Читать книгу Das Wissen der Welt - E. T. Byrnes - Страница 8
Freiheit (Ursprung plus 16 Jahre)
Оглавление– Viktoria –
Dort angekommen fand sie ein kleines Tablett ohne Besteck auf ihrem Bett. Vielleicht von Peter. Hungrig stopfte sie sich das Brot in den Mund und schaufelte sich mit ihren Fingern den Brei in den Rachen. Zuletzt schleckte sie das Tablett sauber und stellte es unter ihr Bett. Dort sah man es nicht auf den ersten Blick und wer auch immer ihr wohlgesonnen war, konnte es trotzdem schnell entfernen, bevor jemand anderes auf seine Spur käme. Anschließend saß sie auf ihrer Pritsche und starrte auf die weiße Wand. Ihr Magen knurrte immer noch.
In Gedanken projizierte sie Bilder auf die helle Wand und spann dunkle Fäden dazwischen. Von dem Regime zur Vorsteherin, zu Bully, zu ihr. Eine gerade Linie, die zum Zweck hatte, sie ruhig zu halten. Die Frage nach dem Warum drängte sich in den Vordergrund. Ging es darum, sie stillschweigend zu verstecken? Dann konnten sie das mit einer Kugel und einem dunklen Grab effizienter und kostengünstiger erledigen. Seit sie fünf Jahre alt war, befand sie sich in der Anstalt. Sie hatte keine Fäden, die sie mit der Außenwelt verbinden würden. Hier drin kannte sie niemanden so gut wie Sue und Mags. Vermutlich nur noch Sue, korrigierte sie sich in Gedanken. Und Bully. Der sie heute Nacht besuchen kommen würde, daran bestand kein Zweifel. Von ihm aus ging ein Faden ins Nichts. Wieso meinte er, auf sie aufgepasst zu haben? Wer sollte ihn vergessen haben? Und warum würde Bully deshalb Rache an ihr nehmen wollen? Sie seufzte auf. In Wahrheit wusste sie einfach nichts.
Eine weitere Linie erschien vor ihrem inneren Auge – vom Regime zur Anstalt zu Mo. Was auch immer sie angestellt haben mochte, woraus bestand der Faden zwischen Mo und der Vorsteherin? Er mochte so dünn sein wie ein Spinnenfaden, aber auch er hatte Bestand. Niemand außer der Vorsteherin gab in diesen Wänden die Befehle. War Mo nichts weiter als ein braver kleiner Zinnsoldat, der unter den Bewohnern seine Ruhe behielt und Unterhaltungen und Verhalten an die Spitze weitermeldete? Viktoria stellte sich vor, wie sie ihre Hand zu dem Spinnenfaden hob und daran zupfte. Ein leichter Ton erklang, als wäre er die Saite eines Instruments. Er mochte zart sein, aber er war widerstandsfähig. Dennoch führte er auch von Mo zu ihr, denn sie hatte Viktoria gewarnt. Von Mo führte je ein Faden zu einem Patient. Sie war eine Person, um die man als Insasse einfach nicht herumkam. Strategisch explizit gut platziert.
Viktorias Stirn kräuselte sich. Es gefiel ihr nicht, was um sie herum geschah. Was mit ihr geschah. Denn sie war es, die plötzlich Gespenster in jeder Ecke sah. Die Misstrauen in sich aufwallen fühlte. Das wiederum einen Anspruch an sie stellte: Was war die Wahrheit? Sie lebte in einem Kokon, der sie von der Außenwelt abschottete. Und beschützte. Ohne Rafi brauchte sie jeden Schutz, den sie bekommen konnte.
Es klopfte. Viktoria fuhr herum und wich ein paar Schritte zurück. Sie antwortete nicht, sondern stand sprungbereit neben ihrem Bett und starrte auf den einzigen Ausgang ihrer Höhle. Die Türklinke senkte sich ein bisschen ab. Millimeter für Millimeter arbeitete sie sich lautlos nach unten, bis ein erster Spalt erschien. Etwas Licht stahl sich hindurch und fiel auf den Boden, direkt bis hin zu Viktorias Füßen. Sie hatte keine Waffe. Sie hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Eine männliche Hand schob sich durch den Spalt und tastete nach dem Lichtschalter. Ohne jedes Geräusch glitt sie darüber und zog sie wieder zurück. Ein Überfall im Dunklen also.
Viktoria atmete durch. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Die Tür öffnete sich ein weiteres Stück. Halb erwartete sie, dass Bully nun mit Schwung durch die Öffnung springen würde und spannte sich an. Nur weil sie keine Waffe hatte, musste sie es ihm nicht unnötig leicht machen!
Dann traute sie ihren Augen kaum. Eine Tasche wurde auf dem Boden durch den Türspalt gehoben und die Tür leise und langsam wieder geschlossen. Viktoria verharrte auf ihrer Position. Hier stimmte etwas nicht. War der Typ vor ihrer Tür überhaupt Bully? Was sollte die Tasche? Warum wollte ihr jemand etwas geben? Vielleicht wollte ihr jemand was anhängen. Sie für immer nach unten in die Verliese bringen. Unruhe bemächtigte sich ihrer und zwang sie zum Ausatmen. Sie lockerte ihre verkrampften Hände und ließ die Schultern sinken. Die Tür war zu, der Griff horizontal. Wenn jemand doch wieder reinkommen wollte, würde sie es sofort sehen.
Unsicher stakste sie einige Schritte nach vorne und ließ sich auf ein Knie sinken. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, streckte sie eine Hand aus und zog die Tasche zu sich. Sie war alt. Scheinbar hatte sie damals einen künstlichen Verschluss, der sich wie eine Naht der Länge nach hinzog. Irgendwann mochte er den Geist aufgegeben haben, wie so einige Dinge der alten Welt. Jemand hatte grobe Holzstücke auf der einen Seite befestigt und schmale Löcher in die andere geschnitten. Nicht wirklich wasserdicht, aber tat wohl seinen Dienst. Ihre Hand stahl sich ins Innere und fühlte Stoff. War das etwa Kleidung? Sie zog am Stoff und eine Hose stahl sich aus der Lücke zwischen den Knöpfen. Das Material war seltsam glatt und fest. Verwundert strich sie darüber. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und knöpfte die Tasche gar auf. Eine Art Jacke aus dem gleichen Material. Viktoria war sich nicht sicher, ob sie da wirklich reinpassen könnte. Sie hatte eine Kapuze! Das war unerhört praktisch. Dass es solche Kleidung heutzutage überhaupt noch gab? Nachdenklich breitete sie vor sich aus. Wer würde so hart daran arbeiten, sie in Schwierigkeiten zu bringen? Ein Löffel unter der Matratze hätte vollkommen ausgereicht.
Einer verrückten Eingebung folgend schlüpfte sie in die Hose und ein T-förmig geschnittenes Oberteil mit langen Ärmeln, das unfassbar eng an ihrem schmalen Körper anlag. Die Jacke legte sich wie eine zweite Haut darüber. Verwirrt starrte sie an sich herab, als ihr ihre Füße auffielen, die immer noch in den weißen Stoffschlappen steckten, die zur Anstalt gehörten. Ein leises Klopfen ertönte. Sofort zuckte Viktoria zurück. Sie verfluchte ihre Neugier, als sie vergeblich versuchte, in der dunklen Kleidung mit der weißen Wand zu verschmelzen. Grandios, wirklich großartige Vorstellung meine Damen und Herren. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und eine tiefe Stimme flüsterte eine Botschaft. In ihrer Angst verstand Viktoria kein Wort.
Stille. Der Unbekannte wartete auf ihre Antwort. Sie öffnete den Mund, aber brachte kein Wort heraus. Sie räusperte sich leise.
„Wie bitte?“
Fast konnte sie die Wut des Unbekannten mit den Händen greifen.
„Fertig?“, zischte es als Nächstes aus dem Dunkel.
„Ich glaube ja.“
Ein ungeduldiges Zungenschnalzen ertönte und der Spalt öffnete sich ein weiteres Stück. Ein vermummter Kopf erschien und Viktorias Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wurde von Kopf bis Fuß gemustert und es dauerte keine Sekunde, bis die Gestalt hineinhuschte, die Tasche ergriff und sie ihr vor die Füße warf. Ein dunkles Wesen. Die Erinnerung an den Todestag ihres Bruders überrollte sie wie ein Tsunami. Ihr wurde schwindlig, sie sackte gegen die Wand. Tränen schossen ihr in die Augen, die Angst vor den dunklen Gestalten saß wie eine hässliche Kröte vor ihr und lachte sie hämisch aus. Aber die Gestalt in ihrem Zimmer blieb wo sie war und machte keinerlei Anstalten, sich auf Viktoria zu stürzen.
„Schuhe!“
„Bitte?“
Die Gestalt knurrte.
„Zieh die Stiefel an und beeil dich!“
Ohne das dunkle Wesen aus den Augen zu verlieren, beugte sie ihre Knie und suchte mit einer Hand in der Tasche nach Schuhen. Sie waren ebenfalls fest, stark und glatt. Waren diese Dinge wirklich ein Teil der alten Welt? Sie wirkten so neu. Misstrauisch beäugte sie die Schuhe. Ein komplizierter Schnürmechanismus diente zum Festbinden.
„Ich sagte Beeilung!“, zischte die tiefe Stimme wieder. Viktorias Bewegungen wurden langsamer. Erkannte sie die Gestalt? Die Art, wie sie sich bewegte, kam ihr bekannt vor. Doch wer das auch war, verlor die Geduld mit ihr. Mit drei schnellen Schritten war die Person bei ihr und ragte drohend über Viktoria auf. Sie erstarrte, die Augen aufgerissen. Mit geradezu sanften Bewegungen ergriff diese die Schuhe, kniete sich selbst auf den Boden und zog ihr den ersten an. Wie betäubt saß Viktoria auf dem Boden und sah dabei zu. Sie hatte keine Ahnung mehr, was sie fühlte oder in welcher Situation sie gerade steckte. Es war zu surreal. Jemand staffierte sie mit einem Outfit aus, das für die Außenwelt gemacht war. Gestern war sie abends in Einzelhaft gesessen, alleine und vollkommen im Reinen damit, ihr restliches Leben in dieser weißen Hölle zu verbringen.
Eine Option, die offenbar nicht bestand. Gänsehaut überzog ihre Arme und sie zitterte. Was sich nicht geändert hatte war, dass man ihr keine Wahl ließ. Wortlos ließ sie sich aufhelfen. Probeweise ging sie ein paar Schritte. Ihre Füße federten weich zurück. Das waren Schuhe, die zum Laufen gemacht wurden. Sie sah auf und blickte in zwei grüne Augen. Das Gesicht war mit einem schwarzen Tuch vermummt, was die Augen umso stärker strahlen ließ. Sie leuchteten nicht warm, sondern waren voller Energie. Und Wut, wenn er wie jetzt die Augen zusammenkniff. Alles oder nichts. Sie konnte die Kleidung wieder ablegen und in ihre weiße Hölle zurückkehren. Oder sie konnte mitgehen und sehen, was die Welt in ihrer Abwesenheit so getrieben hatte. Und denjenigen ausfindig machen, der sie aus dieser Anstalt raus haben wollte. Und verdammt noch mal fragen warum.
Viktoria biss die Kiefer zusammen und reckte das Kinn hoch. Na dann los. Die Gestalt vor ihr glitt lautlos zur Tür. Mit umsichtigen Bewegungen öffnete sie sie und legte den Kopf schief. Viktoria wunderte sich, dann begriff sie. Vögel legten den Kopf schief, wenn sie besser hören wollten. Probeweise neigte sie ihren Kopf. Nein, da war nichts. Ihr mysteriöser Besucher schien zum gleichen Schluss zu kommen und öffnete die Tür ganz. Nach einem prüfenden Blick in den Gang drehte er sich zu ihr herum und bedeutete ihr, die Kapuze hochzuschlagen. Ohne zu zögern, kam Viktoria der Aufforderung nach.
„Was auch passiert, lass die Kapuze nicht runter.“
Noch etwas, das sie irritierte.
Auf ein Winken der dunklen Hand begann sie, sich nach vorne zu bewegen. Ein kleiner Teil von ihr schien über ihr zu schweben und sie zu beobachten. Setzte sie tatsächlich einen Fuß vor den anderen, ging immer einen Schritt weiter? Konnte sie noch umkehren? Sollte sie? Vor der Türschwelle blieb sie stehen, während die dunkle Gestalt bereits zur nächsten Ecke gehetzt war, wo ein anderer Gang den ihren kreuzte. Die Wahl war die ihre und sie war es auch nicht. Fast ohne ihr Zutun hob sich ihr Fuß und setzte einen Zentimeter hinter der Türschwelle wieder auf. Es war getan, sie hatte die Grenze überschritten.
Ein Zischen riss sie aus ihren Gedanken. Der Unbekannte hatte sich zu ihr herumgedreht und starrte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Ein Blick nach rechts verriet ihr, dass niemand im Gang stand. Mit gesenktem Kopf huschte sie nach vorn. Jeder Schritt knallte in ihren Ohren wie Schüsse. Rafi. Er war nicht dort draußen in der Welt. Er wartete nicht auf sie. Aber die Welt war voller Kreaturen, jemand schien Interesse an ihr und ihrem Leben zu haben.
Sie vermisste die weißen Schuhe bereits jetzt. Sie waren sanfter, bequemer und verursachten keine Geräusche. Auch ihr Retter musste den Pegel als Lärm einstufen, denn er sah alarmiert die Gänge hinauf und hinunter, ließ alle Gefahr beiseite, griff Viktorias Hand und rannte los. Hinter ihnen öffneten sich Türen, wurden erste Schreie laut. Links, rechts, endlos gerade aus und fast wären sie an einer unscheinbaren Tür vorbeigerannt. Doch ihr Begleiter legte eine Vollbremsung ein, die Viktoria fast einige Meter weiter nach vorn in die falsche Richtung geschleudert hätte, hätte seine Hand sich nicht verlässlich um ihre geschlungen. Mit einer energischen Bewegung warf er sich gegen die Tür, deren Schloss platzte und sie hindurch ließ. Eine Treppe. Er zog sie bergauf. Die Schreie wurden lauter. Eine Sirene ertönte. Sie heulte auf und ab, wie Wellen brandeten die schiefen Töne an Viktorias Ohren. Sie hatte aufgegeben, einen Sinn in den Ereignissen dieser Nacht zu sehen.
Sie stürzten wieder durch eine Tür und kühle Nachtluft schlug ihnen ins Gesicht. Er ließ ihre Hand nicht los. Vorsichtig näherte er sich mit Viktoria im Schlepptau dem Dachrand. Prüfend blickte er nach unten. Er korrigierte seine Position um einige Meter nach rechts und blickte wieder in den Abgrund. Viktoria schauderte und wollte zurückweichen. Doch er ließ immer noch nicht los. Vertraute sie ihm? Sie hatte keine Ahnung. Es war unwahrscheinlich, dass er sie einfach töten wollte, das hätte er anders auch haben können. Endlich schien er mit seiner Position zufrieden, als hinter ihnen die Metalltür aufflog und mit einem hässlichen Krachen gegen die Wand schlug.
„Bleibt wo ihr seid!“, rief eine männliche Stimme.
Bully? Viktoria drehte sich um. Nein, einer der anderen Pfleger. Sie hatte ihren Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie fremde Hände um ihre Taille spürte. Sie rissen sie nach hinten. Für einen Moment war selbst sie zu überrascht, um sich zu wehren, doch als sie die Richtung im Kopf richtig einordnete, begann sie um sich zu schlagen. Sie musste ihn getroffen haben, denn von irgendwo her drang ein Schmerzensschrei zu ihr. Es half nichts. Sie schlug, strampelte und wand sich hin und her, doch mittlerweile hielte er sie umschlungen. Mit ihr in seinen Armen vollführte er einen halben Kreis. Mit Entsetzen realisierte sie, wofür das gut war. Er holte Schwung. Als er sie über die Brüstung warf, brach ein markerschütternder Schrei von ihren Lippen und stürmte wie eine Schockwelle durch die Nacht. Der Wind fuhr schmerzhaft in ihr Gesicht, der Boden kam unerbittlich näher. Mitten in der Luft drehte ihr Körper sich und sie sah nach oben. Durch die Schwärze leuchtete ein helles Gesicht über die Brüstung. In der Schrecksekunde bevor sie ihren letzten Schrei ausstieß, sah sie sein Gesicht.
Bully.
Er lächelte bösartig.
Mit einer schnellen Armbewegung schleuderte er ihr etwas hinterher und Viktoria erkannte, dass es die Überreste eines verbrannten Stück Papiers sein mussten, bevor ihr Körper sich wieder drehte und unaufhaltsam dem Boden entgegen raste.