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ERSTER TEIL: URUK – Kapitel 1

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„Zum Teufel mit dem Mistkerl!“ Das war wirklich kein besonders frommer Wunsch, und er war auch keiner gehobenen Ausdrucksweise geschuldet. Vor allem jedoch: Er war absolut unrealistisch, und das wusste Fred Anders. Er warf das Mobilteil seines Telefons unsanft auf die Schreibtischplatte, danach starrte er wütend auf die Kastanienblüten vor dem Bürofenster, ohne ihre stille Schönheit wahrzunehmen. Der Mistkerl war übrigens ein gewisser Gilbert Gamesch, Chef der Supermarktkette GiGa, und der hatte eben ein weiteres Mal verhindert, dass in einem der Märkte ein Betriebsrat gewählt werden konnte.

Fred Anders stand schwerfällig auf und trat an das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Er war ein großer, breitschultriger Mann , mit schütter gewordenem Haar, aber mit einem gepflegten Kinnbart, der an die Zeit erinnerte, als er noch zur See fuhr. Doch das lag bereits Jahrzehnte zurück, er hatte sich, zunächst ehrenamtlich, dann aber hauptberuflich in der Gewerkschaft engagiert und war nun schon seit vielen Jahren in der Bezirksleitung des DGB. Darüber war er alt geworden, und die vielen Misserfolge gerade in den letzten Jahren hatten ihn bitter gemacht. Wie viele Sozialpläne hatte er mühsam erkämpfen müssen, weil wieder einmal Betriebe einfach geschlossen oder ins Ausland verlagert oder doch durch Kündigungen rigoros verkleinert worden waren. Ausländisches Kapital, Manager ohne Bezug zu dem, was sie verwalteten, routinierte Insolvenzverwalter waren seine Gegner, und manches Mal wünschte er sich die Zeiten zurück, wo echte Eigentümer patriarchalisch streng vielleicht, aber doch mit Gerechtigkeitssinn und Verantwortungsgefühl über ihre Angestellten herrschten. Da waren Verhandlungen noch ein fairer Kampf, Mann gegen Mann, wenn es um die Rechte der Mitarbeiter ging – ein Streit, getragen von gegenseitiger Achtung und meist endend mit einem versöhnlichen Handschlag.

Auch Gilbert Gamesch war zwar Eigentümer, persönlich haftender Gesellschafter dieses riesigen Konglomerats scheinselbständiger Märkte und Handelsgesellschaften, aber er war nicht mehr greifbar für Fred Anders, schickte nur noch seine zynischen Anwälte vor oder einen dieser arroganten Geschäftsführer, die sich als Menschenfreunde feiern ließen, wenn sie morgens vor versammelter Presse einen Tausend-Euro-Scheck an einen Kindergarten überreichten aus tiefer Verantwortung für die Zukunft des Landes, während sie nachmittags eine unliebsame, weil gewerkschaftlich organisierte Kassiererin unter irgendwelchen fadenscheinigen Gründen feuerten. Fred Anders war müde geworden in diesem ständigen, meist aussichtslosen Kampf, und er sehnte seinen letzten Arbeitstag herbei, der Ende des Jahres anstand. Aber er wollte nicht ohne Erfolg, einen letzten kleinen Triumph gegenüber diesem Gamesch abtreten. Und das war wieder einmal misslungen.

Gilbert Gamesch wusste nicht viel von diesem Fred Anders, war ihm noch nie persönlich begegnet. Ein Name nur, einer von vielen Spielsteinen auf dem Brett, wenn es um Arbeitnehmer ging, um Tarife, Betriebsräte, Gewerkschaften – alles hinderliche, überflüssige Dinge in seinen Augen, lästig für ein freies Unternehmertum, das nur dem Markt verpflichtet war – und natürlich dem Gewinn. Mit diesen Leuten zu verhandeln, das war unter seiner Würde. Derartige Kleinigkeiten erledigten seine Leute für ihn, dazu wurden sie schließlich bezahlt. Und sie waren geübt genug, um es im Regelfall ohne Rücksprache mit der Konzernspitze, mit Gilbert Gamesch persönlich zu tun.

Dennoch war er durchaus präsent in seinen Unternehmungen. Es war mehr als nur eine Marotte, dass er häufig in irgendeinem seiner Märkte irgendwo im Land auftauchte, unangemeldet, gleichsam inkognito wie ein gewöhnlicher Kunde, dass er durch die Gänge streifte, die Ordnung auf den Regalen inspizierte, die Mitarbeiterinnen beobachtete, ihre Arbeitsweise, ihren Umgang mit den Kunden, um dann gegebenenfalls anschließend den Marktleiter höchst direkt zwar mit leiser, aber deutlicher Sprache zurechtzuweisen. Doch seine Streifzüge hatten noch einen anderen Zweck. Seine Augen suchten die jungen, die hübschen vor allem unter den weiblichen Auszubildenden, und welche Gefallen gefunden hatte in seinen durchaus wählerischen Augen, die sprach er an, fragte nach irgendwelchen Waren, verwickelte sie in ein fachliches Gespräch. Aber er prüfte weder ihr Sachwissen noch ihre Zuvorkommenheit gegenüber dem Kunden, sein prüfender Blick ruhte auf dem, was der Dienstkittel verbarg, und er hatte genug Fantasie, aber auch genug Erfahrung, um sich dieses Darunter vorzustellen. So gab er sich am Ende leutselig als Chef zu erkennen, bestätigt vom herbeizitierten Marktleiter, und wenn er den Eindruck hatte wirken lassen – schließlich war er nicht nur Herr aller Märkte, sondern auch eine stattliche Erscheinung, sportlich, sonnengebräunt, männlich eben - lud er eines dieser jungen Dinger auch gern zum Essen ein, ganz ohne Hintergedanken natürlich, allein um seine Solidarität mit all seinen Mitarbeitern zu demonstrieren und Leistungen ganz persönlich zu würdigen. Und dennoch: Das Gerücht, nie wirklich bestätigt, aber dennoch hartnäckig hinter vorgehaltener Hand verbreitet, besagte schlicht, dass es selten beim Essen allein geblieben sei.

Doch so sehr Fred Anders auch nachforschte, niemals gelang es ihm, einen Beweis dafür zu erbringen. Sicher, die Mädchen fürchteten um ihren Arbeitsplatz. Doch meist knüpften sie allerlei wahnwitzige Hoffnungen an ein solches nächtliches Erlebnis in irgendeinem Hotelzimmer: Hoffnung auf eine Wiederholung, auf den Eindruck, den sie glaubten hinterlassen zu haben und der sie vielleicht – vielleicht! – zu größerer Gunsterweisung berechtigen könnte, beruflich, vor allem jedoch privat. Daß sich solche Hoffnungen nie erfüllten, sie schwiegen darüber, aus Angst, aus Enttäuschung, aus Scham. Und so gab es keinerlei Warnung für die nächsten Opfer. Wobei noch zu fragen wäre, ob sie je etwas genutzt hätte.

„Jus primae noctis,“ nannte der Gewerkschafter bitter, was er nur ahnen konnte, und was er nie öffentlich machte, weil er keine Verleumdungsklage riskieren wollte. Aber es passte zu jener anderen Wendung, die Gilbert Gamesch in seinen Augen kennzeichnete und die Fred Anders schon eher auch in den Mund nahm: „Handeln nach Gutsherrenart.“ Und hatten nicht die adligen Patrone auf ihren Herrensitzen jahrhundertelang sich dieses Recht gegenüber ihren Leibeigenen genommen, ehe sie einer Eheschließung zuzustimmen bereit waren?

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