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Das große Fest

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Die Ruhe der Festteilnehmer war zur absoluten Stille geworden, seit Handar die Brautwahl seines Sohnes abgelehnt hatte und dieser lautstark dagegen aufbegehrte. Die Empörung war in jedem Winkel des hell erleuchteten, riesigen Festzeltes spürbar.

„Habt ihr nicht selbst die Vorzüge von Rihs gepriesen und behauptet, ihre Töchter ließen wohl ebenfalls gute Ergebnisse erwarten? Warum sollten Shanas kräftige Schenkel nicht eben solch gute Ausbeute bringen?“

„Mäßige dich! Wie kannst du vor unseren Gästen solche Reden führen?“, donnerte Handar seinen jüngsten Sohn an.

Die zusammensitzenden, bunt und schillernd gekleideten Frauen, beugten sich zueinander und tuschelten, aber verfielen sofort wieder in aufmerksames Schweigen, als klar war, dass Karas nicht so leicht zu bremsen war.

Er schien sich durch den Appell seines Vaters, in seiner Wut, nur noch mehr angestachelt zu fühlen. Statt ruhiger zu werden, fuhr er mit noch lauter werdender Stimme fort: „Oder eine Verbindung mit Eschei, die würdet ihr sicher auch befürworten. Sie hat den richtigen Stammbaum und eine einflussreiche Familie hinter sich. Oder sollte ich mich für Rabei entscheiden? Wahrscheinlich schenkt sie euch Nachkommen, die in eurem Sinn mehr taugen.“

Seine große Gestalt, sein donnerndes Brüllen, hoben ihn aus allen Anwesenden hervor. Seine Schultern und sein Brustkorb bebten. Die Haut glänzte dunkler als sonst. Stolzierend bewegte er sich mitten in die Schar der Gäste und wies mit der nach oben gerichteten, offenen Hand auf die jeweilige junge Frau, von der er gerade sprach.

„Shana, ich mag deine Ohren und deinen Verstand nicht beleidigen, aber so wird nun mal die Rede über die heiratsfähigen Frauen in diesem Lager geführt. - Nein Mutter, wendet euch nicht ab, ihr habt still dabei gesessen, wenn Vater und seine Gäste sich über die Vorzüge unserer Frauen unterhielten. Tut jetzt nicht so, als ob ich unehrenhaft wäre!“

Einigen der anwesenden Männer stand ein genießerisches Grinsen auf dem Gesicht, während sie das Schauspiel der Auseinandersetzung zwischen Karas und seinem Vater verfolgten. Der öffentliche Eklat zwischen Vater und Sohn hatte einen guten Unterhaltungswert. Selbst wenn sich der Sohn hier noch so unhöflich und unverschämt aufführte, so sprach er doch die Wahrheit.

Die Mehrheit der anwesenden Frauen nahm dagegen, die von ihnen zu erwartende Haltung des entrüsteten Rückzugs ein. Scheinbar wandten sie sich dem Ausgang zu, doch in Wahrheit wollten sie natürlich bleiben, um ja alles genauestens verfolgen zu können, was hier dargeboten wurde.

Dieses Fest war einfach gelungen. Es würde wohl noch viele Jahre für Gesprächsstoff sorgen.

Wie es bei den Großfesten der Hathailager Brauch war, hatten die Söhne ihre Wünsche für die beabsichtigten Hochzeiten verkündet. Bei den Meisten hatten die Familien schon vorher entsprechende Kontakte geknüpft und Absprachen getroffen. Es war aber durchaus üblich, dass mancher junge Mann erst auf dem Fest seinen Wunsch verkündete. In der Regel widersprach sein Vater anfänglich diesem Wunsch und der Sohn hatte gute Argumente für seine Wahl vorzubringen, die die Zustimmung aller oder zumindest der meisten Anwesenden bewirken sollten. Doch mit solch einem Auftritt, hatte niemand gerechnet.

Karas hatte seinem Vater, wie es sich dem Brauch nach gehörte, nach dem Mahl den Becher gebracht und dann verkündet, er gedenke, Shana zur Gefährtin zu wählen.

Dass er diesmal seinen Heiratswunsch bekannt machen würde, war zu erwarten gewesen. Seine Wahl aber, verblüffte zumindest diejenigen, die nicht aus ihrem Lager kamen.

Handar, von dem jeder wusste, dass er seinen Findelgast sehr schätzte und liebte, war völlig außer sich. Bis zu diesem Augenblick, hatte er die Entwicklungen in seinem Zelt nicht wirklich mitbekommen. Er war genau einen Tag und eine Nacht wieder im Lager, bevor das Großfest begann. Wunderte sich über die verbrannten Gesichter, konnte aber keinem in seinem Zelt eine Erklärung abringen. Selbst Werra drehte verlegen den Kopf zur Seite, als er sie fragte, was geschehen sei. Dass Karas eine Hathai nach eigenem Gutdünken wählen würde, hatte er erwartet. Von den angemessenen Brautschaubesuchen in den anderen Lagern wusste er. Und er war sich sicher gewesen, Karas würde eine gute Wahl treffen. Doch wen er wählen würde, konnte man aller Erfahrung nach nicht vorhersehen.

Karas hatte in vielen Dingen nicht nach dem Rat seiner Eltern gefragt, wo dies eigentlich üblich gewesen wäre. Nun überraschte er mit seiner Wahl einer Nicht-Hathai, noch dazu einer Frau, deren Aussehen allein geeignet war, begierige Blicke auf das Lager zu lenken.

So sehr Handar die beiden liebte, dies konnte er nicht unwidersprochen zulassen. Bei allem Verständnis. Shana war zweifellos eine kluge und liebenswerte Frau. Sie hatte die Herzen aller in der Familie im Nu erobert, doch sie war von ganz anderem Denken geprägt. Es war nicht sicher, ob sie sich auf Dauer mit der Lebensform der Hathai würde wohlfühlen können. Sie war vielmehr auf ein einsames Überleben ausgerichtet und das Einfügen in die Gemeinschaft, um das Wohl vieler willen, würde ihr sehr viel abverlangen. Vielleicht sogar mehr, als gut für sie war. Hier galt es, ein ewiges Unglück zu verhindern und so hatte er es auf Karas Ankündigung entgegnet.

Nun randalierte der junge, sture Kerl auf seine Weise.

„Verehrte Eschei, du weißt, dass ich dich schätze. Ich will dich nicht beleidigen. Ich wiederhole nur die üblichen Unterhaltungen der alten Männer, um klar zu machen, was hier gespielt wird.“

Die Angesprochene stand wie festgewachsen, dunkelrot angelaufen da und blickte peinlich berührt zu Boden. Es mochte sein, dass sie ernsthaft gehofft hatte, eines Tages mit Karas das Lager zu teilen. Da er aber offensichtlich diesen bleichen Findling von Frau an seiner Seite wollte, waren sie und alle anderen Anwärterinnen jeglicher Illusion beraubt. Sie kannte ihren Kindheits- und Jugendgefährten Karas zu gut, um sich vorzumachen, dass er doch noch von Shana ablassen könnte und sich dem Willen seines Vaters beugen würde. Wie sehr sie sich auch wünschen mochten, er hätte diesen Kampf für sie ausgefochten, so sehr beschied er diesen Träumen gerade ein Ende.

Shana, die bis jetzt unscheinbar in einem Winkel gekauert hatte, raffte den großen Schal enger um sich. Sie war unter mehreren Schichten von Schleiern fast völlig verborgen. Nun erhob sie sich lautlos, schob sich langsam in Richtung Ausgang an der Zeltwand entlang, weil sie möglichst unauffällig fort wollte.

Doch bevor sie vier Schritte hatte machen können, war Karas bei ihr und hielt sie zurück.

„Bleib!“, donnerte er und sie stand mit einer seiner Bewegungen, mit ihm im Zentrum aller Aufmerksamkeit. „Du wirst nicht von meiner Seite getrennt, bloß weil du nicht als Hathai geboren wurdest. Du bist eine größere Kostbarkeit als jeder hier und sie wissen das.“ Er zog sie bis in die Mitte des Raumes, reckte sich vor seinem Vater zu voller Größe und blickte ihn herausfordernd an. Handars Haltung wiederum zeigte seine ganze Autorität und seinen ganzen Zorn über den spektakulären Auftritt seines Sohnes. Die zerstörten Pläne des Familienältesten waren fast sichtbar in seinem Blick.

Bevor Karas ein weiteres Wort sagen konnte, benutzte Handar die rituelle Handbewegung, die den absoluten Gehorsam von allen Familienmitgliedern einforderte und auch diesmal ihre Wirkung nicht verfehlte. Teils wurde dies von den Zuschauern mit Bedauern wahrgenommen, teils mit Erleichterung.

Mit von Zorn gefärbter und doch kalt wirkender Stimme sprach Handar: „Karas, schweig jetzt! Nimm das Weib und verlass das Zelt!“

Über Karas Gesicht zog das strahlende Lächeln des gewissen Triumphes. Er nahm Shana mit einem Schwung auf seine Arme und trug sie durch die zur Seite weichende, leicht über das schnelle Ende des Disputes enttäuschte, Gästeschar hinaus. Dabei flüsterte er triumphierend in ihr Ohr: „Du bist meine Frau und nichts und niemand kann daran noch etwas ändern.“

Bis die beiden das Zelt verlassen hatten, herrschte eine auffällige Stille. Hinter ihnen aber, erhob sich ein aufgeregtes Gemurmel und Shana hörte deutlich, wie sich Handar, mit um Souveränität bemühter Stimme, laut meldete: „Verzeiht Freunde! Familienangelegenheiten, die in dieser Form, nichts bei unserem Zusammensein zu suchen haben. Lasst uns den Abend dennoch genießen, mit dem was uns erfreut und uns wichtig ist. Esst, trinkt und spielt Musik. Wir sind hier, um die kommenden Tage zu feiern, die Pläne unserer Familien zu offenbaren und das Leben zu genießen.“

Dann erklang eine leise, fröhliche Musik von Trommeln und Flöten. Die Klänge verrieten, dass sich alle gemächlich wieder den gewöhnlichen Freuden eines Festes zuwandten.

Shana war froh, in diesem Moment ganz fest gehalten zu werden. Zwar verspürte sie den Drang, gegen diese Art des Umgangs mit ihr zu widersprechen, aber gleichzeitig genoss sie es, im wahrsten Sinne des Wortes, zum ersten Mal in ihrem Leben aus der Verantwortung getragen zu werden. Karas trug sie noch durch das halbe Lager, bis zu der engeren Baumgruppe des Quellplatzes und ließ sie erst neben der Quelle zu Boden. Jetzt, zu später Stunde, war dieser Ort verlassen und nur ein paar kleine Wildtiere näherten sich vorsichtig dem Wasser.

Erst saßen sie nur schweigend nebeneinander. Er betrachtete Shana mit forschendem Blick. Sie zeigte keine Reaktion, aber das siegessichere Grinsen auf seinem Gesicht verschwand langsam. Stattdessen zog er mehr und mehr die Stirn kraus.

„Du wirst doch bei mir bleiben?“, fragte er leise und hörbar besorgt.

Ohne ihm zu antworten, hob sie seufzend ihr Gesicht dem Himmel entgegen und zog geräuschvoll die Luft in die Nase. Dann ließ sie sich auf den Boden sinken, starrte noch eine Weile auf die heranziehende Dunkelheit, bevor sie deutlich sagte: „Bis zum nächsten Sonnenaufgang bestimmt!“

„Shana“, stöhnte er. Empörung und Unsicherheit färbten seine Stimme. Plötzlich war er ganz verlegen und kleinlaut: „Du bist sicher schockiert, über die Art wie ich über dich gesprochen habe…“

„Über mich?”, schnaubte sie und fuhr ruckartig wieder hoch. „Du hast über Frauen gesprochen, als wären sie Vieh! Du hast klar gemacht, dass das die Haltung der Hathai gegenüber ihren Frauen ist. Über eure Pferde sprecht ihr mit Achtung und Bewunderung, Zärtlichkeit und Stolz. Über Frauen dagegen, redet ihr genauso abschätzend wie über eure Viehherden. Und ich soll schockiert sein. - Schockiert?!“ Sie hatte das letzte Wort fast geschrien. „Das ist wohl nicht das richtige Wort. Wie kannst du es wagen, auf diese Art über mich zu reden? Was unterscheidet dieses Gerede denn von dem der Vieh- oder Sklavenhändler? In was für einer Welt lebst du und deine Familie eigentlich? Meinst du wirklich, ich wollte ebenfalls auf diese Art leben? Ich bin Searcher in meiner Sippe. Ich bin verantwortlich für die Versorgung meiner Gemeinschaft und für unser Überleben. Ich bin eine freie Frau.“

„Natürlich bist du eine freie Frau, aber schau, deine Leute sind fort ...“ unterbrach er sie beschwörend und flehend zugleich.

Dies waren die falschen Worte. Kaum ausgesprochen, entwickelten sie ihr Gift.

„Ja, du hast Recht“, fauchte sie ihn an und sie fühlte die Hitze in ihrem Körper aufsteigen, das Blut schoss ihr ins Gesicht, sie bebte vor unterdrückter Wut. „Sie sind fort. Aber das gibt mir noch lange nicht das Recht, mich nicht darum zu kümmern, wo sie sind und mich stattdessen zu einem Haufen herrischer Hathai zu verkriechen und versorgen zu lassen. Was ich gerade gehört habe, hat mir gezeigt, was ich hier zu erwarten habe. Nein, ich bin schon viel zu lange hier. Dein Vater hat Recht. Recht damit, dass ich nicht die richtige Wahl für einen Hathai sein kann und Recht damit, dass du dich grauenhaft benommen hast. Wie du dich aufgeführt hast, ist unverzeihlich. Und ich bin schuld. Ich bin der Streitpunkt und habe alle in unnötige Gefahr gebracht. Mir bleibt nur eines, nämlich möglichst bald zu gehen. Und ich bin erholt genug, um endlich ernsthaft nach Yambi zu suchen.“

Karas hockte sich vor sie. Reine Sorge stand in seinem Gesicht. Mit mühsam gedämpfter Stimme bettelte er: „Shana, bitte! Ich will dich - bei mir. Ich will deine Familie sein. Ich kann mir keine andere Frau mehr an meiner Seite vorstellen. Das war zwischen uns doch geklärt.”

„So, seit wann?“

Er hob seine Stimme und seufzte, als rede er mit einem störrischen Kind: „Shana!“

Der sonst so sichere Karas war jetzt gänzlich verschwunden. Vor ihr kniete eher wieder der junge Mann, der sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt angestarrt hatte und so sprach- und hilflos war, als er ihr zum ersten Mal begegnete.

Ihre Augen fingen seinen bestürzt fragenden Blick ein und sie musste gegen ihren Willen lächeln. Dieser Mann, der keine Auseinandersetzung scheute, der stets seinen eigenen Kopf durchsetzte und sich nur seiner Mutter wirklich unterordnete, dieser Kerl, war vor ihr zu einem beinahe verzagten, sehnsuchtsvollen Bittsteller geworden. Gerade hatte er noch allen seine Sturheit und Stärke demonstriert, war mit ihr umgegangen, als hätte er ein Anrecht auf sie - und jetzt? Sein verzweifelter Blick und seine Hilflosigkeit, besänftigten Shana. Mehr, als ihr eigentlich lieb war.

Wesentlich ruhiger, ja sogar mit einem fragenden Unterton, antwortete sie: „Ja, du hast gesagt, was du willst. Aber siehst du nicht, dass das hier alles wieder ändert? Das ist gegen den Willen deines Vaters. Ich kann das Kari nicht antun. Sei doch vernünftig! Ich muss gehen und dein Platz ist hier.“

Weiter kam sie nicht. Er hatte ihr Zaudern bemerkt, verschloss ihren Mund mit einem langen Kuss, beugte sich über sie und dann legte er sofort seine Hand auf ihre Lippen, sagte fest und zärtlich zugleich: „Sei still! Du wirst meine Frau. Selbst mein Vater nannte dich Weib. Wenn du gehen musst, gehen wir gemeinsam. Dir bleibt nur eine Wahl: wenn du jetzt meine Frau werden willst, dann brauchst du nur zu nicken, ansonsten wirst du eine Hathai-Hochzeit aushalten müssen.“

So schnell hatte er sie diesmal rumgekriegt. Ihr Atem ging heftiger. Sie spürte einen riesigen Kloß in ihrem Hals, sein Körper bebte mit einem Mal über ihrem. Mit mächtigem Drängen pulsierten seine Muskeln fordernd an ihrem Körper und unbekannte, seltsame Gefühle bemächtigten sich jeder Faser ihres Leibes. Sie geriet in einen Strudel von Empfindungen. Voller Unwissenheit; fremd im eigenen Körper. Zwischen Angst und Sehnsucht, verlor sie jede Kontrolle. Sie rang nach Atem, um den schwindelnden Gefühlen beizukommen. Sein Druck gegen ihren Leib wurde stärker. Feuchte Hitze breitete sich zwischen ihnen aus.

„Entscheide dich“, stöhnte er, während er vor Anspannung keuchte. Da ertönten, direkt über ihm und mit scharfer Stimme gesprochen, die Worte: „Reiß dich zusammen!“

Plötzlich - und ohne warnenden Laut - war Ra'un hinter ihm aufgetaucht und riss ihn an den Schultern zurück.

„Reiß dich zusammen oder brauchst du kaltes Wasser zur Abkühlung?“, knurrte Ra'un ihn an, um gleich darauf Shana in freundlichem Ton zu bitten: „Shana, bitte geh ins Zelt. Eure Hochzeit findet statt und ich freue mich für euch, aber das passiert nicht jetzt.“

Er kniete mit einem Bein auf Karas Brust, packte ihn am Gewand und sprach: „Eine reife Vorstellung Brüderchen. Respekt. Aber du wirst deine Mutter nicht auch noch zum Gespött der anderen Frauen machen, indem du sie um die Hochzeit bringst.“

Erneut zu Shana gewandt, raunte er zwar noch immer freundlich, aber nachdrücklicher: „Nun geh schon, Shana!“

Sie bewegte sich zuerst zögerlich, als sie jedoch auf ihren Füßen stand, wurde sie sicher. Im nächsten Augenblick rannte sie los. Ra'un ließ seinen Bruder erst los, als er sie tatsächlich im Zelt der Familie wähnte.

„Du elender Dickkopf“, schimpfte er.

Karas bemühte sich um die Kontrolle über seinen Atem, bevor ein verschmitztes Grinsen sich breit über sein Gesicht zog. „Verdammt. Wer hätte das gedacht, dass mein Bruder meine Frau vor mir rettet?“, knurrte er halb lachend. „Wer hat dich geschickt? Auf wessen Seite stehst du?”

„Hör auf mit dem Quatsch! Nimm dir Shana zur Frau, aber nicht so. Du hoffst doch auch, dass sie dieses Fest nur einmal erlebt, also gönn‘ es ihr und jetzt denk gefälligst! Und zwar mit deinem Kopf!“

Ra'uns Ärger war nicht zu überhören. Das Verhalten seines Bruders würde Folgen für die ganze Familie haben. Er missbilligte Karas Impulsivität und hielt sie sogar für gefährlich. Deshalb wollte er ihn weiter beruhigen und fing in geschäftsmäßigem Ton an, von der vergangenen Reise zu berichten: „Es gibt Wichtigeres. Die Stadtmenschen scheinen ein größeres Problem zu haben. Sie brauchen anscheinend gesunde Frauen. Es gibt kaum Kinder in der Stadt und ich habe nicht eine schwangere Frau dort gesehen.“ Mit diesem Themenwechsel erreichte er sein Ziel.

„Deshalb jagen sie verstärkt nach Sklaven?“, fuhr Karas ernüchtert dazwischen.

„Ja, das könnte gut sein. Auch von den anderen Clans wurden vermehrt Überfälle beobachtet. Meist wurden die Männer getötet und die Frauen verschleppt. Ein paar Karais helfen den Sklavenjägern anscheinend dabei.“

Diese Worte taten ihre Wirkung.

Karas war ganz bei dem Thema: „Haben sie die Lager unserer Brüder überfallen?“

„Im Süden haben sie es versucht, aber unsere Brüder dort waren wachsam genug. Doch im Zweifelsfall hätten wir keine wirkliche Chance. Ihre technische Ausrüstung ist unseren Methoden weit überlegen. Ihre Skrupellosigkeit zahlt sich für sie aus. Alles, was für uns etwas bedeutet, hat für sie nur wenig Nutzen. Sie scheinen immer mehr und immer schneller nur für den Augenblick zu leben, alles zu benutzen, bis es nicht mehr funktioniert und keinen Gedanken an ihre Ahnen oder ihre Nachfahren zu verschwenden. Die Karais gehören seltener zu ihrer Beute, weil sie sie mit dem Luxus des Exotischen beliefern. Über Wasser müssen sich die Meeresstädter keine Gedanken machen. Wasser gibt es für sie, solange die großen Anlagen am Meer arbeiten. Und dennoch stimmt etwas nicht. Die meisten Städter sehen krank aus, obwohl sie alles, was du dir vorstellen kannst und noch viel mehr, zur Verfügung haben. Ich bin mir sicher, wir müssen sie fürchten und unsere beste Verteidigung wird vorerst unsere Unsichtbarkeit und die Unwegsamkeit zu unseren Lagern sein.“

„Was sagt Vater?“

„Zu deiner Vorstellung vorhin? Ich glaube, er ist ernsthaft sauer.“

„Nein, lass das. Was sagt er zu der Situation in den Städten?“

„Er teilt meine Ansicht, aber er glaubt nicht daran, dass uns irgendetwas helfen kann, wenn sie es darauf anlegen. Wie viele andere, meint er, unser Volk sollte entweder die Wanderung durch die Wüste auf sich nehmen oder sich dem Stadtleben anpassen und ihre Lebensart erlernen.“

„Könntest du in der Stadt leben?“

„Niemals! Wenn du schon die Siedlungen der Karais für zu eng hältst, dann hast du in einer Meeresstadt das Gefühl ersticken zu müssen. Wenn du die deinen liebst, dann verlierst du in der Meeresstadt den Verstand.“

„Arak erzählte, dass es sehr unterschiedliche Lebensverhältnisse für die Stadtbewohner gibt. Die Einen, die anscheinend alles haben und sich vor den anderen, die um alles kämpfen müssen, zu schützen versuchen?“

Schweigend registrierte Ra'un, dass sein Bruder mittlerweile wenigstens gelassen Araks Namen aussprach und bestätigte nur: „Ich teile seine Einschätzung. Aber wir verstehen beide Gruppen nicht und sie haben beide keinerlei Achtung vor unsereins.“

„Was werden die Hathai tun?“

„Die Zukunft liegt jenseits der Wüste und der Meeresstädte, die haben ebenfalls keine Zukunft. Die Hathai haben sich auf ihre traditionellen Lebensformen zurück besinnen können, als die übrige Welt durch die Dürrezeiten fast vollständig zerstört wurde. Wir werden weiterhin dann eine Überlebenschance haben, wenn wir die Zukunft in unseren Traditionen suchen. Doch auch wir müssen neue Wege gehen, da die Niederschläge zu selten kommen und unsere Ziegenherden zu viel kahl fressen.“

„Hm.“

Dieses Gespräch setzte andere Gefühle frei. Die Hitze der Leidenschaft war für einige Zeit gebannt und Ra'un lenkte vorsichtig ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Fest. Ihr Clan war schließlich der Gastgeber.

„Komm jetzt!“, setzte Ra'un zum Abschluss an. „Heute geht es um deine nahe Zukunft. Heute Nacht kannst du in meinem Zelt schlafen, aber schnarch nicht!“, mit diesen Worten schubste er Karas lachend in die Seite. Sie standen auf und Ra'un ging voran. Karas warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Zelt seines Vaters, aber dann folgte er seinem Bruder.

„Ra'un!“

„Eh?“

„Gut, dass du da warst.“

Das Fest dauerte die ganze Nacht. Und trotz oder gerade wegen des Zwischenfalls, wurde es eine fröhliche, ausgelassene Begegnung. In den tiefen, dunklen Stunden der Nacht ertönten vielfältige Gesänge und die Jüngeren schlugen Rhythmen, zu denen sie ausgelassen tanzten.

Im Laufe der Nacht wurden zwei weitere Hochzeiten angekündigt. Sie entsprachen den allgemeinen Erwartungen. Und unter denen, die ihre gerade geborenen Kinder vorstellten, war auch Arak. Rubea hatte ihm in der angemessenen Zeit einen Sohn geschenkt, den er an diesem Abend stolz präsentierte. Insgeheim seufzte Handar bei dieser Ankündigung erleichtert auf, dass Karas nicht im Festzelt war. Selbst wenn Karas nun sein Herz an Shana verloren hatte, so war Handar sich nicht ganz sicher, ob sein Sohn die Tatsache überwunden hatte, dass Rubea zu seinem engsten Freund gegangen war. Aber es schien ja, als ob Karas bereit war, für Shana alles aufs Spiel zu setzen.

Insgeheim verspürte Handar sogar einen gewissen Stolz auf den Mut, den Karas mit seiner Haltung bewies.


Schon wieder hob sich der Teppich, der üblicherweise den Eingang des Zeltes verschloss, und eine weitere junge Frau schob ihren Kopf hindurch. Wie ihre Vorgängerinnen, hatte sie eine dicke Deckenrolle und ein Bündel dabei, suchte sich lächelnd einen Platz und begann sich einzurichten, als beabsichtige sie, mehrere Tage zu bleiben.

Shana hatte keine Ahnung, was Karas gemeint haben konnte, als er keuchte, sonst müsse sie eine Hathai-Hochzeit aushalten. Das hier, gehörte anscheinend dazu. Seit dem frühen Morgen waren mittlerweile fünf Frauen aufgetaucht, die Shana nur flüchtig kannte. Und Shana erinnerte sich gut, dass mindestens zwei von ihnen sie eine Zeit lang angezischt hatten, wenn sie ihr begegneten.

In den ersten Tagen, die Shana in dem Lager verbracht hatte, verhielten sich viele Frauen ihr gegenüber offen ablehnend. Anfangs hatten sie sie einfach nur nicht beachtet oder zumindest so getan. Als aber Karas heimgekehrt war und sein Interesse an Shana zeigte, hatten sie angefangen, Zischlaute zu machen, wenn sie sich näherte. Sie stoppten dieses Verhalten erst, nachdem Kari es bemerkt hatte und Shana lautstark in Schutz nahm.

Egal! Jetzt, da Kari ihr Zelt zu Shanas Brautzelt erklärt hatte, kamen sie alle, um die nächste Zeit gemeinsam darin zu verbringen. Bald war es so voll, dass Shana glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Von allen Seiten drangen hohe Stimmen in ihre Ohren, es war stickig heiß und die merkwürdigsten Gerüche breiteten sich aus.

Während der Hochzeitsvorbereitungen, so hatte Kari ihr am Morgen erklärt, dürfte Shana das Zelt nur noch für das Notwendigste und dann auch noch möglichst nur in Begleitung verlassen. Wie aber sollte sie das überleben? Hilfe suchend blickte sie sich immer wieder nach Kari um, die davon kaum Notiz zu nehmen schien und stattdessen lachend mit den anderen Frauen schwatzte. Nur eine junge Frau, die freundlich lächelnd, aber meist sehr ruhig unter den anderen saß, schien Shanas Not zu bemerken. Sie bahnte sich einen Weg, um sich direkt neben Shana niederzulassen und bot ihr einfach lächelnd einen Tee an. „Hier, trink und mach die Augen zu, dann wird es besser“, flüsterte sie.

Dankbar gehorchte Shana und tatsächlich, es half ein wenig. Die folgenden Tage kamen Shana wie ein Martyrium vor, das sie sicherlich ohne die Hilfe von Lea, so hieß die junge Frau, nicht durchgestanden hätte. Lebten die Hathai schon normalerweise in einer für Shana schier bedrückenden Enge, so war das hier unerträglich: zu laut, zu eng und von allem zu viel.

Kari erklärte ihr zwar, was hier gerade ablief, aber mehr als ein aufmunterndes Streicheln über den Kopf und ein paar lachend gesagte Worte kamen nicht dazu. Irgendwann hatte Shana aufgehört zu zählen. Sie wusste nicht, wie viele Frauen im Zelt waren, es waren auf jeden Fall zu viele. Jede einzelne hatte sie begrüßt, ihren Namen gesagt und erklärt, wie sehr sie sich freue, Shana in die Gemeinschaft der Hathaifrauen aufzunehmen. Was um Himmels Willen sie auch immer damit meinen konnten, es klang fremd und bedrohlich.

In den nächsten Tagen lernte sie, dass die Frauen der Meinung waren, sie seien die eigentlichen Bewohner des Lagers und die Männer wären lediglich willkommene Gäste. Shana sollte den Aufenthalt in dem Brautzelt dazu nutzen, sich auf ihre zukünftige Rolle in der Frauengemeinschaft vorzubereiten. Nebenbei würde man ihr einiges über das Eheleben erklären.

„Kari, was soll das? Mich macht dieses Gerede ganz krank. Ich will hier raus“, flehte sie.

„Ach Mädchen, reiß dich zusammen. So schwer kann es doch nicht sein, mal ein paar Tage auf Karas zu verzichten. Komm iss mit uns und hör zu. All die Geschichten, die hier erzählt werden, zeigen dir, wie das Leben mit einem Mann im Zelt wirklich ist. An vieles wirst du dich später erinnern und es wird dir helfen, wenn du weißt, dass du nicht die Einzige bist, die vor solchen Aufgaben steht. ...“

„Sie sind da. Die Männer sind da. Sie haben die Felle und Stangen gebracht“, rief eine Frau, die gerade ins Zelt gestürmt kam.

Was immer Kari noch hatte sagen wollen, war jetzt offensichtlich unwichtig. Sie drehte sich zu einigen anderen älteren Frauen um und gab ihnen einen Wink ihr zu folgen. Shana hoffte, das Zelt würde sich leeren, aber bald musste sie ihren Irrtum erkennen. Die Männer hatten die Materialien für Shanas eigenes Zelt gebracht und Kari begutachtete alles ausführlich. Zufrieden strahlend sagte sie: „Die Jungs haben gut gearbeitet. Ich glaube, sie können mit dem Zeltbau beginnen. Schafft die Häute rein. Wir nähen für zwei Mittelpfosten.“

Im Nu verwandelte sich das halbe Zeltinnere in einen Nähplatz, wo die jungen Frauen nun Hand in Hand arbeiteten. Wieder war es Lea, die Shana half, ihren Platz in der Gruppe zu finden.

Wenige Tage später waren sie fertig und nun verließen die Frauen nach und nach das Zelt. Für kurze Zeit blieb Shana mit Kari allein zurück. Vor Erleichterung begann Shana hemmungslos zu heulen. Sie konnte nicht stoppen, obwohl sie befürchtete Kari würde wütend werden. Umso verblüffter und freudiger nahm sie die liebevolle Begrüßung durch Kari an: „Komm her mein Kind! Ich freue mich so sehr, dich meine Tochter nennen zu dürfen und ich werde mich bemühen, deine Mutter würdevoll zu vertreten.“

Als Kari bemerkte, wie Shanas Körper angespannt blieb, fragte sie: „Du bist nicht glücklich? Was bedrückt dich?“

Sie trat auf Shana zu, ergriff ihre Hände und zog sie zu den Deckenlagern, um sich mit ihr hinzusetzen. Dann fuhr sie besorgt fort: „Kind, habe ich mich so getäuscht? Willst du nicht an der Seite meines Sohnes leben?“

„Doch Kari, schon, aber...“

„Was aber? Hat er etwa deine Ehre verletzt? Ist er so scheußlich zu dir gewesen, dass du nicht an seiner Seite leben kannst? Oder gibt es einen anderen Mann in deinem Herzen, von dem wir hier nichts wissen, und den du vor Karas schützen willst?“

„Nein, nein, nein. Es gibt keinen anderen. Nur meine Sippe! Meine Sippe: Yambi, die Kinder ... Kari, ich muss doch meine Sippe suchen!“

„Klar musst du das! Aber wieso willst du nicht Karas Gefährtin sein?“

Für Kari schien es darin keinen Widerspruch zu geben. Und Karas hatte doch das Gleiche gesagt. Warum also sollte es ein Problem für sie selbst sein? Shana schwieg und spürte ihre innere Unruhe. Wieder hob sie an: „Aber...“

„Was aber? Da ist noch was anderes, was dich zögern lässt. Was ist es?“

„Ich glaube, ich bin mir nicht sicher ... es ist eure Art zu leben. Ich meine es ist nichts falsch an eurem Leben, aber es ist so anders und davor habe ich Angst.“

„Bitte, erkläre mir das genauer!“

„Nun, wo soll ich anfangen? Ähm. Sieh mal, ich war immer frei. Frei zu tun, was ich wollte und wie ich es wollte. Frei hinzugehen, wohin ich wollte und zu reden, mit wem und wann ich wollte. Für mich gab keine Frage danach, wer was tun darf oder sagen darf. Jeder wählt seine Aufgabe nach seinen Fähigkeiten und die erfüllt er. Jeder sagt seine Meinung, wann er will und wem er will. Jeder ist nach seinen Kräften verantwortlich.“

„Ist das bei den Hathai anders?“

„Ja und nein! Es gibt so viele Regeln, so viele Menschen auf einem Haufen. Ich kann das nicht ertragen. Und dann Karas. Karas ist so, so – so bestimmend, so stark. Ich habe Angst, selbst schwach zu werden, wenn ich neben ihm bin. Und manche Dinge, die er sagt oder tut, machen mich einfach nur wütend oder sind verletzend.“

„Dann hat er dir doch etwas angetan?“

„Nein. Es ist seine Art, einfach seine Art, über mich zu bestimmen. Stell dir vor, er sagt mir, was ich tun soll.“

Lachend umschlang Kari Shana.

„Kind, Kind”, lachte sie und wischte sich die Freudentränen von den Wangen, „das ist doch nicht schlimm! Er ist vernarrt in dich und er redet halt, wie die Männer seit ewigen Zeiten reden. Aber er wird dich immer respektieren. Du hast Recht, unsere Freiheit ist anders. Aber eben nur anders. Du wirst das schnell lernen. Außerdem wer sagt denn, dass du diesem Dickkopf nicht Manieren beibringen wirst. Schau mal Shana, nichts von dem, was du gesagt hast, ist ein wirklicher Grund eure Herzen zu verletzen. Und ich bin sicher, dein Herz würde genauso schmerzen, wie das meines Sohnes, wenn du nicht seine Gefährtin werden würdest. Willst du das wirklich?“

„Nein ...“

Trotz Karis Lachen, fühlte Shana sich ernstgenommen. Langsam begriff sie, dass sie einfach Angst vor diesem Schritt in einen neuen Lebensabschnitt hatte. Doch wenn Karas seine bisher ungezügelte Freiheit so leicht für sie hergab, wieso sollte sie es nicht tun können? Sie seufzte, setzte dann aber fast flüsternd nach: „Warum hat Handar gegen mich gesprochen?“

Jetzt war es raus! Auch Kari spürte, dies war der letzte Grund, für Shana zu zaudern. Die Zustimmung Handars war Shana wirklich wichtig. Sie fühlte sich ihm gegenüber verpflichtet. Er hatte ihr Leben gerettet und sie wollte nichts tun, was ihm gegenüber undankbar wäre. Aus echter Sorge und dem Wunsch nicht gegen seinen Willen zu handeln, würde Shana sogar darauf verzichten, ihrem eigenen Herzen zu folgen.

„Es ist seine Rolle, das Herz seines Sohnes zu prüfen“, beeilte sich Kari, sie zu beruhigen. „Wir Hathai machen den Vater des Bräutigams verantwortlich, wenn die Braut unglücklich wird. Dieser Streit war in gewisser Weise ein Ritual, wie es viele gibt. Aber, das kann und will ich dir nicht verschweigen: Handar hat auch aus Sorge um unser Volk gesprochen. Zusätzlich konnte er sich nicht so schnell damit abfinden, dass er erst jetzt von euren Plänen erfuhr. Was aber ganz sicher die wichtigste Rolle für ihn spielt, ist seine Sorge um dein Wohl. Sei dir sicher, du hast längst einen festen Platz in seinem Herzen. So fest, dass er sich schon mehrfach um deine Zukunft Gedanken gemacht hat. Er befürchtet, du könntest bei uns unglücklich werden. Er würde dich und dein Glück jederzeit mit seinem Leben verteidigen.“

Mit dem letzten Satz, konnte Shana zurzeit nichts anfangen. Es würde noch einige Zeit vergehen, bis sie begriff, wovon Kari da redete.

Shana fühlte sich in Bezug auf Handar noch aus einem weiteren Grund sehr bedrückt: „Warum war Karas dann so ausfallend gegenüber allen?“

„Tja. Ich weiß es nicht! Das war tatsächlich zu viel! Er ist ein furchtbarer Dickkopf und hat manchmal sehr schlechte Manieren. Er ist heute viel zu weit gegangen. Ich bedaure es sehr, dir keinen besser erzogenen Sohn zu geben.“

„Ja, da hast du wohl Recht!“, murmelte Shana. Kaum waren diese Worte über ihre Lippen gekommen, bereute sie sie schon. Wie konnte sie Kari nur so beleidigen? „Entschuldige bitte, ich vergaß...“

„Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen. Deine Offenheit kann mir nur gut tun, denn du bist so rein wie deine Rede und das ist gut!“

Kari stand dennoch auf und es war ihr anzumerken, sie war zwar nicht beleidigt, doch sie musste um ihre Fassung ringen. Unklar blieb, was sie stärker verunsicherte, die Erinnerung an das unerhörte Verhalten ihres Sohnes oder Shanas leider zutreffende Bemerkung. Sie drehte sich unschlüssig hin und her und dann sagte sie: „Wäre das nun geklärt? Darf ich dich die Braut meines Sohnes, meine Tochter, nennen?“

Jetzt war es an Shana, um Fassung zu ringen und stockend, lächelnd, atmete sie tief ein. Sie begriff, wie sehr Kari an ihrem Glück lag.

„Ja! Ja, ich bitte dich darum!“, hauchte sie schließlich ihre Einwilligung.

„Na dann“, glücklich schnaubend richtete sich Kari zu ihrer vollen Größe auf, „wollen wir uns den letzten Vorbereitungen stellen.“

Sie klatschte in die Hände und zwei ältere Frauen, Lea, Eschei und Werra kamen wieder ins Zelt, beladen mit Stoffen und Krügen.

Unerwartet fühlte sich Shana in die Mitte des Zeltes gezogen. Kari organisierte mit sanfter Stimme die eigentliche Vorbereitung der Braut für die Begegnung mit dem Bräutigam. Erstaunlich rasch ging das Waschen, Salben, Ankleiden vor sich. Zu ihrer Brautausstattung gehörte keinerlei Kopfbedeckung. Dafür steckten sie ihre Haare kunstvoll auf. Zum Schluss stießen die Frauen Freudentriller aus. Daraufhin rafften einige jüngere Frauen die gesamte vordere Zeltwand zur Seite und befestigten sie mit langen Stangen wie eine Verlängerung des Zeltdaches. Vor ihnen erstreckte sich das Lager mit vielen Feuerstellen, prächtig gekleideten Menschen und über allem strahlte der ewige blaue Himmel.

Nach den Tagen in dem dämmrigen Licht des Zeltes blendete die hereinströmende Helligkeit. Shana ließ sich zuerst von Kari bis zum Zeltrand, dann von Lea einige Schritte hinaus bis auf den Platz führen. Auf einem prächtigen Teppich zwischen den Zelten hielten sie an und warteten.

Ra'un, vollständig in neue, strahlend dunkelblaue Gewänder gekleidet, löste sich aus der Gruppe der wartenden Männer und kam auf sie zu. Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht zu schauen, als er vor ihr stand. Seine leuchtenden Augen hätten zu jedem Bräutigam gepasst. Er hielt ihr seine Hand hin und sie legte ihre in seine. Ohrenbetäubender Jubel erhob sich, Trommeln und Flöten spielten wilde, rhythmische Melodien. Verwirrt sah Shana zu Ra'un auf. Dessen Gesicht war verschleiert. Sie konnte nur seine Augen sehen, doch die lachten und strahlten genug, um erkennen zu lassen, wie glücklich er war. Er führte sie zu einem neu errichteten, strahlend hellen Zelt mit karmesinrotem Dach. Davor wiesen sehr viele Schalen, die bis zum Rand mit klarem Wasser gefüllt waren, den Weg zum Eingang. Von irgendwo hörte Shana Handars Stimme: „Möge Shanas Zelt immer mit Freude gefüllt sein, wie diese Schalen mit Wasser. Möge Karas Gefährtin immer so Leben spendend sein, wie die Schalen mit Wasser. Möge das Wasser für sie immer reichlich sein.“

Kaum waren die letzten Worte verklungen, erreichten Ra'un und Shana den Zelteingang. Lea trat hinzu, löste ihr kunstvoll hochgestecktes Haar, so dass es wie eine goldene Kaskade ihren Rücken herunterfiel. Ein ehrfürchtig erstauntes Raunen war die Folge. Dann schob Ra'un den Teppich beiseite, der das Zelt bis dahin verschlossen hielt und wies Shana durch ein Nicken an, hineinzugehen. Sie schluckte, schwankte, Panik wollte sich in ihr ausbreiten. „Wen heirate ich?“, flog ein Gedanke durch ihren Kopf. Alles drehte sich.

Sie mochte Ra'un, aber sie hatte geglaubt, Karas wolle sie zur Gefährtin. Der war nirgends zu sehen. Ihr Schwanken wurde stärker, Ra'uns Hand stützte sie. Sie schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen und durch die Öffnung des Zeltes zu treten. Hinter ihr fiel der Teppich herunter, dämpfte alle Geräusche. Das gleiche dämmrige Licht, in dem sie mehr als die zehn letzten Tage zugebracht hatte, umgab sie nun wieder, milderte die aufkommende Panik. Sie sah das riesige Bettlager, traditionell mittig am hinteren Rand des Zeltes, alles Weitere verschwamm vor ihren Augen. Sie atmete zu flach, rang nach Luft und ihre Knie gaben einfach nach. Das letzte, was sie noch wirklich wahrnahm, waren braune nackte Füße auf fast schwarz-rotem Teppich und ein paar Beine, die in leichtem, weißen, pluderhosenartig gewickelten, feinen Stoff steckten.

Das Nächste was sie wieder deutlich sah, war Karas breite Brust. Sie spürte, dass er sie mit seinen kräftigen Armen vor seinem schlanken Körper hielt. Sie atmete seinen heißen Duft ein und fühlte das leichte Zittern unter seiner Haut. „Wieso zittert er, ich kann ihm doch nicht plötzlich zu schwer sein? Ich träume wahrscheinlich“, dachte sie. Sie hörte ihr eigenes Herz in ihren Ohren pochen. „Ich träume mich in seine Arme.“

Nur die Behutsamkeit, mit der er sie auf das Lager bettete, der unvergleichliche Geruch seiner Haut, seine vollen, dunklen Lippen, die vorsichtig ihre Stirn berührten, seine Augen, die ihr Gesicht erforschten, bevor er sanft ihrem Mund küsste, ließen sie zweifeln, ob sie sich nicht doch in der Wirklichkeit befand. Mit seinen Lippen erkundete er zärtlich ihr Gesicht, ihren Mund und ihren Hals. Nach kurzem Zögern antwortete sie ihm. Langsam öffnete er ihr Gewand, als würde er ein wertvolles Päckchen auspacken, dann lag er neben ihr, auf ihr, um sie herum. Er war überall, mit seinen Händen und seinen Lippen, erkundete behutsam fordernd ihren Körper und ließ dabei keinen Laut vernehmen. Mehr und mehr begann sie seine Berührungen zu genießen, bis sie sich von wohligen Gefühlen erfasst und hinweg getragen fühlte. Sein Körper bebte auf ihr und ihr eigener antwortete. Nach und nach pulsierte jeder ihrer Muskeln. Während er sich immer dichter an sie drängte, zerfloss sie unter ihm. Sein Rücken spannte sich und mit einer fließenden Bewegung drang er in sie ein. Im gleichen Augenblick verspürte sie einen bis dahin unbekannten Schmerz. Eine brennende Hitze stieg aus ihrem Schoss auf, flutete bis in ihren Kopf. Sie biss sich auf die Lippen und versuchte ein Stöhnen, dass sich tief aus ihrem Bauch empor drängte, zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht. Da erst vernahm sie sein leises, grollendes Stöhnen und empfing seine Wucht in ungeahnter Heftigkeit. Sie schrie, vielmehr hörte sie sich selbst schreien. Die Welt verwandelte sich in eine feuchte, heiße Sinfonie aus Haut, Geruch und Stoff. Schließlich hielt er heftig atmend inne, stützte sich auf seine Unterarme und blieb über ihr. Strahlte sie mit diesem wahnsinnig siegesbewussten Lächeln an. Im Schein kleiner Öllampen glänzte seine Haut feucht und er seufzte mit einem zutiefst zufriedenen Unterton: „Ich liebe dich.“

Er ließ sich an ihre rechte Seite gleiten und rollte sie gleichzeitig mit sich. Den Arm um sie geschlungen und noch immer schwer atmend, schmiegten sie sich fest aneinander. Shana erkundete sein Gesicht wie nie zuvor. Sein Anblick verstärkte das wohlige Gefühl in ihrem Körper. Alles fiel von ihr ab, alles war, wie es sein sollte. Entspannt schlief sie ein. Bei ihrem Erwachen erblickten ihre Augen als erstes sein Gesicht. Er strahlte sie an, voll von Zärtlichkeit, Liebe und Glück.

„Hallo, meine schöne Frau“, und seine Hände fuhren mit sanfter Behutsamkeit erneut über ihren Körper. Er verschaffte ihr Empfindungen, deren Existenz sie nicht einmal geahnt hatte. Sie wurde zu zerfließendem Sand unter seiner Berührung. Ihre körperlichen Grenzen verschwammen wie der Horizont in der flirrenden Luft der Geröllwüste. Das Wechselspiel seiner stählernen Muskeln, die zur Weichheit langsam fließenden Wassers gelangen konnten, um im entscheidenden Moment ihr sicheren Halt zu geben, verdrängte jeden Gedanken.


In den folgenden Tagen verließen sie das Zelt nur, wenn es notwendig wurde. Kari hatte ihr zwei Ziegen mit einem Kitz geschenkt, die ihnen nun eigene Milch lieferten und gemolken werden mussten. Die Pferde mussten zu einem anderen Flecken Grün gebracht werden. Dies waren fast die einzigen Tätigkeiten, die Karas und Shana nicht gemeinsam verrichteten.

Ansonsten waren sie unzertrennlich. Am späten Nachmittag vor dem ersten Vollmond nach ihrer Hochzeit packte Karas zwei große, aus weichen Ziegenfellen genähte Decken und einen gut gefüllten Wasserschlauch auf die Pferde.

„Willst du fort?“, fragte sie, bemüht nicht enttäuscht zu klingen.

Statt einer Antwort verzog er schief lächelnd seinen Mund, gab ihr einen Kuss und zog seinen Gesichtsschleier bis über die Nase. Schelmisch blitzten seine Augen zu ihr herab. Er reichte ihr den Gesichtsschleier, wartete bis sie ihn angelegt hatte, dann nahm er sie wie ein paar Holzscheite vor sich auf beide Arme und trug sie zu den Pferden. Jeglichen Versuch ihn weiter zu fragen, stoppte er, indem er den Kopf schüttelte oder seine verschleierte Nase an ihrer rieb.

Sie stiegen in die Sättel und gemächlich lenkte er Leila in das Sandland, in Richtung der großen Dünen. Sie folgte ihm. Bei Sonnenuntergang hielten sie an. Blitzschnell war er bei ihr, hielt sie an den Hüften und half ihr aus dem Sattel. Aneinander geschmiegt betrachteten sie stehend den purpurnen Sonnenuntergang über dem endlos wirkenden Land. Eingetaucht in die rötlich-blaue Welt der abendlichen Wüste, hatte er nur noch Augen für sie. Die erste Nacht gemeinsam unter dem großen runden Mond, verbrachten sie in der Wüste. Sie liebten sich im noch warmen Sand, unter dem einzigen Dach, das Shana auf ihren Wanderungen je bedeckt hatte. Und als der Wind die nächtliche Kälte herbeibrachte, wärmten sie sich gegenseitig unter den Decken. Sie fühlte sich in dieser Nacht so sehr Zuhause und geborgen wie schon lange nicht mehr.

Als sie erwachte, lag er wieder verschleiert neben ihr, mit seiner Hand die Decke über ihr haltend und einem Blick auf ihr Gesicht, der aus einer Mischung von Liebe und Stolz zu bestehen schien.

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