Читать книгу Totengesicht - Eberhard Weidner - Страница 3

PROLOG

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Ich wusste, dass der Mann, den ich verfolgte, demnächst sterben würde, denn ich hatte das Antlitz des Todes in seinem Gesicht gesehen.

Dabei war ich ihm erst vor wenigen Minuten in der U-Bahn zum ersten Mal begegnet, als sich unsere Hände im dichten Gedränge zufällig berührten. Ich zog sofort erschrocken meine Hand zurück und wandte den Kopf in seine Richtung. Doch es war zu spät. Die Berührung, die lediglich den Bruchteil eines Augenblicks gewährt hatte, reichte aus, um mir zu zeigen, was ich eigentlich gar nicht sehen und wissen wollte.

Der Mann war dem Tode geweiht!

Er sah mich ebenfalls an, doch den Ausdruck in seinem Gesicht konnte ich nicht erkennen, da mich stattdessen ein Totengesicht anstarrte. Ich erschauderte unwillkürlich am ganzen Körper und schloss die Augen, als könnte ich das Bild auf diese Weise zum Erlöschen bringen. Doch als ich sie wieder öffnete und ihn erneut ansah, war die Erscheinung – oder worum auch immer es sich dabei handelte – noch immer da.

Es sah aus, als würde ich mit dem rechten und dem linken Auge zwei unterschiedliche Bilder sehen, die in meinem Kopf übereinander projiziert wurden. Ich erkannte zwar die Gestalt des Mannes und die Umrisse seines Kopfes. Doch anstelle seines Gesichts sah ich einen düsteren Fleck in der Form eines Totenschädels, der es ausfüllte und die natürlichen Gesichtszüge unkenntlich machte. Ich hatte so etwas in den letzten anderthalb Jahren schon öfter gesehen, als mir lieb sein konnte. Doch es war jedes Mal wieder aufs Neue erschreckend und furchtbar.

Nach ein paar Sekunden verblasste der schattenartige Totenkopf, der sich wie eine düstere Unheilwolke über seine Gesichtszüge gelegt hatte, allmählich wieder, und sein normales Gesicht kam zum Vorschein. Er sah mich zornig und gleichzeitig irritiert an. Vermutlich war er ratlos und wütend, weil ich ihn so erschrocken angestarrt hatte. Wir wandten gleichzeitig betreten den Blick ab und sahen in verschiedene Richtungen.

Dennoch konnte ich nicht ungeschehen machen oder vergessen, was ich gesehen hatte.

Denn es bedeutete, dass er sterben würde!

Noch wusste ich zu wenig über die Gabe, die mir allerdings eher wie ein Fluch erschien und die ich erst seit etwa 18 Monaten besaß. Eines wusste ich jedoch mit Sicherheit: Diejenigen, in deren Gesichtern ich das Antlitz des Todes sah, hatten allerhöchstens noch 72 Stunden zu leben.

Als die U-Bahn langsamer wurde, weil sie sich der nächsten Station näherte, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte. Ich wusste, dass jeder Versuch, den Mann vor seinem Schicksal bewahren zu wollen, zum Scheitern verurteilt war. Zumindest hatte es in all den vorherigen Fällen, in denen ich es versucht hatte, nicht funktioniert. Ich ging daher davon aus, dass sein Tod schon jetzt vorherbestimmt war und von niemandem verhindert werden konnte. Aber vielleicht war es ja dieses Mal anders. Vielleicht konnte ich es dieses Mal schaffen.

Ich seufzte, als die U-Bahn mit einem Ruck anhielt, der mich einen halben Schritt nach vorn taumeln ließ. Ich hatte es nämlich nicht mehr gewagt, mich irgendwo festzuhalten. Ich hatte Angst, ich könnte noch einmal versehentlich direkten Körperkontakt zu jemandem bekommen, der zufälligerweise innerhalb der nächsten drei Tage sterben würde. Denn nur dann war ich in der Lage, das Totengesicht der betreffenden Person zu sehen. Zum Glück war das Gedränge so groß, dass ich nicht umfallen konnte. Allerdings stieß der Mann vor mir, den ich anrempelte, ein ärgerliches Grunzen aus.

Ich behielt meine bloßen Hände dicht am Körper, als ich in der Menge wie in einem Fischschwarm aus der U-Bahn und auf den Bahnsteig geschwemmt wurde. Vielleicht war es doch langsam an der Zeit, dass ich mir auch im Sommer dünne Handschuhe anzog, um mich vor unliebsamen Berührungen und dem Anblick der Totengesichter zu schützen. Auch wenn meine Hände darin schwitzen würden und ich damit vermutlich wie der letzte Idiot aussah. Aber ich wollte nicht wissen, ob die Menschen, denen ich begegnete, demnächst sterben mussten, da dieses Wissen mich stets vor die alles entscheidende Frage stellte, was ich damit anfangen sollte. Sollte ich dem Schicksal, das ich anscheinend ohnehin nicht verändern konnte, einfach seinen Lauf lassen und untätig bleiben? Oder sollte ich die dem Tode geweihte Person verfolgen, weil ich die Hoffnung trotz aller Fehlschläge in der Vergangenheit noch immer nicht völlig aufgegeben hatte? Denn wozu sollte meine Gabe – oder der Fluch – denn sonst gut sein, wenn ich gar nicht in der Lage war, etwas zu verändern?

Ohne dass es mir sofort bewusst geworden war, hatte ich mich an den Rand der Menschenmasse schwemmen lassen, die wie eine Herde Schafe zur Rolltreppe strömte. Ich blieb vor der gekachelten Wand der U-Bahnstation stehen, wandte mich um und ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Es sah so aus, als hätte ich meine Entscheidung, was ich tun sollte, längst gefällt, völlig intuitiv und ohne bewusst darüber nachzudenken.

Zuerst dachte ich, der Mann, dessen Totengesicht ich gesehen hatte, wäre längst weg oder in der U-Bahn geblieben, denn die Menge vor mir lichtete sich merklich. Doch dann entdeckte ich ihn. Er hatte sich etwas zurückfallen lassen, um dem dichtesten Gedränge zu entgehen, und gehörte zu den Nachzüglern, die sich in Richtung Rolltreppe bewegten.

Obwohl ich ihn nur von hinten sah, erkannte ich ihn dennoch sofort wieder. Er trug einen schwarzen, für meine Begriffe sehr teuer wirkenden zweiteiligen Businessanzug und schwarze Budapester. Sein kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar war schon leicht ergraut und auf der linken Seite seines Kopfes gescheitelt. Der Scheitel war schnurgerade und sah aus, als wäre er mit einer Axt gezogen worden. Außerdem trug er eine Brille, deren Bügel ich hinter seinen zu groß geratenen, leicht abstehenden Ohren erkennen konnte. Ich wusste auch, dass er eine dunkelbraune Aktentasche bei sich hatte, obwohl ich sie von hinten nicht sehen konnte, denn er trug sie mit beiden Händen umklammert vor der Brust, als hätte er Angst, jemand könnte sie ihm entreißen. Die Tasche und die Art, wie er sie hielt, waren mir beiläufig aufgefallen, als ich ihn in der U-Bahn von vorn gesehen hatte, unmittelbar nachdem wir uns zufällig berührt hatten.

Ich fragte mich natürlich, was er bei sich hatte, dass er so besorgt darüber zu sein schien, es könnte ihm gestohlen werden. Es musste etwas Wichtiges sein. Andererseits konnte man im dichten Gedränge der U-Bahn, in der Taschendiebe leichtes Spiel hatten, nicht vorsichtig genug sein.

Bevor der Mann die Rolltreppe erreichte, setzte ich mich ebenfalls in Bewegung. Ich sah auf die Uhr, die über dem Bahnsteig hing. Es war kurz vor fünf Uhr am Nachmittag, doch ich hatte noch genügend Zeit, bevor ich mich in einem Café ganz in der Nähe mit einem Bekannten treffen wollte.

Im Gegensatz zu mir schien es der Todgeweihte jetzt allerdings doch eilig zu haben, denn er ging die Stufen der Rolltreppe hinauf, um schneller oben zu sein. Ich folgte seinem Beispiel und passierte all die anderen Leute, die es gemächlicher angingen und sich nach oben tragen ließen.

Die Rolltreppe brachte uns ins Freie und zurück ins helle Tageslicht. Zum Glück regnete es nicht, obwohl der Himmel dicht bewölkt und düster war, denn ich hatte keinen Schirm dabei. Einen längeren Spaziergang im Freien hatte ich schließlich nicht eingeplant gehabt, als ich von zu Hause losgegangen war.

Nachdem der Mann von der Rolltreppe auf den Bürgersteig getreten war, blieb er kurz stehen und sah sich um, als müsste er sich orientieren. Vielleicht war er in diesem Teil von München noch nie zuvor gewesen. Ich blieb auf der Stufe der Rolltreppe, auf der ich mich gerade befand, stehen und ließ mich den Rest der Strecke nach oben tragen, denn ich wollte ihn nicht einholen.

Zum Glück hatte er sich schon alsbald orientiert und setzte sich in Bewegung, bevor ich oben ankam. Er wandte sich nach rechts und marschierte zügig auf die nächste Straßenkreuzung zu. Zweifellos wollte er eine der Straßen überqueren, die sich dort trafen. Ich folgte ihm im selben Tempo, um ihn nicht zu verlieren. Als er am Straßenrand anhielt, weil die Fußgängerampel Rot zeigte, ging ich langsamer. Nachdem die Ampel auf Grün geschaltet hatte, eilte er weiter und überquerte die Straße. Auch ich erhöhte mein Tempo wieder und bemühte mich, mit ihm Schritt zu halten.

So ging es die nächsten 20 Minuten. Allerdings wunderte ich mich schon bald, wohin der andere wollte, denn er schien kein festes Ziel zu haben. Stattdessen marschierte er kreuz und quer durch die Straßen. Immer wieder änderte er scheinbar willkürlich die Richtung. Ich kannte mich in dieser Gegend ein wenig aus, da ich schon öfter in der Nähe zu tun gehabt hatte, dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, wohin der Mann unterwegs war. Schon nach wenigen Minuten erschien es mir beinahe so, als wollte der Todgeweihte durch sein unvorhersehbares Verhalten und seine überraschenden Richtungsänderungen etwaige Verfolger abhängen. Andererseits sah er sich kein einziges Mal um, ob er tatsächlich verfolgt wurde. So bestand auch nie die Gefahr, dass er mich entdecken könnte. Dann kam mir der Gedanke, dass er möglicherweise eine Verabredung hatte, zu früh dran war und nun die Zeit totschlug, indem er scheinbar ziellos durch die Gegend wanderte und sich seinem Ziel nicht direkt, sondern über Umwege näherte.

Ich fragte mich aber auch, ob sein merkwürdiges Verhalten etwas mit dem Inhalt der Aktentasche zu tun hatte, die er die ganze Zeit über, selbst nachdem er aus dem dichten Gedränge der U-Bahn heraus war, fest an seine Brust presste und mit beiden Armen umklammert hielt. Und vielleicht hatte all das ja auch etwas mit seinem Tod zu tun, der ihn demnächst unweigerlich ereilen würde. Denn obwohl ich in seinem Gesicht das Antlitz des Todes gesehen hatte, wusste ich natürlich nicht, wie und woran er sterben würde. Die Totengesichter zeigten mir nur, dass jemand starb, jedoch nicht die Ursache seines Todes. In den letzten Monaten war ich diversen Todgeweihten gefolgt, die innerhalb der nächsten 72 Stunden aus den unterschiedlichsten Gründen verstorben waren: Krankheit, Unfall oder Selbstmord. Der Tod selbst kam dabei für mich im Gegensatz zu den Todgeweihten selbst nicht überraschend, nur der exakte Zeitpunkt und die Ursache waren mir unbekannt.

Nach 20 Minuten scheinbarem Umherirren betrat der Mann schließlich ein Parkhaus.

Ich runzelte irritiert die Stirn, während ich nachdachte. Denn wenn der andere dort seinen Wagen geparkt hatte, einstieg und wegfuhr, konnte ich ihm nicht länger folgen. Was sollte ich also tun? Ein Taxi rufen und mich an der Ausfahrt des Parkhauses postieren, um ihn abzufangen, wenn er herausfuhr? Wenn ich in dieser Gegend überhaupt so schnell ein Taxi bekam. Andererseits, argumentierte die rationalere Hälfte meines Verstandes, wäre es auch kein Beinbruch, wenn ich den Mann nicht weiter verfolgen könnte. Denn ihn retten und sein vorherbestimmtes Schicksal verhindern konnte ich wohl ohnehin nicht.

Allerdings hatte ich die Hoffnung, irgendwann doch einmal etwas bewirken zu können, noch immer nicht aufgegeben. Nur deshalb folgte ich ihm bis ins Parkhaus und hoffte, dass ich schon irgendeine Möglichkeit finden würde, um ihm weiterhin auf den Fersen zu bleiben.

Ich hatte damit gerechnet, dass er am Ende der kurzen Schlange vor den Kassenautomaten stehen bleiben würde, um zu bezahlen, und mich bereits nach einer günstigen Stelle umgesehen, an der ich ihn weiterhin im Auge behalten und darauf warten konnte, dass er weiterging. Doch er marschierte schnurstracks an der Schlange vor dem Automaten vorbei zur Treppe.

Wenn er nicht bezahlte, dann konnte er das Parkhaus auch nicht mit dem Wagen verlassen. Demnach hatte er allem Anschein nach gar nicht vor, sein Auto abzuholen. Was hatte er aber dann in einem Parkhaus zu suchen? Während ich selbst die Warteschlange passierte, fiel mir die Aktentasche wieder ein. Entweder wollte er sie im Auto deponieren und einschließen, oder er hatte vor, etwas aus seinem Wagen zu holen.

Ich nahm ebenfalls die Treppe und lief nach oben. Die Stufen und Absätze bestanden aus Stahlgittern und vibrierten lautstark unter meinen Schritten, obwohl ich möglichst leise auftrat. Allerdings konnte ich dadurch auch die Schritte des anderen hören und ihn durch die Lücken in den Gittern undeutlich erkennen, wenn ich nach oben sah. Auf diese Weise bekam ich auch genau mit, wann und wo er das Treppenhaus verließ und welche Parkebene er betrat.

Ebene 3 stand auf der grauen Stahltür, durch die er gegangen war. Ich wartete noch ein paar Sekunden, um ihm genügend Zeit zu geben, sich von der Tür zu entfernen, und mir gleichzeitig eine kurze Verschnaufpause zu gönnen, damit ich nach dem Treppensteigen wieder zu Atem kam. Erst dann öffnete ich die Tür vorsichtig einen Spaltbreit und spähte durch diesen auf die Parkebene.

Ich entdeckte den anderen Mann sofort, denn er entfernte sich, ohne sich umzusehen, mit großen Schritten von der Tür. Beruhigt, dass er schon weit genug weg war und mir nicht auflauerte, weil er unter Umständen bemerkt hatte, dass ich ihn verfolgte, öffnete ich die Tür so weit, dass ich durch den Spalt auf das Parkdeck schlüpfen konnte. Zum Glück knarrte die Tür beim Öffnen nicht, denn dann hätte er sich gewiss umgedreht. Und sobald er mich zu Gesicht bekäme, würde er mich sicher auch erkennen, weil ich ihn in der U-Bahn so entgeistert angestarrt hatte. Einer direkten Konfrontation wollte ich allerdings nach Möglichkeit so lange wie möglich aus dem Weg gehen, denn wie hätte ich ihm erklären können, warum ich ihm folgte, ohne dass er mich für einen durchgeknallten Irren hielt. Außerdem hatte ich festgestellt, dass andere Menschen es einem mitunter sehr übelnahmen, wenn man ihnen ins Gesicht sagte, dass sie spätestens in drei Tagen tot sein würden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken, denn wer will schon wissen, dass er demnächst stirbt. Noch dazu, wenn man daran, so wie es bislang aussah, nicht das Geringste ändern konnte.

Ich ließ die Tür leise hinter mir ins Schloss gleiten, damit sie nicht zufiel, bevor ich meinen Weg fortsetzte. Allerdings ging ich nicht, so wie der andere es tat, auf der Fahrspur zwischen den geparkten Fahrzeugen, sondern benutzte die auf der rechten Seite abgestellten Autos als Deckung und bewegte mich zwischen ihnen und der Seitenwand entlang. So konnte ich mich jederzeit hinter ein Fahrzeug ducken, falls sich der andere doch plötzlich umsah, auch wenn er das bislang kein einziges Mal getan hatte.

Wie gut ich daran tat, zeigte sich keine zwanzig Sekunden später, denn urplötzlich blieb der Mann stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Barriere gerannt. Er schien angestrengt zu einem bestimmten Parkplatz zu starren. Dann holte er mit der freien Hand einen Zettel aus der Innentasche seines Jacketts und sah zuerst darauf und dann wieder zum Parkplatz, auf dem ein schwarzer BMW X6 stand. Mir kam es vor, als würde er die Nummer des Parkplatzes oder des Wagens mit der vergleichen, die auf dem Zettel stand. Schließlich nickte er und sagte etwas, das ich auf diese Distanz – uns trennten mindestens zehn Meter – allerdings nicht verstehen konnte.

Ich musste vorausgeahnt haben, was er als Nächstes tat, denn ich tauchte bereits ab und ging hinter dem Toyota in Deckung, noch ehe er begann, sich umzuwenden und in alle Richtungen zu sehen, als wollte er sichergehen, dass wirklich niemand in der Nähe und er vollkommen allein auf der Parkebene war. Nach zehn Sekunden, die ich in Gedanken abzählte, hob ich den Kopf wieder vorsichtig und spähte über das Autodach hinweg. Ich erschrak, als ich ihn nicht mehr sah, und richtete mich vollständig auf. Doch im selben Moment richtete auch er sich vor dem geparkten X6 auf, wandte sich rasch ab und entfernte sich mit eiligen Schritten.

Ich war verwirrt, daher ließ ich einige Momente verstreichen, ehe ich ihm folgte, und dachte nach. Da ich in Deckung gegangen war, um nicht entdeckt zu werden, hatte ich nicht gesehen, was der Mann in dieser Zeit getan hatte. Aber wenn er den Kofferraum, vor dem er gestanden hatte, geöffnet hätte, dann hätte ich das mit Sicherheit hören müssen. Was hatte er aber dann dort gemacht?

Da ich allein durch Nachdenken diese Frage nicht beantworten konnte, schüttelte ich kurzerhand den Kopf und beeilte mich, dem todgeweihten Mann zu folgen, der inzwischen das Treppenhaus auf der anderen Seite des Parkdecks erreicht hatte und soeben die Tür öffnete. Sobald er außer Sicht und die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, lief ich los, um nicht den Anschluss zu verlieren. Ich erreichte die Tür, auf der Ausgang Nord stand, nur wenige Sekunden, nachdem er verschwunden war, verschnaufte kurz und öffnete die Tür dann langsam. Ich lauschte und konnte seine Schritte auf den Gitterstufen der Treppe unterhalb meines Standorts hören.

Ich huschte ins Treppenhaus und schloss die Tür zum Parkdeck leise hinter mir. Dann ging ich ebenfalls die Stufen nach unten. Da ich nicht verhindern konnte, dass die Stahlgitterkonstruktion unter meinen Schritten erbebte und Lärm verursachte, bemühte ich mich, meine Schritte im Gleichklang mit denen des Mannes zu setzen, dem ich folgte. Allerdings waren auch noch andere Leute im Treppenhaus, kamen von den anderen Parkebenen oder waren zu diesen unterwegs, sodass ich nicht auffiel und nur einer unter vielen war.

Nachdem wir wieder unter anderen Menschen waren, fiel es mir leichter, ihm unauffällig zu folgen. Außerdem musste ich nicht mehr so großen Abstand halten, da ich mich in der Menge verstecken konnte. Als wir im Erdgeschoss ankamen, ignorierte der andere erneut die Kassenautomaten und ging in Richtung Ausgang. Ich schwamm erneut mit dem Strom, als ich ihm folgte, denn alle wollten rasch das Parkhaus verlassen.

Der Todgeweihte trat auf den Bürgersteig vor dem Gebäude. Wegen der anderen Menschen zwischen uns verlor ich ihn für einen Moment aus den Augen, doch dann konnte ich zwischen den Köpfen der anderen hindurch erkennen, dass er nach links und rechts sah, bevor er auf die Straße trat.

Erneut wurde mir die Sicht versperrt, als ein Zeitgenosse, der mich um mindestens einen halben Kopf überragte, sich vor mir einreihte. Doch das störte mich nicht, denn der andere Mann war nur wenige Meter vor mir und überquerte gerade die Straße, sodass ich ihn kaum verlieren würde.

In diesem Moment brüllte ein Motor wie ein wildes Raubtier ohrenbetäubend laut auf, dann kreischten Reifen auf dem Asphalt, als ein Auto vehement beschleunigt wurde. Ich hörte einen dumpfen Schlag, dem sich ein kurzer Augenblick atemberaubender Stille anschloss, als hielte für den Bruchteil einer Sekunde die ganze Welt den Atem an. Zahlreiche Menschen in meiner Umgebung schrien gleichzeitig, riefen unverständliche Worte oder stöhnten kollektiv auf, während das Gebrüll des Motors stetig leiser wurde, weil sich der Wagen mit hoher Geschwindigkeit sehr rasch entfernte. Dann war noch einmal das Lärmen seiner Reifen zu hören, als er in der Ferne zu schnell um eine Ecke bog.

Im ersten Moment wusste ich nicht, was geschehen war, da mir die Sicht zur Straße noch immer verwehrt war. Doch wie bei einem Puzzle, das ausschließlich aus Geräuschen bestand, setzte mein Verstand das Gehörte in eine furchtbare Ahnung um, die mir den Atem verschlug. Und das, obwohl ich schon vorher gewusst hatte, dass der Mann sterben würde, weil ich das Antlitz des Todes auf seinem Gesicht gesehen hatte. Aber dass es so schnell passieren würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

Ganz plötzlich, nachdem für kurze Zeit jede Bewegung in meiner unmittelbaren Umgebung erstarrt gewesen war, drängte alles nach vorn in Richtung Straße, um einen Blick auf das Unglück zu erhaschen, das sich dort abgespielt hatte. Auch ich schob mich rücksichtslos durch die Menschenmenge, achtete allerdings dennoch darauf, dass ich niemanden mit den bloßen Händen berührte. Ein Totengesicht und die Gewissheit, dass ich es auch dieses Mal nicht hatte verhindern können, reichten mir für einen Tag vollkommen.

Indem ich mich durch schmale Lücken zwängte und, wenn es sein musste, auch meine Ellbogen einsetzte, um mir Platz zu verschaffen, gelangte ich zum Rand des Bürgersteigs vor dem Zugang zum Parkhaus. Er schien eine unsichtbare Barriere für die Schaulustigen zu bilden, denn keiner wagte es, die Straße zu betreten, so als hätten alle Angst davor, ihnen könnte dasselbe widerfahren wie dem Mann im zweiteiligen schwarzen Businessanzug, der in absolut unnatürlicher und ungesunder Körperhaltung mitten auf der Straße lag.

Ich blieb ebenfalls an der Gehsteigkante stehen und starrte entsetzt auf den Mann, dem ich seit mindestens einer halben Stunde von der vollen U-Bahn bis hierher gefolgt war. Ich musste gar nicht näher heran, um zu erkennen, dass er tot war. Er lag auf dem Rücken. Sein linker Arm und der rechte Fuß waren so verdreht, wie es keiner lebenden Person, nicht einmal dem talentiertesten Schlangenmenschen, möglich gewesen wäre, ohne bleibende Schäden davonzutragen. Außerdem wurde die Blutlache, die sich um seinen zerschmetterten Schädel herum wie ein roter Heiligenschein auf dem Asphalt gebildet hatte, mit jeder Sekunde größer. Obwohl auch sein Gesicht deformiert und blutüberströmt war, hatte ich keine Zweifel, dass es der Mann war, dessen Totengesicht ich gesehen hatte. Als ich bemerkte, dass er keine Brille trug, überkamen mich zwar dennoch leichte Zweifel, doch als ich den Blick über die Straße schweifen ließ, entdeckte ich das verbogene, glaslose Gestell fünf Meter von der Leiche entfernt.

Dann fiel mir auf, dass seine Hände leer waren und er die Aktentasche nicht mehr bei sich hatte. Ich suchte erneut die Straße ab, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Und dass er auf der Tasche lag und sein Körper sie vor meinen Blicken verbarg, war eher unwahrscheinlich, denn so, wie der Tote dalag, hätte man zumindest einen Teil der Tasche sehen müssen. Wo war sie also geblieben?

Ich konzentrierte mich wieder auf das Gesicht des toten Mannes, als wollte ich es mir trotz seiner Verletzungen und des vielen Bluts einprägen. Da der Kopf zur Seite und sein Gesicht in meine Richtung gewandt waren, konnte ich seine Augen sehen, die offen, aber absolut leblos waren.

Ich erschauderte, denn es erschien mir fast, als sähe mich der Leichnam vorwurfsvoll an, obwohl das natürlich unmöglich war. Dennoch hatte ich unwillkürlich ein schlechtes Gewissen, weil es mir wieder einmal nicht gelungen war, den Tod eines Menschen zu verhindern, obwohl ich ihn vorausgesehen hatte.

Als ich den anklagenden Blick schließlich keine Sekunde länger ertragen konnte, wandte ich mich fröstelnd ab, drängte mich durch die Mauer der Schaulustigen hinter mir und ging eilig davon.

Totengesicht

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