Читать книгу Das Wissen der Welt - E. T. Byrnes - Страница 7
Im Kerker (Ursprung plus 16 Jahre)
Оглавление– Viktoria –
„Fffff….“, begann Viktoria zu fluchen, als sie langsam zu sich kam. Sie konnte aber nicht mal mehr das Wort ganz aussprechen, bevor hämmernde Kopfschmerzen sie zurück in die Dunkelheit drängten. Immer wieder schwamm sie der Oberfläche entgegen, doch erst als die Schmerzen auf ein erträgliches Level herabgesunken waren, schaffte sie es, die Augen vollends aufzuschlagen. Sie lag auf einer harten Pritsche. Ein einzelnes flackerndes Lämpchen über der Tür gab sich redlich Mühe, den kleinen Raum zu erhellen. Sah nach einem harten Kampf aus. Abgesehen davon, dass Viktoria bereits am Geruch erkannt hatte, wo sie sich befand. In einem Einzelverlies. Na das hatte sich ja wirklich gelohnt. Hätte sie einfach ihren Löffel nicht abgegeben, wäre sie mit vollem Bauch und ohne Kopfschmerzen hier gelandet. Grandiose Bruchlandung.
Sie ächzte laut, als sie sich langsam aufsetzte und die Beine über den Rand der Pritsche schwang. Wenn sie schon mal da war, konnte sie wenigstens versuchen, ihrem Plan zu folgen. Sie rutschte weiter vor und ließ sich auf die Knie sinken. So wie es sie geschwindelt hatte, als sie sich nur aufsetzen wollte, ließ sie lieber die Finger vom Aufstehen. Mit der Beherrschung einer Tänzerin kroch sie langsam, Stück für Stück, zum Luftabzug hinüber. Damit niemand ihn missbrauchen konnte, hatte man einst ein altes Eisengeflecht davor montiert. Das hing nach wie vor bombenfest in der Wand. Was es allerdings nicht aufhalten konnte, war ihre Stimme.
„Hallo“, krächzte sie.
Keine Antwort. Was kein Wunder war, wenn sie bedachte, wie leise sie gerade gesprochen hatte. Obwohl man es kaum sprechen nennen konnte. Scheinbar lag sie schon länger auf der Pritsche als gedacht und ihre Stimmbänder hatten unter der Feuchtigkeit gelitten.
„Mags?“, versuchte sie es erneut. Noch einmal, ein bisschen kräftiger. „Mags!“
Ein Windhauch kitzelte ihre Nase. Na wenigstens schien die Belüftung hier unten noch zu funktionieren.
„Wer soll das denn sein?“
Viktoria stutzte. Soweit sie wusste, war aktuell niemand hier unten, höchstens eben die alte Mag und das war definitiv nicht deren Stimme. Plötzlich war sie auf der Hut. Vielleicht versuchten die Pfleger oder die Wächter, sie in eine Falle zu locken.
„Eine hochwohlgeborene Dame mit fetten Klunkern um die Finger“, antwortete sie.
Ein raues Lachen ertönte.
„Sind wir das nicht alle?“
Das Lachen wurde von Husten ersetzt.
„Wer bist du?“, wollte Viktoria wissen.
„Ich glaube, ich heiße Annabelle.“
„Du glaubst?“
„Ja, glaube ich.“
Schweigen.
„Wie lange bist du schon hier unten? Ich glaube, ich habe dich noch nie gesehen“, stellte Viktoria fest.
„Dann sag mir doch erst einmal, wie lange du schon da bist.“
„Seit über 15 Jahren.“
„Dann bin ich wohl seit über 15 Jahren hier unten.“
Viktoria schlug die Hand vor den Mund. Das war unvorstellbar. Selbst für eine ernstgemeinte Attacke mit umfunktioniertem Besteck hatte nie jemand mehr als einen Monat im Keller verbracht und von einer uralten Mitbewohnerin hatte noch nie jemand erzählt. Misstrauen setzte sich in ihr fest.
„Nimmst es mir übel, wenn ich dir das nicht glauben kann?“, fragte sie die Unbekannte.
„Nicht im Geringsten. Aber warum glaubst du mir nicht?“, erwiderte diese umgehend.
„Wenn du schon so lange hier unten bist, wie kannst du einerseits überhaupt noch am Leben sein und warum hat noch nie jemand etwas von dir gehört? Hier kommen ständig Leute runter“, stellte Viktoria fest.
„Zum ersten Teil deiner Frage: Es gibt so viele Dinge unter diesem Himmel, die widernatürlich sind. Warum auch immer ich noch lebe, ich habe keine Erklärung dafür und ich brauche keine.“
Ein weiterer Hustenanfall schallte durch das feuchte Gemäuer.
„Und warum weiß niemand oben von dir?“, beharrte Viktoria auf ihrer Frage.
„Weil ich Menschen nicht ausstehen kann. Sie haben mir alles angetan, was mir schlechtes im Leben widerfahren ist. Warum sollte ich mit ihnen reden?“
„Warum redest du dann jetzt mit mir?“
„Weil ich mich frage, wer Mags ist.“
„Eine Patientin.“
Viktoria antwortete nicht sofort. Aber sie war so weit gegangen, sie konnte jetzt nicht einfach aufhören. Sorgfältig wägte sie ihre Worte ab.
„Ich habe sie heute den ganzen Tag noch nicht gesehen“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.
„Ach was“, kam die trockene Entgegnung.
Viktoria seufzte.
„Was willst du mir damit sagen?“
„Verschwinden Menschen nicht immer einfach spurlos, vor allem seit der Rebellion?“, fragte Annabelle mit einem sarkastischen Unterton.
Die Erinnerung an Rafis Tod versetzte Viktoria einen Stich.
„Vielleicht, ich weiß es nicht mehr. Hier in der Anstalt eigentlich nicht“, erwiderte sie.
„Und was machst du nun hier unten? Suchst du etwa nach ihr?“
Wieder dieses kehlige, raue Lachen, das Viktoria an das Bellen eines räudigen Hundes erinnerte.
„Nicht wirklich“, gab sie vor und versuchte, möglichst gleichmütig zu klingen. „Aber wenn ich schon mal hier bin, konnte ich ja wohl mal fragen.“
Ein leises Scharren ertönte.
„Ich wünsche dir, dass du deine Freundin wiederfindest.“
Nach einigem Zögern konnte sich Viktoria zu einem „Danke“ durchringen.
Sie fuhr herum. Hatte da etwas an der Tür gekratzt? In Windeseile krabbelte sie zur Pritsche zurück und musste keinen Schwächeanfall vortäuschen, als sie sich mit einem Stöhnen zurücksinken lies. Ihr Kopf schien immer noch stinksauer auf sie zu sein. Gerade, als er die Pritsche berührte, wurde das kleine Fenster aufgeschoben.
„Schon wach?“
Bullys Stimme schnitt wie ein Messer durch die Luft. Viktoria gab keinen Laut von sich.
„Sicher bist du es, gerade hat es hier drin ganz schön geraschelt. Es sei denn, das waren die ersten Ratten, die an deinen Zehen nagen.“
Ein durch und durch hässliches Lachen ertönte.
„Wie gefällt es dir denn hier unten?“
Viktoria schnaubte auf. Eine Druckwelle jagte durch ihren Kopf.
„Ganz vorzüglich, besten Dank an die Gastgeber.“
„Oh, du bist also ein kleines, arrogantes Drecksstück? Was für eine nette Überraschung, ihr seid mir die Liebsten.“
Viktoria zuckte und krümmte sich intuitiv in einer Fötushaltung zusammen. Wenn Bully tatsächlich durch die Tür kam …
„Das Schweigen nehme ich erst mal als Zustimmung. Pass auf, ich kann dir ein echt attraktives Angebot machen: Ich komme rein, du drehst dich um, damit ich dein kleines, hässliches Gesicht nicht sehen muss und wir vergnügen uns eine Runde. Oder zwei. Vielleicht auch mehr, je nach deinem Durchhaltevermögen.“
Heftiger Brechreiz bemächtigte sich ihrer.
„Dafür kommst du natürlich heute noch hier raus.“
Natürlich. Und was würde ihn davon abhalten, oben in ihre Höhle zu kommen und das gleiche Spiel zu wiederholen? Nein, sie musste ihm klar machen, was sie von ihm hielt. Unter pulsierenden Kopfschmerzen schälte sie sich wieder aus ihrer Pritsche und schlurfte langsam auf die Tür zu. Beinahe konnte sie seine Aufregung spüren, wie er da hinter der Tür lungerte und auf ihre Reaktion wartete. An der Tür legte sie ihre Hand auf Kopfhöhe ab und lies sie laut nach unten zu der kleinen Luke gleiten, durch die manchmal etwas Essen in die Zellen gereicht wurde. Sein hektischer Atem näherte sich der Luke von der anderen Seite. Als sie seine Augen sehen konnte, lächelte sie. Mit einer plötzlichen Bewegung spuckte sie ihm ins Gesicht. Einen Fluch ausstoßend wich er zurück, stolperte und fiel gegen die Wand in seinem Rücken. Sofort stieß er sich von ihr ab, stürzte wieder zur Tür und hämmerte wild darauf ein.
„Du wirst hier unten verrecken, Drecksstück! Hörst du mich, du wirst hier unten verrecken!“
Viktoria schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen. Erschöpft schwankte sie zur Pritsche hinüber und sank auf die unbequeme Liege herab. Während sie dem Lämpchen über ihrer Tür beim munteren Flackern zusah, fielen ihre Augen zu. Sie träumte von Rafi, wie sie einmal von einer Stadt zu einer anderen gewandert waren. Ihr Bruder hatte bald die Nase voll gehabt von den überlaufenden Straßen. Er trieb seine kleine Schwester hinab in eine Wiese voller wilder Blumen, bis sie einen Trampelpfad fanden, dem sie fortan folgten. Es gab keine Zeit im Leben von Viktoria, die friedlicher gewesen wäre als diese Erinnerung.
Ein metallisches Klappern weckte sie aus ihrem samtig-weichen Traum. Ein Blech erschien im Türschlitz und eine unbekannte Stimme rief „Aufwachen, frühstücken. Hol‘s dir oder es fällt auf den Boden!“
So schnell sie konnte, griff Viktoria nach dem Blech. Was auch immer hier drauf war, wurde mit Sicherheit nicht davon besser, wenn es einmal eine engere Bekanntschaft mit dem Boden geschlossen hatte. Ein Brei undefinierbarer Farbe, irgendetwas zwischen Beige und Graugelb. Der Duft nichtssagend. Viktorias Magen meldete sich knurrend zu Worte, verstummte aber schnell, als sie den ersten Bissen von sich nahm. Ihr Respekt vor Annabelle stieg weiter. Wer sich davon ernährt hatte und trotzdem noch lebte, war längst einer der Harten, die definitiv in den Garten gehörten. Widerwillig nahm sie einen zweiten Bissen. Als sie ihn glücklicherweise unten behalten konnte, setzte sie sich wieder an den Belüftungsschacht.
„Annabelle?“
Keine Antwort. Fast kam Viktoria schon ins überlegen, ob sie sich das Gespräch vor einigen Stunden eingebildet hatte. Aber nein. Sie hatte schon viel mitgemacht und die Klippe, was real war oder nicht kaum mehr unterscheiden zu können, war sie bisher noch nicht herabgestürzt. Die kurze Unterhaltung war passiert. Nachdem sie nun nicht wirklich wusste, wie lange sie hier unten bleiben würde, konnte es nicht schaden, sich eine Gesprächspartnerin zu sichern. Ihre psychische Gesundheit würde es ihr danken.
„Warum weißt du nicht, wie du heißt?“
„Das weiß ich doch.“
„Vorhin warst du dir aber nicht sicher.“
„Jetzt bin ich es“, sicherte die andere Gefangene zu.
Viktoria atmete aus und ballte die Hände zu Fäusten. Vielleicht war es doch keine so gute Idee.
„Ich war nicht immer Annabelle. Vielleicht bin ich deswegen manchmal noch ein bisschen verwirrt.“
Viktoria stand kurz davor zu fragen, wie viele Drogen es brauchte, um so zu werden wie sie. Oder war es die Einzelhaft, die sie so hatte werden lassen?
„Warum bist du hier unten?“, fragte sie stattdessen.
„Ich denke, weil ich in der Bibliothek gearbeitet habe.“
Okay, das war’s, Viktoria würde besser das Gespräch abbrechen. Die Bewohner oben hatten handfeste Verbrechen begangen, sie hatte in der offiziellen Version einen Wächter ermordet und diese Verrückte behauptete, sie wäre im Verlies, weil sie irgendwo gearbeitet hatte?!
„Und du?“, kam unerwartet die Frage aus der Dunkelheit.
„Ich bin eine Mörderin.“
„Ah. Wie nett.“
Viktorias Augenbrauen wanderten nach oben. „Nett?!“
Es verstrichen einige Sekunden, bevor Viktoria wieder etwas hörte. Kicherte die Verrückte tatsächlich?
„Ich nehme nicht an, dass du eine gute Person getötet hattest, sonst wärst du wohl nicht hier in der Anstalt. Also ja, nett.“
Viktoria knetete den Saum ihres Oberteils. Es durfte niemand zuhören, oder sie wären beide bis zum Ende ihrer Tage hier unten. Aber sie spürte, dass hier etwas Größeres begraben lag.
„Was war an deiner Arbeit in einer Bibliothek so verwerflich?“
Entrüstetes Schnauben antwortete ihr.
„Das dort auffindbare Wissen. Es ist gefährlich.“
Viktoria sann darüber nach, ob sie jemals in einer Bibliothek war. Außerhalb der Anstalt. Hier drinnen gab es einen kleinen Raum, in dem einige Bücher bereitstanden. Als Kind hatte sie hier Lesen geübt, nachdem Rafi es nicht mehr mit ihr am Lagerfeuer üben konnte. Aber richtig spannend war keines der Werke. Eine Patientin steckte ihr alsbald, dass es nur genehmigte Bücher gab.
„Genehmigt?“, hatte Viktoria gefragt. „Von wem?“
Ungläubig hatte die Frau auf sie herabgestarrt. „Dem Zentralrat, du Dummerchen!“
So ähnlich wie damals fühlte sie sich auch jetzt wieder. Als hätte sie immer noch nicht begriffen, worum es in der Welt wirklich ging. Wie sollte sie auch. Ein leiser Pfiff riss sie aus ihren Gedanken.
„Was?“, fragte Viktoria in die Dunkelheit.
„Ich wollte nur wissen, ob du noch da bist.“
„Warum?“
„Ich glaube, du bist etwas Besonderes.“
„Du glaubst auch, du bist eine Annabelle“, erwiderte Viktoria trocken.
Wildes Kichern antwortete ihr.
„Ich mag dich. Du langweilst mich nicht, im Gegensatz zu all den anderen, die sonst runtergeschickt werden.“
„Ach?“
„Sicher. Weder schreist du dir die Seele aus dem Leib, noch weinst du vor dich hin, ohne von deiner Umwelt Notiz zu nehmen.“
„Und das macht mich zu etwas Besonderem?“
„Nun ja, ein bisschen schon. In der Welt, in der wir uns beide befinden, auf jeden Fall.“
Viktoria wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Schließlich entschlüpfte ihr ein leises „Danke“.
„Keine Ursache.“
Schweigen hing in der Luft, aber es war nicht unangenehm. Für den Moment schien alles gesagt, bis das nächste Flüstern zu Viktorias Ohren getragen wurde. Angestrengt lauschte sie, aber diesmal verstand sie nicht alles. Sie kroch noch näher an den Luftdurchzug.
„Was hast du gesagt?“
„Dass ich dich damals gut hätte gebrauchen können.“
„In der Bibliothek?“
Zustimmendes Brummen.
„Was war das denn für eine Bibliothek?“
„Eine große.“
Fast klang es, als wäre die alte Frau stolz darauf. Viktoria wartete ab, bis sie weitersprach. „Sie war von einer Universität übrig geblieben. Nach dem Großen Krieg war sie eines der Gebäude, die am wenigsten beschädigt waren. Die Menschen haben sie mehr oder weniger geflickt, nachdem sie gemerkt haben, dass am nächsten Tag doch wieder die Sonne aufging und die Vögel zwitscherten.“
„Vögel?“
„Weißt du etwa nicht, was Vögel sind?“
„Doch natürlich!“, empörte sich Viktoria.
„Aber jeder weiß doch, dass sie sich nicht mehr in der Nähe von Siedlungen niederlassen. Ihre Eier sind wertvoll. Man kann sie gegen fast alles eintauschen.“
Diesmal war das Schweigen zwischen ihnen geladen.
„Wie ist das Leben draußen so?“, murmelte die andere Frau aus der Ferne.
Viktoria zögerte. Sie wusste nicht, ab wann Annabelle aus dem Lauf der Geschichte ausgestiegen war. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als ins Blaue zu raten.
„Vor über sechzehn Jahren gab es eine Rebellion.“ Ihre kleine Pause verriet den Ausgang dieser Erzählung.
„Es gab auf beiden Seiten viele Tote. Einer davon war mein großer Bruder. Und ein anderer sein Mörder.“ Ihre Stimme bebte.
„Mehr weiß ich leider nicht mehr.“
„Mein Beileid“, flüsterte Annabelle.
„Danke“, erwiderte Viktoria.
„Ich war erst fünf Jahre alt und seither bin ich hier.“
„Wer weiß, wie es mittlerweile dort oben aussieht“, nahm sie Annabelles Stimme wahr, deren Sehnsucht sogar durch die Wand greifbar schien.
Viktorias Augen füllten sich mit Tränen. Eine Welt ohne ihren Bruder. Sie wollte nicht daran denken. Solange sie hier drin war in ihrem kleinen Kosmos aus weißen Wänden, konnte sie wenigstens so tun, als wäre er da draußen. Würde auf sie warten. Und irgendwann würde sie ihn wiedersehen. Und er würde sie in seine Arme schließen und hochheben, wie er es getan hatte, seit er den ersten Kopf größer als sie war. Was er praktisch schon immer war. Energisch schüttelte sie den Kopf und wischte die Tränen quer über ihr Gesicht.
„Erzähl mir von deiner Bibliothek und dem gefährlichen Wissen.“
„Bist du dir sicher, dass du das hören möchtest?“
„Warum nicht, sieht dir an, wo wir eh schon sind. Schlimmer geht es kaum.“
„Doch.“
„Es interessiert mich nicht.“
„Das sollte es.“
„Hörst du nicht, du sollst mich ablenken!“
Über ihre eigene Reaktion entsetzt schwieg Viktoria und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.
„Es tut mir leid“, murmelte Annabelle von diesseits der Wand.
„Ist schon gut.“ Viktoria hoffte, dass die andere ihr Nasenschniefen nicht durch den Schacht hören konnte.
„Die Bibliothek. Sie wurde notdürftig repariert und die Menschen in der Umgebung begannen damit, ihre Bücher dort zusammen zu tragen. Zum einen war ihnen klar, dass sie sich selbst um das direkte Überleben kümmern mussten. Also Felder bestellen, Jagen lernen. Das klingt so simpel, aber die damaligen Stadtbewohner hatten sich ihr Fleisch bisher einfach fertig zerlegt kaufen können. Es gab Geschäfte, die waren so riesig, größer als jedes Haus, das du wahrscheinlich kennst. Es war eine verrückte Zeit damals. Die Menschen gaben ihre Zeit auf, um Aufgaben für jemand anderen zu erledigen und bekamen Geld dafür, das sie gegen Essen eintauschten. Hätten sie sich mal lieber von vornherein darum gekümmert, ihr eigenes anzubauen.“
Ihre Worte strichen behutsam über Viktorias wunde Seele.
„Nach dem Krieg war eines schnell klar: Je mehr Wertvolles man daheim hatte, desto wahrscheinlicher war es, dass Diebe vorbei kamen und die Häuser durchwühlten. Es gab kein Gesetz mehr. Niemand, der die Menschen kontrollierte.“
„Bis der Zentralrat ins Leben gerufen wurde.“
„Oder wie wir ihn nannten – das Regime“, bekräftigte Annabelle.
„Aber das dauerte noch ein wenig. Dass es keine Regierung gab, heißt ja nicht, dass die Menschen automatisch zu dummen Tieren verkommen waren. Sie haben sich meistens in kleinen Gruppen selbst neu organisiert, irgendeinen Anführer gab es immer. Einer davon war nicht so recht davon begeistert, dass es einen Ort voller Wissen gab.“ Sie seufzte.
„Mittlerweile glaube ich, dass noch mehr dahinter gesteckt hat. Die alten Männer, die das alles organisiert haben, kannten sich und ihn seit sehr langer Zeit. Irgendwas muss vorgefallen sein, jedenfalls kam er irgendwann nicht wieder.“
Die Männer hatten etwas versucht aufzubauen, genauso wie Rafi einen Teil der Rebellen geführt hatte, obwohl er noch so jung war, dachte Viktoria stolz.
„In der Zwischenzeit wurde die Bibliothek stetig vergrößert. Es gab natürlich viele Bücher, die nur für die Unterhaltung gedacht waren. Aber es gab auch zahlreiche für die Lehre bestimmte Werke. Wie man eine Gesellschaft aufbauen konnte, beispielsweise. Oder Magie zu nutzen vermochte. Magie, stell dir das vor. Ich weiß gar nicht, wie viele außer mir wussten, dass die alten Männer in Wirklichkeit um die letzten Druiden dieser Welt waren. Aber wen wundert das. Nach dem Großen Krieg organisierten sich die Leute je nachdem, wo sie wohnten. Manche Gruppierungen waren sehr religiös ausgeprägt, andere kümmerten sich um nichts anderes als den Feldbau, andere wollten alles gleich teilen. Dann diejenigen, die glaubten, nur eine Frau könne eine Gemeinschaft anführen. Natürlich gab es auch das Gegenteil. Das nannte sich übrigens Patriarchat.“
Viktoria speicherte das neue Wissen ganz beiläufig ab. Sie glaubte nicht an Druiden oder Magie, aber wollte Annabelle nicht unterbrechen, weil sie die restliche Erzählung hören wollte.
„Und dann kam das Regime. Plötzlich wurden aus Menschen, die die Zukunft der Gesellschaft im Visier hatten, mögliche Landesverräter.“
Viktoria hob den Kopf und neigte ihn so, dass sie noch etwas besser hören konnte.
„Sie waren gefährlich, denn sie waren in der Lage, das Gedankengut des Regimes als das zu entlarven, was es war: Nur ein Mittel, um die Macht an sich zu reißen!“
Diese letzten Worte spie Annabelle mit einer Heftigkeit heraus, die selbst Viktoria erschreckte.
„Sie haben uns alle in einer Nacht vernichtet. Der Himmel hat gebrannt, die Bomben haben alles zerstört. Ich habe nie wieder jemanden von dort gesehen oder gehört. Aber wenn ich mir bei einer Sache sicher bin: Irgendwie haben die Druiden das ganze Wissen dort geschützt und bewahrt.“
„Warum haben sie dich denn nicht getötet?“
„Exzellente Frage. Die Antwort werde ich dir nicht geben können.“
„Können oder wollen?“
„Wollen.“ Dieses Wort sprach Annabelle mit einer so klaren Entschiedenheit, dass Viktoria nicht weiter nachfragte.
„Glaubst du, du wirst jemals dorthin zurückkehren?“
„Nein. Und selbst wenn. Die Druiden haben garantiert den letzten Schutzmechanismus aktiviert.“
„Was soll das heißen?“
„Ursprünglich hatten sie einmal geplant, nur denjenigen Zutritt zu gewähren, die drei Prüfungen bestehen konnten.“
Das Quietschen der Tür machte Viktorias Anstalten, Annabelle über die Prüfungen weiter auszufragen, den Gar aus. Bully erschien. Das flackernde Licht über der Tür verlieh seinem Antlitz einen grauenhaften Zug.
„Steh auf.“
Viktoria bewegte sich keinen Millimeter.
„Ich sagte: Steh auf!“, schrie er. Zentimeter für Zentimeter richtete sie sich auf, immer darauf bedacht, sich nicht zu sehr der Wand zuzuneigen. Zum einen könnte er sie sonst innerhalb von Sekunden festnageln, zum anderen wollte sie nicht, dass er sie als ein zu schwaches Opfer wahrnahm.
„Was willst du?“
„Ausnahmsweise nicht dich von hinten“, brummte er.
Viktoria verzog das Gesicht zu einer knurrenden Grimasse.
„Wag es ja nicht“, warnte Bully sie vor, während er langsam nach ihrem Arm griff.
„Die Vorsteherin will dich sehen.“
Sie verstand nicht.
„Was will die Vorsteherin von mir?“
„Was weiß denn ich?“, blaffte Bully zurück. „Ich werde sie wegen einer Rotzgöre wie dir aber garantiert nicht warten lassen!“
„Ich dachte, ich wäre nur ein Stück Dreck“, murmelte Viktoria leise, als sie hinter ihm aus dem Verlies schritt.
Kurz spannte sich sein Nacken an, dann aber zerrte er sie nur im Laufschritt hinter sich her. Als sie oben im Bürotrakt angekommen waren, war Viktoria unfassbar schwindelig. Vielleicht waren die zwei Bissen Brei doch nicht so nahrhaft gewesen, wie ihr Magen geglaubt hatte.
„Lass uns in Ruhe“, wies die Vorsteherin Bully zurecht, der sich neben dem Tisch aufbauen wollte.
„Natürlich.“ Er nickte unterwürfig und verließ das Zimmer.
Unschlüssig stand Viktoria vor dem massiven Schreibtisch der Vorsteherin, die in einem breiten Sessel dahinter saß. Nirgendwo sonst hatte sie jemals Möbel wie diese gesehen. Dunkles Holz und etwas, von dem sie glaubte, dass es Leder war. Wir Rafis schwarze Jacke aus der alten Zeit. Abschätzig musterte die Vorsteherin sie.
„Es ist lange her, dass du in eines der Verliese gesteckt werden musstet.“
Viktoria schwieg. Sie wusste nur zu genau, dass dieser Satz nicht als Aufforderung ihrer Verteidigung gedacht war. Er war nur eine Einleitung zu dem, was die ältere Frau wirklich von ihr wollte.
„Was schade ist, denn ich dachte, du gehst mit positivem Beispiel voran und zeigst den anderen Patienten, wie gut das Leben hier sein kann, wenn man sich zu benehmen weiß.“
Es brauchte ein bisschen, bis Viktoria begriff, was die Vorsteherin meinte.
„Unser Zentralrat hält diese Einrichtung nicht umsonst am Leben. Trotzdem oder gerade deswegen muss hier alles nach Plan laufen. Kann ich dabei wie bisher weiter auf dich und deine Kooperation zählen?“
Mit einem Mal fühlte sie sich, als hätte ihr jemand mit der Faust in den Magen geschlagen und alle Luft und allen Sauerstoff aus ihren Lungen geprügelt. Sie spielte eine Randrolle. Sie wurde von niemandem beachtet, weil sie niemandem Achtung schenkte. Das war ihr Mantra. Was die Vorsteherin ihr da zu verstehen gab, war, dass sie eine Vorzeigepuppe des Zentralrats war. Des Regimes, wie Annabelle es genannt hatte. Saurer Geschmack zog sich in ihren Mundwinkeln zusammen und Viktoria erbrach sich in den halbleeren Mülleimer, der zur Leerung neben der Tür gestanden hatte. Als die Würgreize verebbten, blickte sie auf in das steinharte Gesicht der Vorsteherin.
„Ich bitte dich. Hatte ich nicht gerade von Benehmen gesprochen?“
Wieder erbrach sich Viktoria, doch ihr Körper mühte sich vergebens ab. Wo nichts war, konnte nichts hochkommen.
„Ich fasse mich kurz, liebes Kind, denn das bist du noch immer. Kehr zurück in deine Zelle, sei ein braves Mädchen, zeig dich von deiner besten Seite!“
Nun säuselte sie fast schon und das gewinnende Lächeln geriet zu einer grotesken Grimasse.
„Ich bin mir sicher, wenn wir bisher so wunderbar miteinander ausgekommen sind, wirst du keine Schwierigkeiten haben, zu diesem Status zurückzukehren. Sicherlich weißt du noch, wie wir mit Widerständlern umgehen. Du darfst gehen.“
Mit mechanischen Bewegungen drehte Viktoria sich um und verließ das Zimmer. Hinter ihr fiel eine schwere Stahltür ins Schloss. Vielleicht für den Fall, dass eine weitere Rebellion losbrach. Und offenbar war das genau das, wovor die Vorsteherin sie gewarnt hatte: Sie sollte die Füße still halten und sich brav benehmen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie sackte gegen die Wand.
Sie erwachte davon, dass raue Hände sich am Gummizug ihrer Stoffhose zu schaffen machten. Mit einer schwachen Handbewegung wollte sie die lästigen Finger beiseiteschieben, aber die hörten nicht auf. Jemand schnaufte ihr ins Gesicht. Entsetzt riss sie die Augen auf und war mit einem Schlag hellwach.
„Nein!“, rief sie erstickt, als sich auch schon eine haarige Pranke über ihren Mund legte. Bully grinste gierig, während er sie von oben bis unten musterte.
Viktoria versuchte zu schreien, aber seine Hand erstickte jeden Laut. Mit Leichtigkeit drückte er ihre Hände gegen die Wand und drängt seinen Körper gegen ihren.
„Was meinst du, sollten wir uns ein leeres Büro suchen?“, schnaufte er in ihr Ohr. „Ich musste lange genug auf dich aufpassen, warum sollten wir jetzt nicht endlich ein wenig Spaß haben, bevor unser gemeinsames Abenteuer zu Ende geht?“
Viktoria antwortete nicht, sondern mühte sich vergeblich damit ab, sich unter ihm herauszuwinden.
„Wer weiß, ob ich dieses Drecksloch jemals verlassen werde!“
Wut schlich sich in Bullys Stimme und gab ihm noch mehr Kraft. Sein Schweißgeruch stieg ihr in die Nase und wieder musste sie heftig würgen. Das schien Bully zu gefallen, denn er begann, sich an ihr zu reiben. Dabei rutschte seine Hand etwas von ihrem Mund herunter. Viktoria nutzte die Chance und biss ihm in die Finger. Vor Überraschung und Schmerz schrie er laut auf.
„Du Schlampe!“
„Lass mich los!“, kreischte Viktoria und bäumte sich auf.
Gegenüber wurde die Tür gemächlich aufgeschoben.
„Was ist hier los?“, verlangte die Vorsteherin mit lauter, aber ruhiger Stimme zu wissen. Augenblicklich ließ Bully von ihr ab.
„Sie wollte nicht in ihre Zelle zurückgehen“, log er mit unbewegter Miene.
Viktorias Entsetzen zeigte sich in ihrem Gesicht und die Vorsteherin musterte sie aufmerksam.
„Findest du den Weg alleine zurück?“
Zitternd nickte Viktoria. Sie entzog Bully ihren Arm und rannte sofort los. Die Situation mochte jetzt glimpflich verlaufen sein, aber wer würde später eingreifen, wenn sie allein in ihrer Zelle war? Sie musste sich etwas einfallen lassen und zwar bald.
Sie beachtete niemanden und zog sogar die Tür zu ihrer Höhle zu, bevor sie sich auf ihr Bett fallen ließ und einigen Tränen freien Lauf ließ. Dann trocknete sie ihr Gesicht ab und ging in die Waschräume. Seit dem Aufenthalt unten stank sie erbärmlich nach Schimmel und Moder, außerdem wollte sie das Gefühl von Bullys Händen auf ihrem Körper loswerden.
Auf dem Rückweg ging sie bei Mo vorbei. Sie hatte keine Ahnung, wie die Frau wirklich hieß. Jeder nannte sie Mo und dabei würde es wohl für immer bleiben.
„Du bist schon wieder da?“
In der Tat, es war unüblich, nur einen bis zwei Tage in den Verliesen zu verbringen.
„Hast du eine Scheibe Brot?“
„Komm her, setz dich hin“, sie wies auf ihre Bettkante. Viktoria wusste genau, dass Widerspruch hier mehr als nur zwecklos war. Nicht umsonst war Mo eine zentrale Anlaufstelle für die Einwohner dieser Anstalt. Gehorsam ließ sie sich nieder und starrte den Boden an. Prüfend wurde sie gemustert und die Stille zog sich in die Länge. Schließlich blickte sie auf, eine Träne glitzerte in ihren langen Wimpern.
„Der Dreckskerl hat es also endlich versucht?“
Schweigend nickte sie.
„Hatte er Erfolg?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Braves Mädchen.“
Die Erinnerung an die Worte der Vorsteherin gingen ihr durch den Kopf und ihr wurde übel. Sie bekämpfte den Reiz und schluckte krampfhaft hinunter. Mo reichte ihr einen harten Kanten Brot, den Viktoria sofort anknabberte.
„Wie wirst du dich verteidigen?“
„Ich weiß es noch nicht. Einen Löffel klauen?“ Sie lachte bitter auf. „Lange genug hat es gedauert, bis einer was versucht hat. Jetzt bin ich eben einfach dran.“
„Sag das nicht! Außerdem solltest du niemals so leicht aufgeben!“
Die Verzweiflung musste sich in ihren Augen zeigen, denn Mo setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
„Gib nicht auf, ich bitte dich. Du bist wie lange hier? 15, 16 Jahre? Dann bist du nach der Rebellion hergekommen und ich möchte wetten, dass es kein gestohlenes Stück Brot war, das dich hier rein gebracht hat.“
„Nicht wirklich“, gab Viktoria mit leiser Stimme zu.
„Siehst du. Und wenn sie dich nicht dafür getötet haben, sondern so lange in einer Anstalt eingesperrt, musst du für sie noch von Nutzen sein. Den Aufwand machen sie sich schließlich nicht umsonst.“
Viktoria stand der Mund offen.
„Was sagst du da?“
Jetzt war es an Mo, mitleidig zu schauen.
„Hast du es denn immer noch nicht begriffen?“
Die Antwort erübrigte sich, denn sie lag auf der Hand.
„Lass mich dir etwas erklären: Ich bin seit vier Jahren hier. Soll ich dir erzählen, wie vor dieser Zeit der Stand der Dinge außerhalb dieser Anstalt war?“
Sie zögerte. Wenn sie dieses Angebot annahm, konnte sie ihre Traumwelt aufgeben. Die Welt, in der ihr Bruder noch lebte und da draußen auf sie wartete. Mo schaute sie immer noch mitleidig an.
„Geh in dein Zimmer. Mach die Tür zu. Wenn du morgen noch lebst, komm wieder vorbei.“
Viktorias Augen wurden immer größer. Wenn sie noch lebte? Sicher, Bully war ein Tier, ein primitives Stück Biologie. Aber umbringen würde er sie nicht. Oder?
„Los, geh“, wiederholte Mo.
Wortlos erhob sie sich, warf noch einen letzten verzweifelten Blick zurück und ging gesenkten Haupts zurück zu ihrer Höhle.