr und Panik. Rebellen und Lagerbewohner rannten in einem hektischen Aufruhr an Viktoria vorbei, die seelenruhig inmitten der Verwirrung stand und an einem Daumen lutschte. Niemand beachtete die Fünfjährige, die das wilde Geschehen mit großen Augen beobachtete. Dann fielen die ersten Schüsse, explodierten die ersten Granaten. Dreck spritzte auf, wo Detonationen den Erdboden gewalttätig aufrissen. Viktoria beobachtete den Flug der Steinchen, die durch die Luft geschleudert wurden.
Plötzlich schlang sich ein Arm von hinten um ihre Taille. Ihr Oberkörper wurde nach vorne gerissen, als jemand sie nach hinten wegzerrte.
„Los, komm schon!“
Rafael, ihr großer Bruder. Ihr großes Vorbild. Er hatte für sie die Sterne an den Himmel geklebt, damit sie nachts nicht alleine war. Jetzt hielt er sie fest gepackt und drückte sie an sich, während er durch das dunkelgraue Chaos stürzte. Voller Ruhe lehnte Viktoria sich an ihn. So lange er hier war, konnte ihr nichts geschehen. Ihr Körper schaukelte im Laufschritt, als er herabstürzenden Gebäudeteilen auswich und Haken schlug, wenn die Kugeln zu nah bei ihnen einschlugen. Sie vergrub ihr Gesicht an Rafis Schulter. Fast wäre sie von seinem Arm gefallen, weil er auf der Treppe in den Keller mehrere Stufen übersprang. Zusammen eilten sie den Gang entlang, der zu einer schweren Eisentür führte. Vor dieser setzte er das kleine Mädchen ab, das neugierig vor zur Treppe lugte. Hörte sie weitere Schritte? Die waren aber viel gleichmäßiger als die von Rafi. Viel Zeit hatte sie nicht zum Schauen, so schnell hatte er die Tür aufgestoßen und Viktoria hindurch geschubst. Anschließend kniete er sich vor sie und packte sie an den Schultern.
„Egal was passiert, du bleibst hier unten. Die Tür schaut sehr stark aus, ich weiß, aber sie ist nur angelehnt, nicht verschlossen. Komm erst wieder hoch, wenn es so lange ganz leise war, dass du mindestens zehn Mal bis zehn gezählt hast, hörst du?“
Viktoria wusste genau, sie hätte nicken sollen. Immerhin wollte ihr Bruder hier nichts Schweres von ihr. Zehn Mal bis zehn hatte sie in den letzten Tagen oft gezählt, sie wusste, wie das ging. Lesen konnte sie auch schon, das hatte er ihr natürlich beigebracht.
Gerade, als Rafi sie schütteln wollte und ansetzte, um seine Frage zu wiederholen, bemerkte er die aufgerissenen Augen seiner kleinen Schwester. Er erstarrte. Alles Leben wich aus seinem dreckverschmierten Gesicht, als er sich noch in der Hocke umdrehte. Da standen sie, die Wächter. In schwarz gekleidet, als wären sie frisch aus der Hölle auferstanden. Langsam hob er seine Hände hoch.
„Sie ist nur ein Kind“, Rafi schluckte.
Die schwarzen Gestalten brachten ihre Waffen in Anschlag.
„Nehmt mich mit. Nicht vor ihr!“, bat er mit Nachdruck.
Sie traten einen Schritt vor.
„Bitte!“ Seine Stimme klang verzweifelt.
Viktoria hatte ihren Bruder noch nie flehen sehen. Sie kannte ihn, wie er Reden schwang und Menschen begeisterte. Wie er sie zum Lachen brachte oder Trost spendete. Wie er Leben verteidigte. Manchmal hatte er seine Pistole vor ihm auf dem Tisch liegen, während er auf andere einredete. Wenn er sie auseinandernahm und putzte, saß Viktoria neben ihm und er erklärte ihr immer wieder geduldig, wie man eine so kleine Waffe zerlegte und wieder zusammensetzte. Es war ein altes Modell, das Kugeln und keine Impulse verschoss. Viele Rebellen hatten alte Waffen wie diese. Geschossen hatte sie noch nie, dafür waren ihre Hände zu klein. Fand Rafi zumindest.
Eine der Gestalten trat einen weiteren Schritt vor. Zwei scherten von hinten aus, liefen an der Truppe vorbei und prüften den Raum, in dessen Türstock Viktoria stand und immer noch versuchte, die finsteren Gestalten besser auszumachen. Die beiden Läufer kamen zurück und stellten sich wieder in die Reihe. Auf ein Nicken des vordersten Wächters gingen alle anderen einige Schritte rückwärts, drehten sich dann um und marschierten zurück zur Treppe. Rafi hatte sich keinen Millimeter bewegt. Er starrte der verbliebenen Gestalt weiter in die Augen oder zumindest dorthin, wo er die Augen vermutete. Der Helm mit Gesichtsschutz machte eine Identifikation unmöglich. Der Zentralrat wollte nicht, dass jemand die Wächter kannte. Der größtmögliche Schutz für alle Beteiligten, so hatte eine anonyme Stimme im Radio das während einer gestellten Gesprächsrunde genannt. Hatte zumindest Rafi behauptet. Viktoria konnte sich daran so gut erinnern, weil Rafi damals auf das Gerät gespuckt und hinterher schlecht gelaunt geputzt hatte.
Er kniete immer noch vor ihr. Der verbliebene Wächter rückte langsam näher, die Waffe permanent im Anschlag.
„Bitte, nicht vor ihr!“, versuchte er es erneut. Rafis Stimme schwankte.
Langsam schob sich Viktoria hinter den schmalen Rücken ihres Bruders, als könnte sie sich so vor der Dunkelheit unsichtbar machen. Ihr Shirt blieb an etwas hängen, das aus Rafis Hosenbund ragte. Seine Pistole. Für einen Moment starrte Viktoria nach unten, dann schloss sich ihre kleine Hand um den Griff. Sie schob sich weiter hinter ihren Bruder und zog das kalte Stück Metall heraus. Sie wusste, wie man die Sicherung entfernte. Sie wusste nicht, ob sie schießen durfte, aber eines war klar: Die Wächter kamen nur, um zu töten. Ihr Bruder konnte ihr gerade nicht helfen, er konnte nicht einmal sich selbst helfen. Starr und schwer wog die Waffe in Viktorias kleiner Hand. Zitternd duckte sie sich hinter Rafi zusammen und legte auch die andere Hand auf die Pistole. Mit ihrem linken Zeigefinger legte sie den Hebel für die Sicherung um. Unsicher hob sie ihren Kopf und blickte auf den Wächter. Der visierte Rafi an.
„Tut mir leid, mein kleiner Stern“, murmelte ihr Bruder und Viktoria verstand. Es war vorbei. Nur sie konnte ihm jetzt noch helfen. Sie tat, als kuschelte sie sich an seinen Rücken und schob dabei die Pistole hinter Rafis Kopf. Niemand durfte etwas merken, erst recht nicht Rafi. Sie wusste nicht, wo sie gerade hinzielte. Nur, dass sie es zumindest versuchen musste. Das schwarze Wesen musste verschwinden. Das war fünf Schritte vor ihnen stehen geblieben. Langsam ging das kleine Mädchen einen Schritt nach hinten und streckte dann ganz schnell die Arme aus. Rafis Kopf ruckte zur Seite. Sein Oberkörper lehnte sich leicht nach hinten.
„Nein!“
Zu spät. Zwei Impulse knallten, bevor sie abdrücken konnte und brachten das Gebäude zum Wanken. Rafis Körper wurde nach hinten gerissen und begrub Viktoria unter sich. Ihre Ohren klingelten und das Gewicht ihres Bruders drückte ihr Gesicht seitlich auf den rauen Steinboden.
„Rafi!“, hörte sie die Stimme einer Frau. Dann Schritte, die auf sie zu rannten.
Ein Rascheln ertönte direkt neben ihr. Rafi lebte! Seine Finger strichen über den Boden und versuchte etwas zu ergreifen. Er fand die Pistole, die sich immer noch in Viktorias Hand befand. Sie ließ los und er griff zu. Schnelle und laute Schritte näherten sich, verstummten kurz, pirschten sich an Rafi und Viktoria heran. Ein dritter Impuls peitschte durch die Luft und Rafis Körper zuckte heftig zusammen. Dann lag er vollkommen still.
Als sein Blut in Viktorias Augen herabtropfte, begann sie zu schreien. Jemand hob Rafis Körper an und ließ ihn neben ihr fallen. Als Viktoria sich heftig das Blut aus den Augen wischte und aufblickte, starrte sie direkt in die Mündung einer Waffe. Schlagartig wurde sie ruhig. Jetzt war wohl sie dran.