Читать книгу Searcher - E.C. Kuckoreit - Страница 10

Zeltrechte

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Ein paar dutzend Tage waren vergangen seit Lea und Shana bemerkt hatten, wie ähnlich ihre Gedanken waren. Obwohl sie so verschieden aufgewachsen waren, war Lea eine für die Hathai sehr selbstständig denkende und handelnde Frau. Sie bemühte sich zwar immer besonders freundlich und rücksichtsvoll zu reden – und Shana fand das grauenhaft umständlich -, jedoch wurde diese nervige Art restlos dadurch wett gemacht, dass Lea letztlich sagte, was sie dachte - eine Eigenart, die Shana wiederum sehr schätzte.

Lea war seit einem Jahr Robens Gefährtin. Sie war zurückhaltender gewesen, als die anderen Frauen im Brautzelt, hatte mehr Fragen gestellt, als selbst geredet und sich sofort zurückgezogen, wenn Shana Anzeichen zeigte, allein sein zu wollen. Manchmal hatte sie dann sogar geschickt die anderen abgelenkt, so dass Shana tatsächlich etwas Ähnliches wie ein wenig persönlichen Raum und Ruhe bekam. Nach dem ersten langen, späten nächtlichen Gespräch waren sie einander vertraut, als würden sie sich schon immer kennen.

Jetzt, da es manchmal wieder Zeiten gab, an denen Karas und Shana nicht gemeinsam unterwegs waren, kam Lea zu Shanas Zelt. Meist brachte sie eine Kleinigkeit vorbei. Mal war es eine Blüte, die sie auf dem Weg gefunden hatte, mal hatte sie ein paar sehr pralle Datteln geerntet oder frisches Brot übrig. Leas Mann, Roben, ritt häufiger mit Karas, Ra'un und Arak zum Auffüllen ihrer Vorräte fort. So passte es gut, dass die beiden Frauen sich verstanden. Sie gingen zusammen zum Wasser, stampften des Öfteren gemeinsam Hirse oder bereiteten manchmal zu zweit den Teig für das Brot vor. Dabei führten sie intensive Gespräche. Sie lachten viel, tauschten sich über alltägliche oder zukünftige Probleme aus. Wie Kari es Shana prophezeit hatte, wurde Lea zu einer ihrer wichtigsten Gesprächspartnerinnen und sie begegneten sich fast täglich für ein paar Augenblicke. Karas verließ manches Mal das Zelt, wenn er Leas leichten Schritt vernahm und meinte grinsend: „Ich bin hier gleich überflüssig.“

Seit dem letzten Neumond waren vier Tage vergangen, an denen Lea weder kam, noch aus ihrem Zelt schaute, wenn Shana vorbeiging. Irgendetwas stimmte nicht und Shana beschloss, es heute herauszufinden. Sie nahm einen Krug, füllte Rosenwasser für die Freundin ab und sagte zu dem im Schatten dösenden Karas: „Ich gehe zu Lea. Ich halte es nicht mehr aus. Solange war sie noch nie nur in ihrem Zelt.“

Alarmiert fuhr Karas hoch: „Shana, du weißt, dass du aus Robens Zelt bleiben musst!“

„Nein, muss ich nicht. Ich will wissen, wie es ihr geht!“

„Tu das nicht ...“.

Aber Shana war schon unterwegs. Diese Art von dem Zelt eines Mannes zu sprechen, während klar war, dass eine Frau darin herrschte, störte sie immer mehr. Außerdem, was sollte dieses Tabu des inneren Zeltes? Sie teilten in ihren Gesprächen sowieso alle Geheimnisse miteinander.

Zugegeben, Lea war in letzter Zeit manchmal ungewöhnlich zurückhaltend und doch glaubte Shana zu erkennen, dass sie lieber reden würde. Sie fragte sich, was so bedrückend sein konnte, dass ihre Freundin nicht reden konnte und sie sich jetzt sogar von dem allgemeinen Leben fern hielt? War sie vielleicht krank und hatte Angst, Shana würde aus Angst vor Ansteckung nichts mit ihr zu tun haben wollen? Hathai waren manchmal seltsam in ihren Gebräuchen. Mit diesen und ähnlichen Gedanken beschäftigt, erreichte sie das gewünschte Zelt. Lea war wieder nicht zu sehen.

„Lea, ich habe frisches Rosenwasser für dich“, rief Shana ins Zelt. Statt einer Antwort glaubte sie ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Sie rief noch einmal: „Lea?“ und betrat das Zelt.

„Shana. Nein, nein. Bitte, nicht.“

Lea stützte sich mühsam auf und streckte abwehrend den Arm aus. Ihr Gesicht schimmerte dunkel gefleckt und der Arm war mit dattel- bis feigengroßen Flecken gezeichnet.

„Was hast du? Bist du krank? Was sind das für Flecken?“

Schon kniete sie neben der Freundin, um sie besser im Halbdunkel des Zeltes betrachten zu können. „Was ist passiert? Was ist das?“

Lea war ganz offensichtlich übel gefallen. Shana hatte solche Zeichen bisher noch nicht gesehen. Statt einer Antwort schluchzte Lea: „Bitte, bitte geh. Es ist traurig. Er wird mich dafür verantwortlich machen, dass mich jemand sieht. Ich meine, mich so sieht.“

„Wer?“

„Shana, bitte, sei nicht so naiv. Roben! Bitte geh, bevor er wiederkommt. Bitte!“

„Das kannst du vergessen. Ich lasse dich doch nicht hier, wenn er nicht aufpasst.“

„Ich bleibe aber hier. Bitte, bitte ich will es so. Geh.“

Shana erhob sich. „Bist du sicher?“

„Ja, ganz sicher“, antwortete Lea so fest, wie sie es mit ihrer stets säuselnden Stimme vermochte.

Shana verließ das Zelt, ohne das Roben, der gerade ins Lager zurückgeritten kam, es gesehen hätte. Übelkeit stieg in ihr auf. Bestürzt, verwirrt und unsicher, was sie tun sollte, fiel ihr nur ein Mensch ein, den sie um Hilfe bitten konnte. Sie lief zu Kari.

„Hallo mein Töchterchen, komm herein. Komm herein. - Ja, wie siehst du denn aus? Was betrübt dich so? Benimmt sich mein Sohn wieder einmal schlecht?“, wurde sie begrüßt.

„Nein, nein, Kari. Er ist bloß frech - wie immer.“

„Aha und du liebst ihn - wie immer!“, erleichtert seufzend nickte Kari ihr zu.

Da platze Shana heraus: „Kari, ich glaube Lea ist krank und will nicht, dass ich ihr helfe.“ Dann erzählte sie von den vielen dunklen Flecken auf Leas Körper, und dass sie sich gar nicht erklären könne, wie jemand so fallen könne.

Sie war überrascht, wie sachlich und ruhig Kari antwortete: „Shana, dies ist Leas Sache. Was du beschreibst, hört sich an, als habe Lea eine Tracht Prügel erhalten. Aber das geht dich nichts an!“

Einen Moment starrte Shana sie ungläubig an, dann protestierte sie lautstark: „Das kannst du doch nicht ernst meinen! Immer hast du mir geholfen, zu mir gehalten und deinen Sohn ausgeschimpft und bei Lea sagst du, das sei ihre Sache. Sie fürchtet sich vor Roben!“

„Still! Schrei nicht so laut 'rum. Du willst doch wohl nicht Leas Schande allen verkünden, wenn sie sie selbst zu verbergen weiß.“

„Was heißt hier Leas Schande? Etwas Schreckliches ist passiert und niemand hilft ihr?“

Shana war den Tränen nahe. Das konnte nicht wahr sein. Ihre Freundin lag zerschlagen in ihrem Zelt und mahnte sie dieses Zelt zu verlassen. Ihr Mann hatte versucht, sie von dem Zelt der Freundin fern zu halten und ihre beste Vertraute, die gleichzeitig Mutter ihres Mannes war, riet ihr, sich nicht einzumischen.

In ihrem Zorn sprudelte sie ihre Gedanken hervor und konnte kaum stoppen, bis Kari sie festhielt.

„Shana, du weißt, wie sehr ich dich liebe und ich achte deine Freundschaft mit Lea. Es ist gut, dass sie dir so viel bedeutet. Doch wenn sie Probleme in ihrer Familie hat, müssen wir warten, ob sie den Familienrat anrufen will oder nicht. Und wir werden ihre Entscheidung akzeptieren. Bitte, Mädchen, ich weiß, dass du nicht mit allen Regeln unseres Lebens vertraut bist. - Du weißt nicht, was du getan hast, als du Robens Zeltrecht verletzt hast. Er könnte von Karas verlangen, dich öffentlich zu bestrafen. Diese Schande möchtest du doch nicht über unsere Familie bringen, oder? Es würde Karas das Herz brechen, dich schlagen zu müssen!“

„Was seid ihr nur für Menschen?“, schrie Shana entsetzt. Nie, nie hätte ein Mitglied des freien Volkes von einem anderen geschlagen werden dürfen oder gar jemand anderer verlangt, dass jemand geschlagen würde. Das Entsetzen erfasste Shana so sehr, dass sie sich schüttelte.

Wie von Ferne vernahm sie Karis Stimme: „Shana, Liebes, wir Hathai leben nun mal so. Lea ist Robens Familie und er ist verantwortlich, ob sie stirbt oder lebt, also hat sie ihm Respekt zu zeigen.“

„Das kann doch alles nicht wahr sein! Das kannst du nicht wirklich sagen!“, schluchzend und mit dem Bewusstsein einsam und verlassen in diese Welt geraten zu sein, sank Shana in sich zusammen.

„Komm rein, mein Sohn.“ Kari hatte Karas Schritt vernommen und dieser hatte gewartet, dass er eingeladen wurde, das Zelt seines Vaters zu betreten. Denn seit er sein eigenes Zelt hatte, war er hier Gast und respektierte die Grenze. Sein Gesicht entspannte sich sofort, als er Shana entdeckte. „Ah, gut. Ich habe befürchtet, du wärst in Leas Zelt gegangen.“

„Das bin ich und Lea ist mit blauen Flecken übersät“, krächzte Shana mit gebrochener Stimme.

Karas schluckte heftig, schloss die Augen, schüttelte ungläubig den Kopf und hielt sich die Ohren zu.

„Ich habe ihr erklärt, was sie getan hat“, informierte Kari ihn, als er die Hände wieder herunter nahm, „und ich glaube, sie hat Glück gehabt. Es scheint keiner bemerkt zu haben.“

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, stöhnte Karas, packte Shana bei den Schultern und zog sie an sich. Er legte schützend die Arme um sie, hob sie hoch, bis ihre Füße den Boden nicht mehr berührten und presste sie an sich. Wie ein kleines Kind, das Erwachsenen einen Schrecken eingejagt hat, hielt er sie. Eine verstohlene, gequälte Träne rann über seine Wangen. „Verzeih Mutter, dass wir dir Kummer bereitet haben!“, sagte er über Shanas Kopf hinweg, bevor er sie wieder auf den Boden ließ.

„Pass besser auf euch auf“, antwortete Kari.

Wie ein verschrecktes Kind, trottete Shana hinter Karas her, der sie an der Hand hielt. Er führte sie zu den Pferden. „Komm. Es wird bald Abend und unter der Weite des Himmels redet es sich besser.“

Mechanisch und willenlos folgte sie ihm und erst als sie Lalees Rücken unter sich spürte, kehrte die Lebensenergie in ihre Adern zurück. Der gleichmäßige Tritt ihrer Stute, der warme Luftzug auf der Haut und die Tatsache, dass sie das Lager hinter sich ließen, klärte wie Karas gehofft hatte, ihre Gedanken. Sie ritten bis die Sonne den Horizont berührte, dann parierten sie durch und stiegen ab, nahmen einander in die Arme. Shana gab sich hemmungslos ihren Tränen hin. Er hielt sie einfach, bis sie aufhören konnte.

Ihre geröteten Augen brannten, als sie ihn anstarrte und fragte: „In was für einer Welt leben wir?“

Mit diesen Worten löste sie sich aus seiner Umarmung.

Ruhig sah er in ihre Augen, dann wies er in einer weiten Geste auf die endlose Wüste, bevor er antwortete: „In dieser Welt. Sieh dich um! Das ist die Welt der Hathai, die seit hunderten von Jahren funktioniert und die Zukunft sichert. Frei unter der Sonne, aber nicht frei von Regeln. Die Lager sind klein, die Clans haben klaren Grenzen, die Familien sind unabhängig. Innerhalb des Lagers entscheiden alle Familienoberhäupter gemeinsam. Die Wanderrouten sind uralt und verlaufen entlang unterirdischer Seen und Wasserläufe. Die Lager der Oasen werden immer nur so stark genutzt, dass die nächste Generation sie noch nutzen kann. Wir verteidigen unsere Plätze, unsere Lebensweise und unsere Familien. Männer sind verantwortlich für das Überleben, auch für das Leben in der Familie. Alle haben Respekt zu zeigen. Wer das Leben gefährdet, wird im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste verbannt. Klare Regeln!“

Einen Augenblick schwieg er, bevor er mit sehr eindringlich warnendem Unterton fortfuhr: „Und sie werden nicht umgestoßen, weil sie einer Freien, die die Verantwortung für einen Ort nicht kennt, nicht passen. Ist das klar?“

„Nein, nein! Nichts ist klar. Eine Frau darf verletzt werden und es kümmert niemand. Über eine Frau darf bestimmt werden, weil sie die Gefährtin eines Mannes wurde. Es ist nicht klar, warum der Stärkere Recht hat. Jeder hat das gleiche Recht. Es ist barbarisch, über andere zu bestimmen. Ja, es stimmt. Die Freien pflegen nicht jahrhundertelang einen Platz. Wir bleiben nie lange an einem Ort. Wer anders denkt, sagt es oder schweigt. Aber bei uns wird niemand in die Wüste geschickt. Wir verletzen andere Menschen nicht. Wir gehen von alleine und kommen mit den Geschenken des Himmels oder der Erde zurück. Diese Geschenke haben wir aber niemandem weggenommen. Am allerwenigsten den 'Oasenfürsten'. Yambi nannte euch so und erklärte uns, wie ihr lebt. Leider habe ich ihr dabei zu wenig zugehört.“

„Was soll das? Deine Sippe ist fort. Da ist niemand mehr, der auf dich wartet“, sagte er barsch. Dann schwieg er eine Weile, in der er sie intensiv anblickte. Schließlich flüsterte er sanft: „Allein dein Anblick hat mich verzaubert, dein Wesen mich berührt, so dass ich jede Auseinandersetzung für dich auf mich genommen habe, weil ich für dich sorgen will.“

„Ich kann für mich allein sorgen“, fauchte sie.

„Kannst du nicht!“, und seine Stimme war wieder hart, „Hör endlich auf zu träumen! Ohne deine Sippe bist auch du in der Wüste verloren. Oder wolltest du etwa in einer Stadt für dich sorgen? Allein der Gedanken ist unerträglich, dich rechtlos auf dem Marktblock zu sehen!“

„Du kannst es aber ertragen, mich rechtlos in deinem Zelt zu sehen?“

„Du bist niemals rechtlos an meiner Seite.“ Jetzt schwang schon eindeutig Zorn in seiner Stimme mit, aber Shana war entschlossen sich davon nicht einschüchtern zu lassen.

„Und was ist mit Lea. Ist sie auch niemals rechtlos?“, zischte sie ihm entgegen.

„Du weißt nicht, was ihr geschehen ist.“

„Tja, wahrscheinlich war es ein böser Geist! Oder sie hat sich selbst geschlagen! Was glaubst du, was es war?“

Einen Moment schwieg er, zwang sich zur Ruhe und antwortete: „Solange sie nicht den Familienrat anruft, geht es mich nichts an und dich schon gar nicht. Aber eines sage ich dir: wenn du dafür sorgst, dass ich dein Verhalten vor dem Familienrat verteidigen muss, geht es mich etwas an!“ Sein Ton war sehr bestimmt geworden. „Es ist meine Aufgabe zu verhindern, dass du die Regeln missachtest. Niemand wird fragen, ist sie tollkühn, weil sie einst zum freien Volk gehörte? Niemand wird sagen, oh ja, sie hat andere Regeln! Du hältst dich besser an das, was meine Mutter versucht hat, dir beizubringen. Weder ich, noch sie oder sonst jemand wird dich schützen können, wenn du öffentliche Schande bringst.“

Die Worte hagelten wie Schläge auf sie ein. Betroffen schwieg sie und schloss die Augen. Sie atmete mehrmals hörbar tief ein und aus, bevor sie antwortete: „Dann gehe ich!“

Die letzten Worte sprach sie mit einer tonlosen Ruhe, die keine Deutung an der Ernsthaftigkeit ihrer Aussage ließen.

„Shana, ich warne dich ein einziges Mal. Meine Familie wird eher verlangen, dass ich dich mit Gewalt zurückhalte, als dass sie dich allein in die Wüste ziehen lässt. Ich werde dich nicht ziehen lassen! Und ich schwöre dir, eher verprügele ich dich, als dass ich dich dem sicheren Tod überlasse.“ Er stockte kurz, bevor er fortfuhr: „Lass es nicht darauf ankommen!“

Diese Drohung hinterließ keinen Zweifel. Eine eisige Kälte durchströmte Shana allein vom Klang seiner Stimme. Wie konnte er ihr so drohen?

Sie standen einander gegenüber, der Nachtwind bauschte ihre Gewänder und der aufgehende Mond malte eine Silhouette, von der man hätte glauben können, sie führten einen langsamen Tanz auf. Die nächtliche Kälte kroch rasch näher. Sie standen in den Weiten der Sandhügelketten, zwei getrennte Lebewesen in der unendlichen Einsamkeit.

„Seit ich dich kenne, weine ich“, schrie sie.

Und er antwortete: „Seit ich dich sah, leide ich mit dir.“

Ihre noch immer brennenden Augen wollten keine Tränen mehr hergeben. Sie rang die Hände, schüttelte stumm den Kopf und öffnete die Lippen zu einem lautlosen Schrei. Er sah ihr bei ihrem seltsamen, verzweifelten Ringen zu und konzentrierte sich auf seinen Atem, um die innerliche Ruhe zu erreichen, die ihm zu eigen war, wenn es darauf ankam. Er wartete. Inzwischen standen die Pferde dicht hinter ihm und boten ihm Schutz vor den nächtlichen, kalten Winden. Er schien eins mit der Landschaft zu werden, stoisch, nur seine Kleider vermochte der Wind zu bewegen.

Der Mond hatte seine Bahn angetreten und die unendliche Schar der Sterne war am Firmament zu sehen. Die gewaltige Größe der Leere, die Shana früher ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte, versprach ihr jetzt nur, dass sie sich verlieren würde, wenn sie sich dieser Weite überließ. Jäh fuhr die schmerzvolle Erkenntnis in sie, dass er Recht haben könnte. Hier draußen war niemand mehr für sie. Sie war ein Teil seiner Welt geworden und niemand hatte sie dazu gezwungen. Jetzt war sie ein Teil dieser beengten Welt des Lagers und ihrer Gesetze. Mit vom Schmerz gebrochener Stimme hauchte sie: „Kann ich Lea denn gar nicht helfen?“

„Nicht, indem du dich gegen alle und alles stellst.“

Versonnen dachte sie über diese Antwort nach, dann wollte sie wissen: „Wirst du mir helfen?“

„Dafür stehe ich, mit meinem Leben.“

Da kamen die Tränen wieder, heiß und leise diesmal und der Mond ließ sie silbern auf ihrer Haut schimmern. Er bewegte sich ganz langsam, ganz weich auf sie zu, nahm sie in die Arme, küsste sie mit unendlicher Zärtlichkeit in dieser grenzenlosen Weite.

„Shana, mein Leben!“ Worte, so leise, dass selbst der Wind lauter war und doch hörte sie ihn klar und deutlich.

Heute wurde sie wirklich seine Frau.

Er nahm sie vor sich auf Leilas Rücken, um sie zu wärmen und ihr gleichzeitig ganz nah zu sein. Sie wurde sich dieser Nähe auf bisher ungekannte Weise bewusst und genoss sie. Lalee trottete einfach hinter ihnen her.

Im Lager war alles friedlich, aber Shana wusste nun, dass dieser Friede nur den äußeren Schein darstellte. Sie starrte zu Robens Zelt hinüber, bis Karas sie sanft in ihr Zelt schob. In dieser Nacht schlief sie in seinen Armen ein und er war dabei zum ersten Mal ihr Schutz, den sie vollkommen annahm. Doch am Morgen war ihr elend und sie mochte nichts essen.

Lea kam acht Tage später wieder aus ihrem Zelt. Die dunklen Flecken waren kaum zu erkennen und man musste schon wissen, wonach man suchte, um sie überhaupt zu bemerken. Ihre Schritte tänzelten leicht und man hätte meinen können, ein unbeschwertes junges Mädchen vor sich zu haben.

Einige Tage später vertraute sie sich Shana an. Ja, Roben hatte sie im Streit geschlagen. Sie hatte ihm mehrfach widersprochen und sich dann geweigert, mit ihm zusammen zu sein. Sie war wütend auf ihn gewesen, weil er stets wortlos wegging und ihr, wenn er zurückkam, mit keinem Wort erzählte, wo er war. Da sie durch ihre Freundschaft mit Shana begierig geworden war, mehr von der Welt dort draußen zu erfahren, hatte sie versucht, mit ständigen Bitten seine Zunge zu lockern. Er hatte sie beschieden, dass er mit ihr über ihr gemeinsames Leben reden würde, jedoch keine Lust habe, ihr alles zu erzählen, was er sonst noch tat. Dadurch fühlte sich Lea verletzt. Sie verhielt sich absichtlich abweisend ihm gegenüber. Eines ergab das andere. Als er dann nach ihr gegriffen hatte, hatte sie seine Hand immer wieder zur Seite geschoben. Da rastete er aus und machte mit ihr, wonach ihm der Sinn stand. Doch statt zu schweigen, jammerte sie und er befahl ihr aufzuhören. Sie jammerte nur lauter. Schließlich schlug er sie, so lange bis sie schwieg. Seitdem gehorchte sie wortlos und war froh, dass er ihr nicht verboten hatte, Shana zu sehen. „Wenn ich gehorsam bin und ihn bitte, ist er sehr freundlich und sanft zu mir“, beendete Lea lächelnd flüsternd ihren Bericht.

Shana dachte an Karas Worte, dass sie sich nicht einmischen dürfe und froh sein solle, dass ihr heimlicher Besuch nicht bekannt geworden war. Also presste sie die Lippen aufeinander. Stumm nahm sie die Freundin in die Arme und wiegte sie. „Oh, bitte nicht. Nicht Shana, wir sind hier für alle sichtbar und es ist keine Frauenzeit!” Verlegen kichernd wies Lea sie von sich.

Shana ließ ernüchtert ihre Arme sinken und schüttelte traurig den Kopf. „Ich fasse es nicht. Was für eine Welt? Was für eine Welt?“, murmelte sie vor sich hin, reckte ihr Kinn und noch leiser fügte sie hinzu: „Ich kann, ich will und ich werde mich nicht damit abfinden.“

Um sie abzulenken fing Lea an, von den Blüten, die sie an der Quelle entdeckt hatte und die einen neuen Abschnitt des Jahres verkündeten, zu erzählen. Nebenbei erwähnte sie, dass das Wasser spärlicher aus der Quelle kommen würde. „Die Ältesten werden beraten müssen, wann wir eine andere Oase aufsuchen werden. Sicher wird ihr ehrwürdiges Verantwortungsgefühl für das Wasser und unsere Familien ihren Beschluss bestimmen.“

Shana sah sie verständnislos an. Wieso mussten sie auf die Entscheidung alter Männer warten?


Tatsächlich gab es bald mehr Ratsversammlungen. Immer häufiger trafen die Männer sich, berieten die Lage des Lagers, fassten Beschlüsse, erzählten die Geschichten früherer Zeiten. Oft saßen sie bis in die tiefe Nacht zusammen. Häufig brachen am nächsten Morgen kleinere Trupps meist jüngerer Männer auf und ritten für mehrere Tage fort.

Wenn sie zurückkehrten, brachten sie neben den üblichen Lebensmitteln Nachrichten über ungewöhnliche Zeichen mit, die sie in der Landschaft entdeckt hatten. Sie berichteten von Karawanen, die wie erwartet vorbeigezogen kamen und von solchen, nach denen sie vergeblich Ausschau gehalten hatten. Ab und zu fiel das Wort 'Sklavenjäger', doch sie vermieden es, darüber ausführlicher zu sprechen, insbesondere wenn sich eine weibliche oder jüngere Person in der Nähe befand.

Wenn Karas fort war, verließ Shana des Öfteren das Lager. Ging allein in die Wüste hinaus, prüfte den Sand und den Wind. Sie war sich bald sicher: in diesem Jahr würden die Wolken wieder nur am Horizont vorbeiziehen und sich einfach im Meer des bleifarbenen Sonnenhimmels auflösen. Der Regen würde wieder ausbleiben.


Außer Shana gab es nur zwei weitere Frauen, die sich selbst um ein Pferd kümmerten und manchmal das Lager über einen längeren Zeitraum auf dem Rücken ihres Pferdes verließen. Die eine war fast so alt wie Kari und sehr wortkarg. Ihr Name war Marumata und sie war so etwas wie die weise Frau des Lagers. Sie beteiligte sich nicht an Tratsch und Klatsch, blieb meist für sich und war die Frau, die manchmal von einem Mann offiziell um Rat gefragt wurde.

Wenn sie auf dem Rücken eines Pferdes das Lager verließ, wurde sie von einem der jungen Männer begleitet, der ihr aber in gebührendem Abstand folgte. Shana war, aus ihr selbst unerfindlichem Grund, bisher zu scheu diese Frau anzusprechen.

Die andere Frau, die selbst ausritt, war die Mutter von der hübschen Eschei, Escha. Ihr gehörte einer der herrlichsten Hengste des Lagers. Lea erzählte, dass sie ursprünglich aus einem anderen Clan stammte, dessen ganzer Reichtum in einer berühmten Pferdezucht gipfelte. Escha ritt fast jeden Tag bei Sonnenaufgang aus und kehrte schon zurück, bevor die Sonne über den Baumwipfeln stand. Auch sie hatte kaum Kontakt zu anderen Frauen. Lea erzählte außerdem, dass Escha als unglücklich galt, weil sie nach all den Jahren noch immer ihre alte Familie vermisse. „Liebes, es ist wohl so, wie man sich erzählt: Joradas hat sie für seine besten fünf Pferde eingetauscht. Aber ungehörige Zungen munkeln, man wisse nicht, ob Joradas eher an dem Hengst oder an Escha selbst interessiert war.“


Eines Tages kam Karas von einer langen Versammlung zurück, wirkte bedrückt und war wortkarg. Shana fühlte sich sowieso den ganzen Tag elend. Sie hatte ihn vermisst und keine rechte Beschäftigung gefunden, die sie hätte ablenken können. Dazu kam, dass sie es hasste, wenn sie das Gefühl hatte, er verheimliche ihr etwas. Also bedrängte sie ihn mit Fragen, bis er sie herrisch anfuhr: „Es geht dich nichts an! Gib mir Wasser.“

„Wie bitte?“, fuhr sie auf. „Du willst mir den Mund verbieten? Du befiehlst mir?“

Ihr Widerspruch nervte. Stöhnend antwortete er: „Shana, halt den Mund. Tu einfach, was ich sage. Ich mag heute nichts mehr hören.“

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?”, schrie sie und griff nach dem Krug, der zufällig neben ihr stand und schleuderte ihn in seine Richtung. Kurz neben seinem Kopf zerschellte der Krug an einer der tragenden Zeltstangen. „Neiiiin!“, kommentierte sie ihren Fehlwurf schreiend. Ihre Wut wurde durch diesen Fehlschlag offensichtlich weiter angestachelt. Sie griff einfach nach allem, was erreichbar war und warf damit nach ihm. Sie wollte ihn verletzen, vertreiben. Sie schrie und tobte: „Mach, dass du fort kommst. Du herrischer, widerlicher Wüstendreck.“ Ihr fielen immer neue Tiraden ein und sie wurde lauter und lauter.

Stand er bis dahin noch ganz unter dem Eindruck der Gespräche des Rates, so stand er jetzt überraschend in einem Kampf mit seiner grundlos verärgerten Frau. Darauf war er weder gefasst noch hatte er Lust, sich damit auseinander zu setzen. Schon beim ersten Anzeichen ihrer Wurfattacke hob er seinen Arm zur Abwehr. „Wie gut, dass sie so schlecht zielt, wenn sie wütend ist”, blitzte ein Gedanke in seinem Kopf. Er schwankte, ob er zu ihr gehen und sie einfach festhalten oder lieber den Rückzug antreten sollte. Ihre Würfe wurden rasch genauer und sie stand dummerweise vor dem gesamten Geschirr. Es war leicht abzuschätzen, wann sie sich eingeworfen haben würde. Ein Teller, der schmerzhaft seinen Arm streifte, brachte den Ausschlag. Er entschied sich für den Rückzug.

Als er aus dem Zelt trat, schlenderten genau in diesem Moment Arak und Ra'un vorbei. „Ho, Brüderchen, ist das ein heraufziehender Sandsturm oder ein boshafter Geist in deinem Zelt?“

„Puh, ich bin ihm entkommen, daher muss es ein Geist sein“, gab Karas halb lachend zurück und rieb sich die Hände, als wolle er sie säubern.

Arak grinste und fragt mit unverhohlener Häme: „Könnte das auch deine süße Frau sein?“

Karas blickte ihn von unten herauf an, wobei er sein Kinn gesenkt hielt: „Könnte sein!“ Dann hob er den Kopf und sah die beiden mit aufgesetzt herausfordernder Miene an: „Gehen wir eine Pfeife rauchen?“

„Eine gute Idee, ich möchte sowieso mit euch beiden etwas besprechen, was eine kleine, ruhigere Runde vertragen könnte“, antwortete Ra'un.

Inzwischen stand Shana vollkommen in Tränen aufgelöst im Zelt und betrachtete den selbst verursachten Scherbenhaufen. Elend und erschöpft ließ sie sich nieder. Dieses Scheusal, dieses elende Scheusal, wagte es tatsächlich ihr den Mund zu verbieten. Er hatte sie dazu gebracht, ihn verletzen zu wollen. Was hatte er aus ihr gemacht?

Zuhause hätte sie jetzt ihre Sandalen angezogen, den Wasserschlauch umgehängt, sich von den Kindern verabschiedet und wäre gegangen. Auf der Suche nach der nächsten Wasserstelle hätten sich ihre Gedanken geklärt und sie hätte bei der Rückkehr gewusst, ob sie weiterhin das Lager dieses Mannes teilen wollte oder nicht. Doch hier? Warum eigentlich nicht? Was oder wer sollte sie hindern? Sie wollte nicht so enden wie Lea. Auf keinen Fall würde sie sich diesen Regeln unterordnen.

Sie brauchte lange, um ihre Gedanken zu klären, zu lange. Als ihr Entschluss zu gehen, gefallen war, war es zu spät.

„Du bleibst.“

Oh – wie sie diesen herrischen Ton hasste; wie sie ihn dafür hasste, sie hindern zu können.

„Du bleibst und hältst den Mund!“

„Oder?“

Statt einer Antwort hob er sie hoch und trug sie zum Bett.

„Nein!“, stöhnte sie. Doch er ließ sich von ihr nicht stoppen. Sie schlug auf ihn ein, grub ihre Nägel in seine Schultern und spürte wie sie seine Haut aufriss, versuchte sich mit Händen und Füßen zu wehren, beschimpfte ihn und versuchte zu beißen, wenn er nah genug kam. Er schien von einer merkwürdigen Ruhe beherrscht. Griff zielsicher ihre Handgelenke, zog sie über ihren Kopf und fixierte sie dort mit der linken Hand in einer für sie unauflösbaren Umklammerung, nutze ihre Bewegungen aus und drehte sie auf den Bauch, drücke sie, neben ihr liegend, mit dem Knie nieder und – ließ sie gewähren.

Sie kämpfte. Panik stieg in ihr auf. „Er wird mir wehtun!“, schoss es durch ihren Kopf.

Aber er tat nichts dergleichen. Er hielt sie im wahrsten Sinne des Wortes nur fest umklammert und war selbst in einer beinah unnatürlichen Ruhe. Fast kalte Berechnung. Dies stachelte sie noch mehr an. Sie tobte bis ihre Kräfte erlahmten. Er verwandte sofort weniger Druck auf seinen Griff, was sie sogleich zu einem neuen Versuch nutzte, sich zu befreien. Vergebens.

Irgendwann war sie zu erschöpft, keuchte halb erstickt: „Du verdammter Kerl!“ und dann gab sie auf. So sehr, dass der Schlaf sie übermannte.

Als sie erwachte, lag er selig schlafend halb über ihr, den linken Arm locker auf ihren beiden Armen, das rechte Bein über ihrem Unterleib. Sein Gesicht war vollkommen entspannt und strahlte glückliche Zufriedenheit aus. Sein Hals und Oberkörper war von Kratz- und Bissspuren gezeichnet, selbst blaue Flecke schimmerten an einigen Stellen auf seiner Haut.

„Hm, nicht gut. Aber wie kann er dabei so zufrieden aussehen?“, war alles, was sie bei seinem Anblick denken konnte. „Dieser Mistkerl. Ich will das nicht. Ich halte es kaum ohne ihn aus. Ich will nicht mehr. Ich liebe ihn. Ich will hier weg.“

Jeder ihrer Muskeln schmerzte und ihre Hände fühlte sie fast nicht mehr. Wenn sie sich bis gestern von seinen riesigen Händen fasziniert und angezogen gefühlt hatte, hatte sich diese Einschätzung über Nacht schlagartig verändert. Sie hasste es, dass er sie mit einer Hand kontrollieren konnte und gleichzeitig jagte ihr dieser Gedanke einen wohligen Schauer über die Haut. Sie versuchte ihre Arme unter seinem Arm hervorzuziehen, doch er war anscheinend selbst im Schlaf wachsam. Jedenfalls erhöhte sich sofort der Druck auf ihre Arme. So sehr, dass sie sie nicht frei bekam. Sie starrte ihn zornig an.

„Du bleibst!“, ohne die Augen zu öffnen oder den Gesichtsausdruck zu ändern, sprach er diese Worte deutlich und zärtlich aus.

Es war unglaublich. Und noch unglaublicher war, dass sie sich selbst hörte, wie sie sanft „Ja. - Ja, ich bleibe“, flüsterte.

Wie konnte sie nur? War sie jetzt vollkommen verrückt? Was spielte sich gerade in ihrem Kopf ab? In Gedanken betrachtete sie sich selbst. Wie sie da lag, wie sie ihrem Mann beinahe ihre Liebe gestand. Wie sie diese Liebe, ja sogar starkes Verlangen spürte und wie sie sich gleichzeitig dafür verfluchte. Sich wünschte wegzugehen, diese Welt für immer zu verlassen. Sie lag da. Verrückt! Kein Zweifel, sie war verrückt geworden!

Karas zog seinen Arm und sein Bein zurück, gab sie frei und murmelte: „Ich liebe dich, also lass das!“

„Du arroganter Kerl!“, fauchte sie und rieb sich die tauben, schmerzenden Arme und Hände.

„Ich warne dich, hör auf.“ Seine Stimme klang so emotionslos, so fest, so unbeteiligt, dass sie mit vor Schreck geweiteten Augen auf ihn starrte.

Sie hatte sich halb aufgerichtet. „Was bist du nur für ein Mensch?“

Sie hatte diesen Gedanken nicht mal laut ausgesprochen und er antwortete trotzdem: „Lass das!“ Diesmal war der Ton schärfer und eine klare Drohung.

Einen Augenblick später öffnete er die Augen und sah sie an.

„Oh nein“, wimmerte sie beim Blick in seine schimmernden Augen, die aus einer endlos scheinenden Tiefe zu ihr sprachen. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, doch seine Augen veränderten ihren Ausdruck nicht. Gefühle von kalter Entschlossenheit gemischt mit endloser Trauer, zusammen mit dunkelsten Gedanken, schienen darin zu funkeln. Sie konnte nichts anderes erkennen. Er schloss ganz langsam für einen Moment seine Lider und als er sie wieder öffnete, war nur noch Zärtlichkeit darin.

Wie machte er das? Wer war er? Was war er?

Er streckte die Hand aus, um sie zu sich zu ziehen. Zögerte einen winzigen Moment und ließ einen kurzen Schmerzenslaut über seine Lippen kommen, dann zog er sie beherzt zu sich heran. Irrer Weise schmiegte sie sich an ihn, erfüllt mit dem Gedanken: „Ich habe gut gekämpft. Gut so!“

Eine ganze Weile blieben sie entspannt und aneinander gekuschelt liegen. Schließlich stand sie ungehindert auf und holte eine Schale mit Wasser. Nahm einen Schluck und reichte sie ihm. Er richtete sich auf, nahm die Schale aus ihrer Hand, sah sie über deren Rand an, während er sie langsam und genussvoll leerte. Dann gab er ihr das Gefäß zurück und stand auf. Streckte sich, fasste nach einem besonders tiefen Kratzer, der vom Hals über seine Schulter auf den Rücken lief, zog mit ein paar drehenden Bewegungen die Schulter nach vorne und brachte seinen Körper zurück in seine normale, aufrechte, entspannte Haltung. Wortlos und ohne weiteren Blick verließ er das Zelt.

Beim Wasser holen begegnete sie Kari.

„Shana! Shana, Liebes. Komm, lass dich ansehen.“

Nach ihrer Stimme zu urteilen, hatte sie ihren Sohn bereits getroffen. Mit ausgestreckter Hand berührte sie Shana und drehte sie mit leicht dirigierender Bewegung einmal um ihre eigene Achse. „Er hat sich wohl nicht soo schlecht benommen, wie es aussieht?!“, stellte sie halb fragend, halb befriedigt fest.

Jetzt sah Shana an sich selbst herab. Außer den roten Spuren an ihren Handgelenken war sie tatsächlich unversehrt.

„Komm mit. Wir haben zu reden! Das Wasser kannst du später holen“, befahl Kari in einem zuckersüßen Ton. Shana folgte ihr in Karis, „Nein – Handars Zelt“, korrigierte sie sich selbst.

Handar war nicht da, nur Werra saß davor, gab auf die jüngste Schwester acht und sortierte Hülsenfrüchte. Als sie ihre Mutter und Shana kommen sah, lächelte sie, blickte erstaunt und dann rasch wieder auf die vor ihr stehenden Kalebassenhälften.

„Ich habe mit Shana zu reden“, murmelte ihre Mutter und sie verstand. Shana folgte Kari ins Zelt und setzte sich auf den mit leichter Geste zugewiesenen Platz. Kari stellte ihren Wasserkrug ab, wandte sich Shana zur Gänze zu und wartete offensichtlich, dass sie zu sprechen anfing. Ein peinliches Schweigen breitete sich aus. Kari begann irgendwelche Gegenstände herumzuräumen. Es war Shana klar, dass sie wartete.

Shanas Mund war plötzlich ganz trocken und sie fühlte sich erschöpft, ausgedörrt wie schon lange nicht mehr. Es war das gleiche Gefühl, dass sie gehabt hatte, wenn sie erfolglos nach einer mehrtägigen Suche in ihre Hütte zurückgekehrt war und das Schweigen der Kinder und Yambis kaum ertragen konnte. Dann hatte sie stets als einfachste Lösung wieder nach ihrem Wasserbeutel gegriffen, war von Yambi wortlos, aber herzlich umarmt worden und wieder hinaus gegangen. Doch hier? Hilflos rang sie nach Worten. Es gelang ihr nicht. Mit hängenden Schultern und Kopf saß sie da und fand keine passenden Worte.

„Dann habe ich dir etwas zu sagen“, brach Kari schließlich das Schweigen. Sie stellte eine Schale mit frischem Wasser vor Shana so heftig auf den niedrigen Tisch, dass die kostbare Flüssigkeit überschwappte. Shana blickte auf, direkt in Karis Gesicht.

„Mein Sohn schweigt. Ich meine, er redet mit den Männern über dies und das. Beachtet seine Aufgaben, aber sagt keinen Ton zu seinem Aussehen und zu dem was zwischen euch abläuft. Er verbirgt aber auch nichts. Jeder kann sehen, dass er von einem Biest angefallen worden ist und er offensichtlich beschlossen hat, es einfach zu ignorieren. - Ich will, dass du das weißt.“ Bisher sprach sie langsam und gleichgültig, dann änderte sich der Ton und ermahnend fügte sie hinzu: „Treib es nicht zu weit. Ich möchte dich nie in dem Zustand sehen, den du haben wirst, wenn er sich wehrt. Hast du mich verstanden?“

Shana nickte langsam und sagte gleichzeitig: „Nein.“

„Dann will ich es dir erklären: Wenn er will, wirst du keine heile Stelle mehr an deinem Körper haben. Ich habe einmal eines seiner Opfer gesehen und ich war entsetzt. Dich will ich nie pflegen müssen, weil du seinen Zorn entfacht hast. Hast du das jetzt verstanden?“

„Was erwartest du von mir? Was soll ich deiner Meinung nach tun? Soll ich mir alles von ihm gefallen lassen? Ich werde mich seinem Willen nicht unterordnen. Ich werde nicht die meiste Zeit im Zelt verbringen und auf ihn warten. Ich will fort und eher sterbe ich, als dass ich mir von ihm befehlen lasse, was ich zu denken und zu tun habe.“

„Du weißt nicht, wovon du redest. Er wird dich nie gehen lassen und du wirst dir wünschen, dass du sterben dürftest, bevor er mit dir fertig ist!“ Sie schnaubte. Nach einer kurzen Pause sprach sie bemüht ruhiger weiter: „Warum ist es so schwer für dich, bei ihm zu bleiben? Fehlt dir etwas? Liebt er dich nicht oft genug? Sorgt er nicht für dich?“

„Doch. Doch, mit Liebe hat das nichts zu tun, aber er...“

„Stopp. Erzähl mir keine Einzelheiten eurer Angelegenheiten!“, unterbrach Kari sie.

„Keine Angst. Manche eurer Regeln habe ich kapiert.“

„Unsere Regeln. Unsere? Du solltest sie als deine Regeln akzeptieren!“ Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie diese Worte hervorstieß.

„Das kann und will ich nicht.“

„Bei allem was heilig ist, dann ist dir nicht zu helfen! Ich habe dich gewarnt. Geh jetzt!“, mit diesen Worten drehte sie Shana den Rücken zu, ihr Ton war immer schärfer geworden und nun beschäftigte sie sich demonstrativ mit ein paar Gewändern. Sichtlich bemüht, wieder ruhiger zu werden.

Shana stand auf, nahm ihren Krug und ging hinaus. Werra sah lächelnd zu ihr auf. Sie erwiderte das Lächeln mechanisch und ging zur Quelle. Sie wusste, dass die Frauen und Mädchen darüber tuschelten, welche Spuren Karas Körper zeichneten und die Männer ihn für seinen Gleichmut wortlos bewunderten. Manch einer dachte bestimmt, dass er sich so nie behandeln lassen würde.

An der Quelle waren nur zwei ältere Frauen, die sie höflich begrüßte und die ihren Gruß erwiderten. Wieder bei ihrem Zelt angelangt, wartete Lea mit ein paar frischen Datteln auf sie. Sie setzten sich in den Schatten des Eingangs und plauderten zunächst belangloses Zeug, bis Lea auf einmal die Bemerkung fallen ließ: „Bitte Liebes, erzähl mir, schämst du dich nicht?“

Entrüstet starrte Shana sie an: „Warum sollte ich mich schämen? Halte ich mich selbst hier gefangen? Tue ich so, als sei mein Wille Gesetz?“

„Oh nein, was redest du? Du hast sein Lager geteilt! Du teilst mit Karas dein Zelt. Du bist allein hinein gegangen! Und es sah nicht so aus, als ob du gezwungen würdest!“

„Damit habe ich ihm aber nicht das Recht gegeben, über mich zu verfügen!“

„Doch, doch, meine Liebe, genau das hast du getan!“, antwortete Lea und ihre Stimme klang dabei, als ob sie ein besänftigendes Lied singen wollte.

„Wieso sagst du so etwas? Du betonst, dass es mein Zelt ist, in dem er bestimmt.“

„Liebes, so ist es. Dein Zelt wird immer dein Eigentum sein. Aber solange du zu Karas gehörst, ist er doch verantwortlich dafür, was darin geschieht. Und niemanden, bitte, wirklich niemanden geht etwas an, was in dem Familienzelt geschieht. Willst du dies nicht endlich begreifen, meine Liebe? Du musst die Ehre in deinem Zelt halten und er wird darauf achten, dass du es tust. Er wird diese Ehre und dich sicherlich gegen jeden verteidigen.“

„Was? Mich muss man nicht verteidigen. Ich bin eine freie Frau und ich tue, was ich will! Ich trage die Verantwortung für mich und die Meinen!“

„Bitte, meine Liebe, das tust du gerade nicht!“, säuselte sie kopfschüttelnd.

„Wie bitte? Was tue ich nicht?“

„Liebes, du trägst keine Verantwortung für die Deinen, sonst würdest du nicht gegen alles rebellieren, was einem friedlichen Zusammenleben dient.“

„Aber ich ...“

„Oh, genau das tust du. Du kämpfst gegen deinen lieben Mann. Du willst alleine entscheiden, was gut ist und was nicht. Du störst die Ordnung und du bist ein schlechtes Vorbild.“

„Lea!“ Shana schnappte hörbar nach Luft: „Lea, wie kannst du so etwas sagen?“

„Liebes, weil ich es denke. Du bist es doch, die immer Wert darauf legt, dass ich offen sage, was ich denke. Und ich denke so! Und du – Liebes, du solltest auch so denken.“ Damit stand sie auf und ging. Shana starrte ihr hinterher. Griff wütend nach den Datteln und schmiss sie fort.

„Heb sie wieder auf!“ Karas kam gerade von den Pferden und sah sie nur streng an.

„Warum?“

„Weil selbst Searcher nicht schändlich mit Nahrung umgehen!“, gab er ganz entspannt zurück.

Sie schluckte, die Bemerkung saß. Schnell erhob sie sich, las die Datteln wieder auf und folgte ihm ins Zelt. Er stand einfach da, sah sie an und trank Wasser.

„Du siehst schrecklich aus!“, stellte sie fest.

„Hmm“, gab er mit einem Nicken, schrägem Lächeln und in leicht amüsiertem Ton zurück. Dann streckte er die Hand nach ihr aus. Sie wollte ihm noch eine Antwort geben, aber er zog sie zu sich heran und legte ihr einen Finger der anderen Hand auf den Mund. Ihr fiel auch nicht wirklich etwas ein, was sie hätte erwidern können. Wahrscheinlich rettete er sie mit dieser Geste sogar vor einer weiteren Dummheit. Stattdessen ließ sie sich von ihm führen und sie begannen, einander zärtlich zu berühren. Unter seinen erst ganz sanft streichelnden und allmählich immer mehr fordernden Händen verlor sie alle Anspannung und alle Kraft, sie gab sich ihm nur noch hin. Er verführte sie mit allen Sinnen. Die körperliche Begierde schaltete ihren Verstand aus und er liebte sie bis zur totalen Erschöpfung auf jede erdenkliche Weise. Dann lag sie da und spürte selbst wie vollkommen unerwartet Tränen aus ihren geschlossenen Augen strömten.

„Hab ich dir wehgetan?“, fragte er erschrocken und besorgt.

„Nein. Nein, natürlich nicht. Nein. - Ja, doch.“

„Hä?“

„Nicht jetzt, nicht während du mich berührt hast.“

„Kenn sich einer mit Weibern aus.“ Hörbar verärgert, versuchte er trotzdem ihre Tränen wegzuküssen. Sie drehte den Kopf weg. Er sah sie kurz an, stand auf und ging.

Sie glaubte im Einschlafen noch den Rhythmus von Leilas Hufen zu hören, dann war nichts mehr. Sie erwachte beim ersten Gesang der Vögel und fröstelte. Sie war allein. Wirre Träume hatten sie durch die Nacht begleitet und sie fühlte sich elend. Jeder Muskel schmerzte. Es war schlimmer als nach ihrem Erwachen nach der vorigen Nacht. So matt wie sie sich fühlte, blieb sie einfach liegen und schlief wieder ein. Das nächste Mal erwachte sie von der Hitze und irgendeinem Geschrei vorbeirennender Kinder. Sie erhob sich mühsam und schüttelte mehrmals den Kopf, um klar zu werden. Tapsend suchte sie im Zelt die große Wasserschale, schüttete Wasser über ihren Kopf und rieb sich kräftig durch ihr Gesicht. Beiläufig griff sie nach dem Schleier und schlang ihn routinemäßig um, bevor sie hinausging. Dort standen noch die Datteln, die Lea ihr am Tag zuvor gebracht hatte. Sie rieb sie mit der Hand ab und aß, hörte aber sofort wieder auf, da ihr übel wurde. Sie sah sich im Lager um. Aus einer spontanen Idee heraus, ging sie zu den Pferden und ritt ins Sandland. Ihre Augen hatten die ganze Zeit wie von selbst nach irgendeiner Spur von ihm gesucht.

Das Lager wurde immer in Richtung des Sandlandes verlassen und alle kamen auch immer nur aus dieser Richtung heim. Warum eigentlich? Sie lenkte Lalee in nördlicher Richtung. Wüste, nichts als Wüste. Nach einiger Zeit erblickte sie zwei Reiter, die scheinbar direkt auf sie zukamen. Sie hielt an. Es waren Hathai. Sie waren zu weit entfernt, als dass sie hätte erkennen können, wer es war. Dann machten die Reiter einen riesigen Bogen nach Westen, fast bis an das Lager heran, schließlich kam einer auf sie zu.

„Nein! Hoffentlich denkt er nicht, ich wollte fort. Ich kann eine solche Auseinandersetzung jetzt nicht führen. Nicht jetzt“, dachte sie und sie fühlte sich irgendwie benommen. Sie war die ganze Zeit über, seit sie die Reiter erblickt hatte, stehen geblieben. Und nun wartete sie einfach, bis der Reiter sie erreicht haben würde. Dabei hielt sie den Kopf leicht gesenkt, um nicht in die fast schon untergehende Sonne schauen zu müssen. Erleichtert erkannte sie Arak, ein ruhiger, stets freundlicher Mann. Diese Unterhaltung würde sicher nicht unangenehm werden.

„Shana. Sei gegrüßt. Was tust du hier?“

„Nichts“, war die ehrliche Antwort.

Er sah sie eine Weile fragend an, dann sagte er: „Du weißt, dass du in dieser Richtung nicht weiter reiten kannst?“

„Nein. Wieso nicht?“

„Willst du mir wirklich erzählen, Karas hat dich nie vor den Treibsandfeldern gewarnt?“

„Treibsandfelder?“

„Ja, unser Lager wird an zwei Seiten von einem riesigen Teil der Wüste begrenzt, in dem es mehr Treibsandflächen als festen Untergrund gibt.“

„Das habe ich nicht gewusst.“

„Dann weißt du es, dem Heiligen sei Dank, jetzt.“

„Danke dir, Arak.“

Er wandte sein Pferd um, hielt aber noch einmal an. „Willst du nicht mit uns zum Lager zurückkommen? Die Sonne geht sonst unter, bevor du zurück sein kannst.“

Sie wusste, dass man glaubte, dass es für eine Frau nicht gut war, im Dunkel allein außerhalb des Lagers zu bleiben. „Ich möchte auf Karas warten“, antwortete sie deshalb.

„Dann warte aber nicht mehr zu lange. Versprochen?“

„Versprochen.“

Wie freundlich Arak sprach. Er war nach Handar sicherlich der freundlichste Mann im ganzen Lager.

Trotz ihres Versprechens blieb sie, bis die Sonne wie ein riesiger roter Ball über dem Horizont stand, dann erst lenkte sie Lalee zurück. Die Stute fand auch im Dunkeln den Weg, also brauchte sie gar nicht so viel zu erkennen. Und wirklich gefährlichen Tieren war sie im oder um das Lager nie begegnet. Die waren bestimmt alle gefangen und gegessen worden, solange wie das Lager hier schon bestand.

Als sie ihr Zelt erreichte, sah sie manches kleine Feuer flackern, aber ihr Zelt war so trostlos leer und verlassen. Was sollte sie tun? Wo war Karas? Sie konnte schlecht zu Ra'un oder Kari gehen und fragen, wo ihr Mann war.

Auch am nächsten Morgen war er nicht zurück und am übernächsten auch nicht. Sie wurde unruhig.

„Eigentlich könnte ich jetzt aufbrechen und nach meiner Sippe suchen. Er kann mich nicht zurückhalten, wenn er nicht da ist.“ Sie begann ihre Sachen zusammen zu suchen. Während sie ihre langen, ledernen Strümpfe suchte, die stets für längere Wege ihre Fußbekleidung waren, kamen ihr Zweifel auf.

„Ich will nicht, dass er glaubt, ich sei geflohen. Ich gehe nicht heimlich von ihm. Bei allem, was mir heilig ist. Ich fliehe nicht!“

Ein tiefes, bis dahin fast unbekanntes Gefühl der Einsamkeit überfiel sie. Sie musste mit jemandem reden. Jetzt.

Kurz entschlossen ging sie zu Kari.

Sie tranken gemeinsam Tee und schwatzten über belanglosen Klatsch.

„Rubea ist schon wieder schwanger“, seufzte Kari.

Shana entging der Blick, mit dem sie bei diesen Worten Shanas Leib musterte, nicht.

„Da wird sie sich aber freuen“, entgegnete sie kühl.

„Oh nein, was redest du? Das ist viel zu schnell. Besonders jetzt, wo der Rat zurzeit darüber berät, ob wir vor der Regenzeit das Lager wechseln.“

Wie? Hatte sie gerade richtig gehört? Warum wusste sie nichts davon? Sie wollte sich nichts anmerken lassen und fragte: „Fürchtet Rubea, sie könnte die Strapazen nicht aushalten?“

„Nein, eher nicht. Aber sie war beim letzten Mal sehr launisch und empfindsam. Doch so was muss sich ja nicht wiederholen. Sie ist ja sonst so ein liebes, unkompliziertes Ding.“ Lächelnd, sinnend starrte Kari ins Leere.

Shana verspürte einen heftigen Stich in ihrer Brust. Rubea war die mit Abstand schönste Frau, die sie selbst je erblickt hatte. Ihr Anblick war einfach unvergleichlich. Sie war eine Mischung aus schillernder, rassiger Erscheinung und wandelndem Engel. Sie besaß ein ebenmäßiges, zartes Gesicht, trotzdem feurige Augen und eine Lockenpracht, die ihresgleichen suchte. Die vollendeten Formen ihres Körpers waren selbst unter der weitesten Tunika zu erkennen und sie bewegte sich mit einer Anmut, dass man hätte glauben können, sie würde den Boden kaum berühren. Dazu kam eine liebevolle Sanftmut und ein scheues Lächeln, das einen jeden sofort für sie einnahm. Selbst ihre Stimme hatte einen freundlichen, hellen Klang. Und Shana wusste, diese Schönheit hatte einmal Karas Herz erobert.

Sie schluckte und murmelte mit belegter Stimme: „Kari, darf ich dich etwas fragen?“

„Aber immer doch, mein Schatz.“

„Was war das mit Rubea und Karas?“

„Oh, davon weißt du gar nichts?“

„Nein.“

„Tja, dann. Warum nicht? - Arak und Karas waren als Kinder unzertrennlich. Zusammen fühlten sie sich sogar den Älteren überlegen und ließen keine Gelegenheit aus, anderen Streiche zu spielen. In der Zeit, als es ihre Aufgabe war, die Ziegen zu hüten, wusste man nie, was dabei heraus kam. Selbst in der Zeit ihrer ersten Besorgungsritte, war das so. Ra'un und Machud haben oft genug darunter gelitten. Dann haben sie bei einem der großen Hathaitreffen beide Rubea gesehen. Karas war sofort entflammt. Er wusste gar nicht genug Blödsinn anzustellen, nur um ihr zu imponieren. Doch sie hatte nur Augen für seinen ruhigeren Freund. Du weißt sicherlich, wie so etwas ist.“

„Ja – ich versteh schon“, antwortete Shana mechanisch und log damit zum ersten Mal absichtlich. Gar nichts wusste sie. Gar nichts hatte sie von den Gefühlen zwischen Jungen und Mädchen gelernt. Wo denn auch? Sie hatte gelernt, wie sie den Wind befragen konnte und wie der Sand ihr verriet, wo es feuchter sein könnte, wie in dem Zusammenspiel von Wind und Sand der Horizont verriet, wo die Landschaft sich änderte. Sie hatte gelernt, nur ihren Kräften und ihrem Gespür zu vertrauen. Lange bevor sie die Frauenreife erlangt hatte, hatte sie die Verantwortung für die Versorgung Yambis und der Kinder übernehmen müssen. Nichts wusste sie von den anderen Dingen, von dem Leben in der Hütte, wenn man älter war. Von der Suche nach einem Partner. Diese Themen hatten in ihrem Leben keinen Platz gehabt. Sie war für sich allein, bis sie mit Handar in das Hathailager kam und dann nach Tagen einem jungen Mann gegenüber stand, wenig älter als sie selbst, der von seiner Mutter belehrt wurde und mit anderen jungen Männern im Wettstreit auf Pferden ritt, seine Kräfte maß oder jagen ging und sich nicht darum kümmerte, wo das Wasser herkam. Dafür war das Lager ja an einer Oase.

Dass er sich ihr gegenüber sonderbar verhielt, hatte sie nicht übersehen können. Und wie verwirrt sie war, wenn er in der Nähe war und ihr manchmal heiß wurde, wenn er sie ansah, ach was, anglotzte ... Es schien ihr jetzt so lange her zu sein. Verdammt, wo war er? Sie spürte ein schmerzliches, heißes Ziehen in ihrem Körper, spürte, wie sehr sie ihn vermisste. Sie wünschte, sie könnte Kari fragen? Stattdessen hörte sie sich fragen: „Wie ging es dann weiter?“

„Nun ja – Arak und Karas sind in die Wüste geritten und haben die Entscheidung gesucht. Als sie zurückkehrten, verließ Karas jedes Lagerfeuer, an dem Rubeas Name erwähnt wurde und Arak wählte sie zur Frau. Die Sache war erledigt.“ Verträumt schauten sie in das glimmende Feuer.

„Oh, es ist spät geworden, ich gehe lieber wieder in unser Zelt.“

„Schön, dass du das sagst. Ich habe diese Worte noch nie bei dir gehört. 'Unser Zelt'. Das freut mich.“ Sie umarmten einander und Shana ging.

Jedoch ging sie zuerst zu Lalee. Bei den Pferden war alles in Ordnung. Wie in der letzten Zeit häufig, fehlten ein paar. Darauf hatte sie in den vergangenen Tagen gar nicht geachtet. Es waren also mehr Männer unterwegs.

Wie lange sie später auf dem Lager lag, zwischen Wachen und Schlafen hin und her pendelnd, vermochte sie nicht zu sagen. Mit einem Mal rissen laute Rufe sie aus dem dämmrigen Zustand. Hoffnung keimte auf, dass der Lärm draußen die Rückkehr der Männer verkündete. Hastig stand sie auf, ordnete mit raschen Bewegungen ihre Kleider und lief aus dem Zelt, um die Ursache des Lärms zu erkunden.

Was sie vorfand, war alles andere als die Freude über die Rückkehr einiger Reiter. Männer, Frauen und Kinder waren in der Nähe des Ratsplatzes zusammengekommen und redeten aufgeregt durcheinander. Shana bahnte sich den Weg zwischen den Umstehenden und starrte ungläubig auf das Geschehen. Offenbar sollte eine öffentliche Bestrafung stattfinden. Einer der älteren Jungen, sie glaubte den jungen Amas zu erkennen, kniete mit bloßem Oberkörper in der Nähe des Ratsplatzes auf dem Boden. Ragas, sein Vater, stand hinter ihm und zog eine Peitsche durch seine Hand. Sichtbare Angst zeichnete das Gesicht des Knienden. Dann schloss der Junge die Augen und sagte mit lauter, aber zittriger Stimme: „Ich habe gegen die Regeln verstoßen und bitte um Vergebung.“ Er beugte sich kniend vor und berührte mit der Stirn den Sand. Ragas holte aus und ließ knallend die Peitsche über den Rücken seines Sohnes fahren.

Shana erstarrte für einen winzigen Augenblick, dann verhinderte nur Karis Arm, dass sie vorwärts stürmte.

„Das geht dich nichts an. Sie befolgen nur das Gesetz. Bleib ruhig und lass es dir eine Lehre sein“, raunte Kari ihr ins Ohr.

Mit Entsetzen verfolgte Shana, wie die Peitsche immer wieder über den Rücken von Amas schlug, wie sich blutige Spuren auf seinem Rücken zeigten. Erst nach sechs grauenhaften Hieben ließ sein Vater von ihm ab.

Shana schloss die Augen. Amas letzter Aufschrei gellte in ihren Ohren. Nie würde sie diesen Laut vergessen können. Und Kari hielt ihr mit fester Hand den Mund zu, während sie sie von dem Platz fort zog. Shana riss ihren Kopf herum und sah, wie Ragas sein Gesicht zum Himmel wendete, dann den Kopf sinken ließ und als gebeugter Mann in sein Zelt ging. Die Peitsche lag wie eine getötete Schlange neben Amas, der immer noch zitternd und blutend am Boden kauerte. Die Umstehenden verließen einfach den Ort des Geschehens. Shana zitterte im ganzen Körper. Mit einer für sie selbst unerklärlichen Kraft stieß sie Kari von sich und eilte zu ihrem Zelt.

Kari folgte ihr: „Shana! Amas hat gegen die Regeln verstoßen und wusste, welche Bestrafung er dafür erhalten würde.“

„Ihr seid Barbaren“, brüllte Shana außer sich vor Abscheu.

„Was dir gerade barbarisch erscheint, sichert das Überleben von uns allen“, antwortete Kari, als sie sie beim Zelt eingeholt hatte.

„Wie kann so etwas das Überleben sichern?“, schrie Shana mit brechender Stimme.

„Die Regeln ermöglichen den Zusammenhalt der Familien und des Lagers. Sie sichern die Verlässlichkeit des Verhaltens für jeden von uns.“

„Und dafür quält ihr ein Kind?“

„Amas ist kein Kind mehr. Er hat die Verantwortung für das Vieh seiner Familie. Er sichert damit das Überleben vieler Menschen.“ Mit diesen Worten ließ Kari sie stehen.

„Mir wird schlecht.“

Die seit Tagen immer wiederkehrende Übelkeit stieg diesmal so heftig in ihr hoch, dass sie aus ihrem Zelt stürmte, es gerade so schaffte, auf die Rückseite zu eilen, dort auf die Knie fiel und sich in heftigen Wellen übergab.

Auf einmal stand Ra'un neben ihr. Er hielt ihr den Kopf. Erst als sie sich endlich vollständig leer fühlte, vermochte sie ihren Kopf anzuheben und er gab ihr ihren Schal.

„Wisch dich ab“, sagte er mitfühlend.

Dann erhob sie sich, schwankte und bemerkte selbst, dass ihre Beine wieder nachgaben. Ra'un stützte sie, drehte sie langsam herum und führte sie um das Zelt. Sie hielt die Augen geschlossen und ließ ihren Kopf hängend gegen seine Schulter sinken. Nie zuvor hatte sie sich so elend gefühlt.

„Ach Ra'un“, flüsterte sie schwach.

Sie versuchte ein 'Danke' zu formulieren, kam aber nicht dazu, weil Ra'un abrupt stoppte.

„Lass sie los!“, donnerte die dunkle Stimme.

Die Worte zerschnitten die Luft. Wie sehr hatte sie diese Stimme in den letzten Tagen herbeigesehnt und wie sehr erzitterte sie nun, bei ihrem Klang.

„Sie kann nicht alleine gehen“, antwortete Ra'un hörbar angespannt.

„Dann kriecht sie eben! - Lass sie los!“ Die Laute klangen mehr wie ein fauchendes Knurren als gesprochene Worte.

Ra'un folgte der Unheil verkündenden Aufforderung sogleich und sie stolperte kraftlos vorwärts. Direkt in Karas Arm. Er roch widerlich, wobei ihr nicht klar war, ob sie sich selbst roch oder ihn. Fest griff er zu, brachte sie mit schnellem Schritt ins Zelt, ließ sie auf das Lager niedersinken und stürmte schon wieder hinaus.

„Du bist mein Bruder“, schnaubte er in schneidendem Ton.

„Sie ist unschuldig“, entgegnete Ra'un.

„Das werde ich entscheiden.“

„Hörst du mich an?“

Eisige Stille folgte, bevor mit hörbar erkämpfter Ruhe die Antwort kam: „Wir reden nach Sonnenuntergang.“

Schritte entfernten sich. Karas Bewegungen wurden extrem langsam, gezähmt. So als wolle er sich selbst hindern, zu explodieren. Er packte seinen Sattelsack, den er fallen gelassen hatte, öffnete das Zelt und trat ein. Wieder ließ er den Sack klirrend fallen. Ganz langsam wickelte er seinen Gesichtsschleier auf, streifte seinen Umhang ab, schlüpfte aus den Sandalen und löste gleichzeitig seine Gürtel.

Mühsam beobachtete Shana ihn aus halb geöffneten Augen. Kribbelnde Angst breitete sich unter ihrer Haut aus. Gleichzeitig war sie zu benommen, fühlte sich zu elend, um sich irgendwie zu bewegen. Er setzte sich mit versteinerter Miene vor sie auf den Boden, so dass er direkt in ihr Gesicht blickte. Nach einer ganzen Weile eisigen Schweigens fragte er: „Was fange ich bloß mit dir an? Wieso tust du uns das an?“

Sie vermochte nicht zu antworten, sein Geruch erzeugte neue Übelkeit. Sie würgte und diesmal schaffte sie es nicht, vorher aufzustehen. Er reinigte ihr mit einem feuchten Tuch grob das Gesicht.

Vor Wut über ihre Hilflosigkeit und Ekel über ihren eigenen Gestank, wurden ihre Augen feucht. Dies verstärkte ihre Wut auf sich selbst und sie kämpfte dagegen an, laut loszuheulen. Karas verließ das Zelt und kehrte kurz danach mit Kari zurück.

Die erfasste die Situation mit einem Blick und fragte nur: „Mädchen, Mädchen – seit wann geht das schon so?“ Zu Karas gewandt befahl sie: „Wasch dich. Du stinkst.“

Karas ging. Kari reinigte sehr behutsam Shanas Gesicht und Körper, wusch ihre Haare und flocht sie zu einem Zopf, kleidete sie neu und reinigte das Lager gründlich. Setze sich wieder zu ihr, hielt ihren Kopf und summte eine zärtliche Melodie.

„Kari, ich...“

„Pssst. Nicht jetzt.“

„Ich hab Angst.“

„Das solltest du auch.“

Hatte Shana auf Trost gehofft, so verfiel sie nun in eine haltlose Schwäche. Was war das für eine Antwort? Sie begriff wie kurz sie vor einer Tragödie stand. Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, stand Karas wieder vor dem Bett und Kari stand auf, raffte die schmutzigen Laken und Gewänder zusammen. Ehe sie endgültig das Zelt verließ, sagte sie: „Sie trägt ein Kind.“

„Oh.“ Sein Ton hatte keine Freude, eher klang er nach einer durch Überraschung in Zaum gehaltenen Wut. Er stand ganz kurz unschlüssig da, so als ob er das eben gehörte, gar nicht fassen könne. Stumm und langsam legte er sich neben sie, streichelte erst ihr Gesicht, dann vorsichtig ihren Bauch.

Er schien Karis Befehl befolgt zu haben und trug sogar frische Kleidung. Jedenfalls war sein Gestank nicht mehr so ekelerregend. Aber die Stille, die sie beide umgab, war umso unerträglicher. So sehr, dass Shana zu wimmern anfing. Er rollte sich auf den Rücken, verdeckte seine Augen mit seinem Unterarm und blieb einfach so liegen. Wie lange, konnte Shana nicht sagen, doch sie war sich sicher, dass es Sonnenuntergang war, als er aufstand und sie wortlos verließ.

Ra'un brauchte nicht lange zu warten. Sein Bruder musste ihn nicht suchen. Alles war klar. Sie würden mit den Pferden in die Wüste reiten, wie sie es seit jeher getan hatten, wenn sie etwas zu klären hatten.

Schweigend ritten sie im gestreckten Galopp hinaus. Karas würde vorgeben wie schnell und wie lange sie ritten. Der schreckliche Verdacht, der diesmal zwischen ihnen stand, erforderte anscheinend eine größere Strecke, denn Karas trieb Leila wie rasend an. Erst sein gellender Schrei war das Zeichen zum Stopp. Sie parierten aus dem mörderischen Tempo durch und sprangen ab.

Kaum das Ra'un den Boden berührt hatte, versuchte er Karas mit einer Erklärung zu besänftigen: „Sie ist krank.“

Unmittelbar danach traf ihn Karas Faust ins Gesicht. Der Schlag warf ihn nieder. Karas nickte: „Sie trägt ein Kind.“

„Oh. Gratuliere“, stöhnte Ra'un mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Von wem?“

„Karas, das meinst du nicht ernst? Du bist der Einzige, der das wissen sollte!“

„Bist du sicher?“

„Du etwa nicht?“

„Nach heute?“

„Verdammt, kleiner Bruder! Ich bitte dich, benutz deinen Verstand.“

„Tu ich das nicht?“

„Wohl offensichtlich nicht! Ich habe ihr heute geholfen, wie du ihr geholfen hättest.“

„Das hoffe ich nicht.“

„Karas! Was soll das? Hast du vollkommen den Verstand verloren?“

„Hab ich das?“

„Was deine Frau angeht, scheint es so!“

„Gut, dass du das sagst.“

„Sei nicht so sarkastisch.“

„Bin ich das?“

Ra'un war wieder auf die Beine gekommen und im letzten Dreh des Aufstehens schlug er zu. Er wartete nicht, bis Karas sich wieder aufgerappelt hatte, sondern setzte sofort nach. Als er keine Gegenwehr mehr erwartete, ließ er von ihm ab. „Muss ich dir Verstand einprügeln?“, keuchte er. Karas rieb sein Kinn und setzte sich, den Kopf schüttelnd, auf.

„Du meinst, du kannst diese Angelegenheit wie früher regeln? Vergiss nicht, ich bin mittlerweile stärker als du.“

„Aber nicht klüger, sonst würdest du nicht an Shanas Unschuld zweifeln.“

„Was du nicht sagst.“

Zynischer konnte eine Stimme nicht klingen.

„Verdammt. Jetzt komm endlich klar. Niemand, außer dir, hat Shana je angerührt.“

„Woher weißt du das? Von ihr selbst?“

„Du bist ein verblendeter Idiot.“

„War ich das - oder bin ich das?“

„Hör sofort auf, Karas. Noch ein Wort und ich berufe den Familienrat ein. Willst du das wirklich?“

Die Frage schien ihren Zweck zu erfüllen. Denn die Antwort war ein lang gezogener, ernüchterter Laut: „Aaargh.“

„Na also“, erleichtert atmete Ra'un aus und ließ sich neben Karas auf den Sand fallen.

Ein aufkommender, leiser Wind blies die feinen Körner in ihre Gesichter. Bewegungslos hielten sie dem stand bis es schmerzte. Die zunehmende Dunkelheit verbarg langsam ihre Mienen. Sie brauchten sich nicht zu sehen, um zu wissen, was in dem jeweils anderen vorging.

„Shana handelt und denkt so anders. - Ich weiß oft nicht, was ich tun soll.“

„Sie liebt dich.“

„Sie will ständig fort.“

„Gibst du ihr Grund dazu oder ist unser Leben zu hart für sie?“

„Nein! Nein. Das kann nicht sein. Ich könnte ihr niemals willentlich wehtun. Bei allem, was ich über ihr vorheriges Leben weiß und von ihr gehört habe, müsste sie sich in unserem Lager verwöhnt vorkommen.“

„Bei deinem Dickschädel bezweifle ich das sehr.“

„Das sagst ausgerechnet du? - Nein, sie hat wahrscheinlich sogar einen größeren Dickschädel als du.“

„Wieso?“

„Sie will unbedingt fort, ihre Sippe suchen.“

„Du, du hast ihr nichts gesagt?“

„Was sollte ich ihr sagen? Aus diesem dreckigen Karais war nichts mehr herauszuprügeln. Er wusste wirklich nicht, ob die Sklavenjäger Arkani erbeutet hatten oder nicht. Selbst seine Tochter brachte ihn nicht zum Reden.“

„Hör auf! Mir wird sonst schlecht.“

„Du bist zu zart besaitet.“

„Ich glaube nicht! Nur manches will man gar nicht so genau wissen!“

Ohne weiter auf die kritische Haltung Ra'uns einzugehen, fuhr Karas fort: „Es gibt nichts Neues. Nichts, was wir nicht schon wussten.“

Sie schwiegen wieder.

Die Kälte kam schnell in dieser Nacht. Sie kühlte ihre erhitzten Gemüter endgültig ab. Als sie zu frösteln anfingen, meinte Ra'un: „Karas, lass dich nicht so sehr von Angst leiten.“

„Angst?“

„Ja, Angst“, bestätigte er und fuhr nach einer Pause fort: „Nie zuvor habe ich dich so erlebt. Aber seit du Shanas Schicksal mit dem deinen verbunden hast, hast du Angst. Und Angst ist auch der Grund, warum du sie überhaupt verdächtigt hast. Du bist verwundbar geworden.“

Karas versuchte gegen den Kloß in seinem Hals anzuschlucken. „Wer sagt das?“

„Nur ich, kleiner Bruder. Nur ich und deine Mutter.“

„Waaas?“

„Wem glaubst du, etwas vormachen zu können? Wir kennen dich und wissen, dass dich nichts wirklich aus der Fassung bringen kann. Nichts, bis auf Shana.“

„Was denkt Vater?“

„Vater stellt sich blind oder du weißt es vor ihm besser zu verbergen. Wie immer, kriegt er nur mit, was er mitkriegen will. Und er hat dich seither nicht kämpfen sehen. Deine Brutalität ist langsam selbst für mich zu viel.“

Statt einer Antwort stand Karas auf und ging zu Leila.

Sie schwangen sich auf die Pferde und ritten in langsamem Schritt zurück. Die gleichmäßige Bewegung der Tiere vertrieb die letzte Anspannung. Sie setzten ihr Gespräch in einem plaudernden Ton fort: „Was wirst du tun? Ich meine - was wirst du mit Shana tun?“

„Was wohl?“

„Sei vorsichtig.“

„Ra'un, du kennst mich.“

„Eben drum. Deine Liebe kann wehtun.“

„Und deine auch. Aber ich sagte bereits, ich werde ihr niemals willentlich Schmerz zufügen.“ Mit dieser Bemerkung rieb er sich ein weiteres Mal am Kinn.

Ihre Auseinandersetzung war beendet. Beide Brüder wussten, dass sie diesen Punkt nie wieder klären müssten. Auf dem Rest des Weges tauschten sie eher scherzende Bemerkungen aus.

Ihre Rückkehr ins Lager wurde von vier Augen verfolgt. Zum einen wartete Kari im Schatten ihres Zeltes. Sie hatte sich so vor das Zelt gesetzt, dass sie genau den westlichen Bereich des Lagers mit dem Pferdepferch beobachten konnte, aber selbst vollständig mit dem Schatten der Zeltwand verschmolz. Es reichte ihr, die Silhouette ihrer Söhne zu sehen, um beruhigt in das Innere ihres Zeltes zu schlüpfen.

Shana dagegen hatte mit Karas Aufbruch eine tiefe Unruhe erfasst. Sie war aufgestanden, sobald sie den Hufschlag der davon jagenden Pferde vernahm und hatte sich vor das Zelt gesetzt. Nach einer Weile suchte sie eine Beschäftigung für ihre Hände. Sie fand nicht genug Ruhe, um irgendetwas auszubessern oder herzustellen. Sie nahm alle Krüge hoch, um den Wasservorrat zu kontrollieren und schließlich ging sie trotz der Dunkelheit Wasser holen. Für sie war dies die einzige halbwegs normale Tätigkeit. Allein der aufsteigende Geruch der Wasserstelle befreite ihre Sinne.

Wie einfach war ihr Searcherdasein gewesen. Wie klar waren die Regeln: Wasser finden hieß Leben, es nicht zu finden hieß Tod. Seit sie hier lebte, stieß sie dauernd auf neue Anforderungen und Regeln. Recht und Unrecht lagen so nahe zusammen, waren so sehr von dem eigenen Standpunkt bestimmt oder auch nicht. Dieses verdammte Prinzip der physischen Stärke, die die Hathai für Sicherheit hielten und auf die sie sich so sehr zu verlassen schienen. Draußen, in der Wüste, zählten andere Dinge: die Fähigkeit unsichtbar zu sein, die richtige Einschätzung der eigenen Reserven oder die Leidensfähigkeit. Sie bezweifelte, dass einer der jungen Krieger sich bei einer Wassersuche bewährt hätte, dies traute sie eigentlich nur einem zu: Handar.

Allein der Gedanke an den liebenswürdigen, kräftigen älteren Mann, dem sie nicht nur im wahrsten Sinn ihr Leben verdankte, erfüllte sie mit Sehnsucht nach der Harmonie, die sie in seiner Nähe immer gespürt hatte.

Hätte sie es nur geschafft, rechtzeitig dieses Lager wieder zu verlassen. Wäre sie ihm nur nie begegnet! Wie viel Schmerz wäre ihr erspart geblieben? - Yambi, oh geliebte Yambi, – wie recht du hattest: Männer machen nur Ärger.

Seit sie Karas zum ersten Mal gesehen hatte, verstand sie immer mehr, was Yambi in den Vollmondnächten hinaustrieb oder warum sie an manchen Tagen so unausstehlich launisch war. Diese elende Sehnsucht nach einem Geschöpf, das einen so in Abhängigkeit stürzte und so wenig für den Alltag taugte, das befremdende Angst und Schmerz in das Herz brachte, die sie vorher nicht kannte. Sie fühlte sich gebunden. Mit Fesseln, die ihr unlösbar vorkamen und die doch niemand sah. Wie oft waren ihr die Kehle und die Brust wie zugeschnürt? Wie oft machte schon eine zufällige Berührung von ihm sie vollständig hilflos? In seiner Gegenwart war es sogar schwer, klar zu denken. Es musste einen Ausweg geben! Wie hatte Yambi gesagt: „Im Zweifelsfall musst du dein eigenes Herz töten, um zu überleben.“

An der Quelle ließ sie das spärlich rinnende Wasser über ihre Handgelenke rinnen. Das Gefühl von Leben, Freiheit, Erfolg, Lachen und nochmals - Leben. Sie sog den Geruch der Quelle ein, lauschte den Geräuschen der Nacht, genoss das Plätschern des Wassers, während sie den Krug füllte. Nach Tagen der Entbehrung war dies stets der Himmel gewesen. Immer!

Ihr Herz blieb nicht bei diesem Frieden. Es zwang sie, auf die Laute von dort draußen zu lauschen. Wann ertönte der ersehnte und gefürchtete Hufschlag? Verärgert bemerkte sie, wie stark sie sich vor dem fürchtete, was sie gleichzeitig ersehnte.

Dann stand sie auf, schulterte den schweren Krug und ging zurück.

Warum tat sie das eigentlich? Was erwartete sie?

Nichts! Jedenfalls hatte sich dort nichts verändert. Sie stellte den Krug ab und ging gestikulierend hin und her, wie ein gefangenes wildes Tier. Wie erbärmlich! Vor Wut über sich selbst, biss sie sich in den Arm.

„Was machst du?“

Wie konnte allein seine Stimme so viel Erleichterung und Ärger gleichzeitig auslösen.

„Nichts, was dich etwas anginge“, fauchte sie.

Wieso konnte sie ihm nicht einfach freundlich antworten?

Ra'un ging vorbei und wünschte: „Gute Nacht, Shana.“ Er wusste, dass ihr sein Gruß einiges von der Anspannung nahm, unter der sie stehen musste.

Allein seine freundlich klingende Stimme milderte für einen Augenblick den Zorn, der schon wieder in ihr aufstieg.

Oh, wie erlösend. Sie waren zusammen ins Lager zurückgekommen!

„Gute Nacht, Ra'un.“

Sie schaffte es, die Unterbrechung ihrer Gedanken zu nutzen und sich zu sammeln, bevor ihr Geist wieder vollkommen von Karas Anwesenheit gefangen genommen wurde. Aber schon im Umdrehen stieß sie mit ihm zusammen.

Sofort umschlangen sie seine Arme. „Meine geliebte kleine Raubkatze, mein Schatz“, flüsterte er grinsend.

Sie zuckte, stieß ihn, sich aus seiner Umarmung befreiend, ein wenig zurück.

„Oh nein“, schoss der Gedanke zeitgleich mit ihrer Bewegung durch ihren Kopf. Zu spät, sie konnte ihre Hand nicht mehr stoppen und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Vollkommen von ihrer eigenen Reaktion überrascht, wartete sie auf seine Antwort.

Da sie vor Schrecken über ihre Tat die Augen schloss, sah sie das Blitzen seiner Zähne nicht, die er mit einem hämischen Grinsen freilegte. Heute hatte er härtere Treffer eingesteckt. „Wenn du es nicht anders willst!“, raunte er und griff sie um die Taille und warf sie sich einfach über die Schulter, um sie ins Zelt zu tragen.

„Lass mich runter, du Miststück.“

„Oh, hatten wir diese freundliche Begrüßung nicht erst vor ein paar Tagen? Ich muss dir mal Manieren beibringen.“

„Wage dich ja nicht, mich zu schlagen!“

„Sonst?“ Welch beißender Spott lag in seiner Stimme! Auch, als er weitersprach: „Wer sollte mich daran hindern?“

„Du Scheusal.“

„Diesen Namen kenne ich schon.“

Sie konnte nicht anders. In ihrer ohnmächtigen Wut schlug sie so fest mit ihren Fäusten auf seinen Rücken, wie sie nur konnte. Statt sie abzusetzen und zu stoppen, wartete er. Und ließ sich dann mit ihr aufs Lager fallen.

„Autsch.“

Erschrocken fuhr er hoch: „Shana? Shana, Schatz habe ich dich verletzt?“

„Quatsch, du doch nicht.“

„Was tut dir weh?“

„Nichts! Sag mir, habe ich den Verstand verloren?“, maulte sie.

„Ist das nützlich?“

„Was willst du? Ich meine: was willst du von mir?“

Er schwieg und sah sie mit einem Mal sehr ernst an. „Eine liebevolle Frau.“

Sprachlos suchten ihre Augen seinen Blick. Ohne einen Laut von sich zu geben, lauschte sie mit offenen Lippen, seinen Worten: „Vielleicht eine, die sich freut, wenn sie ihren Mann sieht und nicht unverschämt und prügelnd auf ihn losgeht.“

Sie drehte den Kopf weg und schniefte.

„Nein, fang jetzt nicht an zu heulen.“

„Ich heul doch gar nicht“, stammelte sie unter Tränen.

„Gut, dann sehe ich schlecht.“ Besänftigt lächelnd streckte er ihr die Hand entgegen: „Komm her zu mir.“

Zögerlich schob sie sich an ihn heran. Was für eine Erlösung! Sie schafften es wirklich, sich eng aneinander zu schmiegen und zu schweigen. Seine Hände wanderten langsam und ruhig an ihrem Körper entlang, streichelten zart ihre Brüste und glitten dann immer tiefer, umkreisten ihren Bauchnabel, fuhren an ihren Schenkeln entlang und wanderten zurück auf ihren Bauch.

Unter diesen Berührungen fiel auch der letzte Rest Furcht und Grübelei von ihr ab. Ihre Muskeln wurden weich. Nach ein paar tiefen Atemzügen schlief sie einfach erschöpft ein. Er aber lag wach. Wachend neben ihr. Sah sie an, streichelte sie sehr vorsichtig, deckte sie zu. Flüsterte Liebkosungen in ihr Haar und strich sich selbst verschämt eine Träne weg. Sie hätten die glücklichsten Menschen im ganzen Lager sein müssen. Warum machte sie ihm das Leben so schwer?

Er schlief auch noch nicht, als sie stöhnend erwachte.

„Was ist Liebling?“

„Mir ist schlecht“, jammerte sie.

„Kann ich dir helfen?“

„Mir ist dauernd schlecht.“

Tröstend nahm er sie in den Arm. Was hatte seine Mutter gesagt? Sie trägt ein Kind.

Er wusste, dass schwangeren Frauen häufiger schlecht wurde. Er erinnerte sich sogar an seine völlig entnervten Freunde, die vor den Launen ihrer Frauen fliehen und ständig auf die Jagd wollten oder andere Wege suchten, nicht in ihrem Zelt zu sein. Aber er konnte Shana nicht dauernd allein lassen. Seine Frau würde nur auf dumme Gedanken kommen.

Searcher

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