Читать книгу Totengesicht - Eberhard Weidner - Страница 6
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ОглавлениеEs waren gerade einmal zehn Minuten vergangen, in denen ich der Frau von der U-Bahnstation Münchner Freiheit an der Leopoldstraße zuerst in westliche Richtung in die Herzogstraße, danach nach rechts in die Wilhelmstraße und anschließend nach links in die Clemensstraße gefolgt war, als sie in einem mehrstöckigen Wohngebäude verschwand.
Da die Haustür offen stand, konnte ich das Haus ebenfalls ungehindert betreten. Auf dem untersten Treppenabsatz verharrte ich und lauschte auf ihre Schritte über mir, die schon nach relativ kurzer Zeit verstummten. Dann hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss geschoben und eine Tür geöffnet wurde. Ich schätzte, dass die Frau in den zweiten Stock gegangen war. Ich überlegte, was ich nun tun sollte. Wenn die Frau tatsächlich hier wohnte – und danach sah es aus –, dann kannte ich jetzt zumindest ihre Adresse und konnte auch nach meinem Termin in der Werbeagentur wiederkommen. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, ich hätte auch ihren Namen gewusst. Das Klingelbrett an der Haustür war mir dabei keine große Hilfe, da ich nicht wusste, welcher Name zu welcher Wohnung gehörte. Wenn ich den Namen der todgeweihten Frau erfahren wollte, musste ich also nach oben gehen, um ihn von der Klingel an ihrer Wohnungstür abzulesen.
Ich seufzte und schüttelte den Kopf über all die Dinge, die ich tat, seit ich mir meiner unheimlichen Fähigkeit bewusst geworden war. Ich verfolgte Menschen, die ich nicht kannte, von denen ich aber wusste, dass sie sterben würden, ohne dass ich bislang etwas daran hatte ändern können, bis zu ihrer Wohnungstür und brachte ihre Namen in Erfahrung. Ich kam mir vor wie ein Voyeur oder Stalker, obwohl ich dabei keinerlei schmutzige Gedanken hegte.
Dennoch erklomm ich nun die Stufen in den zweiten Stock. Nach dem letzten Treppenabsatz vor meinem Ziel bemühte ich mich, besonders leise zu sein, auch wenn mich die Frau in der Wohnung vermutlich ohnehin nicht hören würde. Ich wollte nur einen kurzen Blick auf das Namensschild an der Tür werfen und dann sofort wieder verschwinden. Falls sie ausgerechnet in diesem Moment wieder herauskommen und mich überraschen sollte, konnte ich ihr wenigstens meine Notlüge über die Schmerztabletten erzählen, die sie noch immer besaß.
Als ich auf den Absatz vor den beiden Wohnungstüren rechts und links trat, hoffte ich, dass gerade niemand durch den Spion sah. Nun hatte ich immer noch zwei Alternativen zur Auswahl, denn von unten hatte ich nicht unterscheiden können, welche Wohnungstür geöffnet worden war. Ich wandte mich zuerst nach links und las dort den Namen Wolfgang Kramer, der in kursiver Schrift auf einem glänzenden Messingschild an der Tür stand. Hier war ich vermutlich falsch, schließlich war ich nicht auf der Suche nach einem Mann. Ich wandte mich um und näherte mich der anderen Tür. Auf einem silbernen Metallschild stand in einfachen Druckbuchstaben A. Engel.
Doch es war nicht der Name, der mich abrupt innehalten ließ, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen, sondern die Tatsache, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand.