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Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was ich in Anbetracht der dramatisch veränderten Situation tun sollte, betrat ich bereits die Wohnung und schlich lautlos durch den Flur. Der Fußboden war mit einem dünnen, billigen Teppich bedeckt, der das Geräusch meiner Schritte dennoch komplett verschluckte.

Was ich tat, war verrückt, gefährlich und vermutlich hochgradig selbstmörderisch, denn ich wusste noch nicht einmal, was ich überhaupt tun sollte, sobald ich dem Mann mit der Pistole begegnete.

Ganz einfach, Idiot, du wirst erschossen!, sagte eine gehässige Stimme in meinem Verstand, die ich unschwer als die des vernünftigeren Teils meines Ichs identifizierte.

Allerdings konnte ich jetzt auch nicht einfach wieder gehen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung, nachdem ich den Mann und vor allem seine schallgedämpfte Waffe gesehen hatte. Zumindest ergab die offene Wohnungstür nun einen Sinn, auch wenn mir dieser nicht gefiel. Der Mann musste im Treppenhaus gewartet haben, bis die Frau nach Hause kam, hatte sich anschließend mit einem Dietrich oder einem Nachschlüssel Zutritt verschafft und die Tür offen gelassen, um schneller flüchten zu können. Aber was hatte er vor?

Was wohl, Blödmann? Er ist natürlich hier, um die Frau zu erschießen.

Aber wieso?

Die Stimme in meinem Kopf, die es mir ersparte, laute Selbstgespräche zu führen, schwieg. Vermutlich zuckte mein mentaler Gesprächspartner stattdessen mit den Achseln. Und er hatte ja auch recht, und zwar mit allem, was er gesagt hatte. Wenn ich nicht aufpasste und mir nicht schleunigst eine Waffe suchte, würde ich vermutlich unmittelbar vor oder nach der Frau erschossen werden. Denn was immer der Mann mit der Waffe vorhatte, es konnte nichts Gutes sein. Es sah sogar danach aus, als befände sich die Frau, der ich gefolgt war, in akuter Lebensgefahr. Schließlich hatte ich ihr Totengesicht gesehen und wusste daher, dass sie bald sterben würde. Und warum der Mann sie töten wollte, war in diesem Augenblick zweitrangig. Wichtiger war die Frage, was ich gegen ihn unternehmen und wie ich den Mord verhindern sollte.

Während ich durch den düsteren Flur schlich, um dorthin zu gelangen, wo er nach rechts abknickte und der Mann verschwunden war, sah ich mich nach einer geeigneten Waffe um. Neben einer Kommode aus hellem Holz stand ein Schirmständer, in dem sich zwei Regenschirme befanden. Allerdings erschienen sie mir als Waffe eher ungeeignet, denn was sollte ich damit tun? Dem anderen ein Auge ausstechen? Keine gute Idee! Schließlich hatte er zwei Augen und konnte mich auch einäugig noch erschießen. Ich hoffte eher darauf, dass ich mich von hinten an ihn heranschleichen konnte und er mich gar nicht erst sah, bevor es für ihn zu spät war, denn ansonsten hätte er mehr als genug Zeit, mir eine Kugel zu verpassen. Und wenn ich versuchen würde, ihm einen Schirm über den Schädel zu ziehen, ginge wohl eher der Schirm als sein Kopf zu Bruch.

Aber was sollte ich dann nehmen? Wie als Antwort auf meine Frage fiel mein Blick auf mehrere afrikanische Masken aus dunkelbraunem Hartholz, die teilweise mit Messing verziert waren und an der Wand hingen. Eine Maske fiel mir dabei besonders ins Auge. Sie war 40 bis 45 Zentimeter hoch und stellte einen Elefantenkopf dar. Der dünne Rüssel war meiner Meinung nach der ideale Griff, an dem ich das Teil packen und notfalls über den Kopf schwingen konnte.

Vor der Wand mit den Masken bückte ich mich und legte meine Mappe lautlos auf den Boden, da sie bei meinem Vorhaben nur hinderlich war. Während ich die Elefantenmaske vorsichtig von der Wand nahm und mich bemühte, dabei so geräuschlos wie möglich zu agieren, horchte ich auf andere Geräusche in der Wohnung. Von dem Mann mit der Pistole hörte ich keinen Ton. Er musste sich ebenso unhörbar bewegen wie ich. Alles, was ich hörte, war das Rauschen fließenden Wassers, das aus dem Bad kommen und von der Frau stammen musste. Entweder nahm sie eine Dusche oder wusch sich am Waschbecken.

Die afrikanische Maske war schwerer, als ich erwartet hatte. Wenn es mir gelang, dem anderen damit eins überzubraten, bevor er auf mich aufmerksam wurde, musste ich mir um die Schusswaffe keine Sorgen mehr machen. Mit der Maske in der Hand fühlte ich mich sofort ein bisschen wohler und besser auf die unvermeidlich bevorstehende Auseinandersetzung vorbereitet als mit der für derartige Situationen völlig nutzlosen Arbeitsmappe.

Ich näherte mich der Biegung des Flurs, verharrte vor der Ecke und schob dann vorsichtig meinen Kopf nach vorn, um mit einem Auge in den abknickenden Teil zu spähen, der sich dahinter erstreckte. Das andere Flurstück war viel kürzer. Drei Türen gingen von ihm ab. Die linke Tür war geschlossen, und dahinter war das Wasserrauschen zu hören. Die Tür geradeaus stand offen, und man konnte eine Toilettenschüssel und ein kleines Waschbecken sehen. Die rechte Tür stand ebenfalls offen, was dahinter lag, war allerdings von meiner Position aus nicht einsehbar. Ich nahm an, dass sie ins Schlafzimmer der Frau führte.

Wichtiger als der Grundriss der Wohnung war jedoch der Mann mit der Waffe, den ich ebenfalls sah. Er wandte mir den Rücken zu und stand neben der geschlossenen Tür zum Badezimmer. Er lehnte mit der linken Schulter lässig an der Wand und wartete vermutlich darauf, dass die Bewohnerin endlich herauskam, damit er sie erschießen konnte. Die Mündung des klobigen schwarzen Schalldämpfers an seiner Schusswaffe aus brüniertem Stahl zeigte momentan zu Boden, doch ich war mir sicher, dass er sie im Bruchteil eines Augenblicks hochreißen und abdrücken konnte. Da im Bad allerdings noch immer das Wasser rauschte und ihm augenscheinlich langweilig war, beschäftigte er sich momentan damit, mit dem kleinen Finger der linken Hand Ohrenschmalz aus dem linken Ohr zu pulen.

Ich verzog das Gesicht vor Ekel. Allerdings wurde mir auch klar, dass es eine einmalige Chance war, mich von hinten an ihn heranzuschleichen, während er abgelenkt war und auf einem Ohr kaum etwas hörte, weil das vollständige erste Glied seines dreckigen Fingers darin steckte.

Also ging ich weiter und umfasste den Rüssel der Elefantenmaske, den ich mit beiden Händen umklammerte, noch fester. Ich betrat den kleineren Flur, der ebenfalls mit Teppich ausgelegt war, was mir nur recht war, denn es verringerte die Gefahr, dass er meine Schritte hörte. Außerdem überdeckte das Rauschen des fließenden Wassers aus dem Bad jedes noch so leise Geräusch, das ich versehentlich verursachte.

Doch als hätte es nur dieses Gedankens bedurft, verstummte in diesem Moment das Wasserrauschen wie abgeschnitten, und atemlose Stille kehrte stattdessen ein. Ich blieb wie erstarrt stehen, das rechte Bein schon zum nächsten Schritt angehoben, wagte es aber nicht, die Bewegung zu Ende zu führen. Der Mann mit der Pistole nahm den Finger aus dem Ohr, sah sich kurz an, was seine Bemühungen zum Vorschein gebracht hatten, und hob gleichzeitig die Hand mit der Pistole.

Er war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und trug einen Rollkragenpullover, eine Jogginghose und Turnschuhe, als käme er gerade vom Joggen. Außerdem hatte er eine Rollmütze auf dem Kopf. Allerdings trug er keine Handschuhe, was ich von einem professionellen Killer eigentlich erwartet hätte. Er hatte sehr dunkles Haar ohne jede Spur von Grau, das kurz geschnitten war und seinen dicken, speckigen Nacken freiließ. Als ich ihn vorhin von der Seite gesehen hatte, war mir außerdem aufgefallen, dass er vermutlich Mitte bis Ende vierzig war und dichte, schwarze Augenbrauen und eine knollenartige, rot geäderte Nase hatte. Der Rest seiner wegen der dicken Backen sehr breiten unteren Gesichtshälfte wurde von einem dichten Fünftagesbart bedeckt. Und als ich nun wie zur Salzsäule erstarrt weniger als zwei Meter hinter ihm stand, sah ich darüber hinaus, dass er in jedem Ohrläppchen einen silbernen Ring trug. Er war breitschultrig und stämmig und wirkte viel kräftiger als ich, sodass mir rasch klar wurde, dass ich mich nicht auf ein Handgemenge mit ihm einlassen durfte. Insgesamt erinnerte er mich an eine fleischgewordene Inkarnation von Kater Carlo, dem Erzgegner von Micky Maus, weshalb ich ihn in Gedanken auf den Namen Carlo taufte.

Ich betete, dass das Rauschen im Bad gleich wieder einsetzen würde, damit ich die restliche Distanz bis zu ihm unbemerkt überwinden und ihm die Elefantenmaske auf den Kopf hauen konnte. Meine Hände, die den Elefantenrüssel umklammerten, als hinge mein Leben davon ab – was vermutlich auch genau so war –, hatte ich bereits gehoben.

In diesem Moment wurden im Bad tatsächlich Geräusche laut. Sie stammten allerdings nicht vom fließenden Wasser, sondern von der Frau, die sich darin befand. Es klapperte, als würde sie etwas aus der Hand legen. Dann waren ihre Schritte zu hören, die sich der Badezimmertür näherten, bevor diese auch schon schwungvoll aufgerissen wurde.

Totengesicht

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