Читать книгу Die LEERE und die FÜLLE - Eckhard Lange - Страница 6
KAPITEL 3
Оглавление„Ihr müsst mir das glauben, Kollegen! Ihr müsst mir einfach glauben.“ Die Frau wischte sich Tränen aus den Augen, obwohl sie nicht weinen wollte. Aber Scham und auch Wut waren zu übermächtig, wollten nach außen dringen. „Ich hab noch nie etwas gestohlen. Und dann diese lächerlichen zwei Puddingpulver! Dabei brauch ich das Zeug überhaupt nicht.“
„Du musst dich hier nicht rechtfertigen, Kollegin.“ Fred Anders sagte es ruhig und bestimmt. „Du bist nicht die erste, die bei GiGa auf diese Art ihren Job verlor. Wir kennen diesen fiesen Trick schon lange. Nur leider – wir haben nichts, um ihn als Täuschung zu entlarven. Er sagt, du hättest gestohlen, und wir können ihm das Gegenteil nicht beweisen. Es steht Aussage gegen Aussage, und die Tatsachen sprechen gegen dich – wie in all diesen Fällen. Und immer waren es Kolleginnen wie du, die sich für die Gründung eines Betriebsrates stark machten, die sich für andere einsetzten, die Missstände zur Sprache brachten. Es ist stets die gleiche Leier: Erst fällst du unangenehm auf, dann macht der Marktleiter ganz zufällig eine Taschenkontrolle bei Schichtwechsel, und dann findet sich ausgerechnet bei dir etwas drin, ohne Beleg, ohne Bon. Selbst manchem Arbeitsrichter ist das schon aufgefallen. Aber er muss sich an die Tatsachen halten. Wenn du Glück hast, gerätst du an einen, der dir einen Vergleich vorschlägt. Wenn ein anderer da vorne sitzt, hast du keine Chance. So ist das, leider.“
Die Frau beugte sich vor, blickte ihn entsetzt an: „Ihr könnt da also auch nichts machen?“ Fred Anders hob die Hand, um sie wieder auf den Schreibtisch fallen zu lassen: „Wir können es versuchen, wenn du willst. Wir können klagen. Und selbst wenn wir damit keinen Erfolg haben – je häufiger wir mit ähnlichen Fällen vor Gericht gehen, desto eher wachen die da auf. Auch das wäre ein Fortschritt.“
„Ich lass mich nicht einfach so rauswerfen. Ich lass mich nicht als Diebin abstempeln.“ Die Frau sagte es entschlossen, trotzig. Ihr Gegenüber nickte: „Ich besorg dir einen Termin bei unserem Anwalt. Und wenn du das durchhältst, pauken wir das durch alle Instanzen. Vielleicht finden wir ja einen Zeugen. Oder der Marktleiter knickt ein. Oder das Gericht befindet wenigstens auf Geringfügigkeit. Wenn wir dann trotzdem widersprechen, weil es um deinen guten Ruf, weil es um die Wahrheit geht – dann ist das vielleicht ein Fall für die Medien. Allerdings, das kostet deine Nerven. Darüber musst du dir klar sein. Wir werden jedenfalls hinter dir stehen.“ Fred Anders schwieg. Was er im folgenden dachte, sprach er nicht mehr aus: „Und wir können GiGa anprangern, an die Öffentlichkeit zerren. Das ist es wert, allemal.“
Der Gewerkschafter blickte der Kollegin hinterher, als sie sein Büro verließ. Sie war jung, sie war hübsch, und sie war energisch und selbstbewusst. Sie würde einen neuen Arbeitsplatz finden, auch wenn alle seine Bemühungen erfolglos sein sollten, dessen war er sich sicher. Aber sie war auch eine Chance in seinem Kampf, denn sie wirkte überzeugend, war fähig, auch vor Gericht sicher und überzeugend aufzutreten. Vielleicht würde sie den Durchbruch schaffen, den Richter nachdenklich machen, weil sich ähnliche Fälle in den GiGa-Märkten häuften. Das wäre der Triumph, mit dem er sich in den Ruhestand verabschieden könnte – wenigstens ein Widerruf der Kündigung wegen des Verdachts, der angebliche Diebstahl sei manipuliert worden. Und es schien gut zu laufen, auch in zweiter Instanz blieben die Richter skeptisch gegenüber der Version des gegnerischen Anwalts. Doch da geschah das Unerwartete: Die Kollegin zog ihre Klage zurück, sie hätte sich mit GiGa außergerichtlich geeinigt. Und sie trat aus der Gewerkschaft aus. Nur einige Monate später übernahm sie die Leitung eines großen Marktes – bei GiGa.
Was Fred Anders nie erfuhr: Als die Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht sich hinzog, als die Medien aufmerksam wurden und eigene Nachforschungen begannen, erhielt die Klägerin eine Einladung von Gilbert Gamesch, eine freundliche Einladung zu einem persönlichen und hoffentlich auch versöhnlichen Gespräch mit dem Chef selbst, und an das Gespräch schlossen sich ein paar ebenso persönliche Tage in seinem Schweizer Chalet an, das am besten von all seinen Wohnsitzen unzugänglich für ungebetene Beobachter war. Es war eben doch von Vorteil, dass die Klägerin jung und hübsch war – und dass sie auch selbstbewusst genug war, mehr zu erwarten als ein paar Liebesnächte. So hatten beide nicht nur ihren Spaß, sondern auch ihren Erfolg. Was die Anwälte offensichtlich nicht zustande brachten, das musste der Chef eben im Alleingang erledigen. Und das hatte ja durchaus seinen Reiz, er konnte es kaum leugnen.
Und beim GiGa-Konzern konnte alles beim alten bleiben – nicht nur die Praxis, die Bildung von Betriebsräten zu unterlaufen, sondern auch all die anderen schmutzigen Tricks, das Personal zu überwachen und auszubeuten. Schließlich waren eben diese Tricks der entscheidende Teil des Erfolges, denn damit konnte man sich von aufmüpfigen Angestellten ebenso trennen wie von solchen, deren Krankheits- oder doch deren Lebensgeschichte sie zu einem Risiko machen könnten. Überwachungskameras, die nicht eventuellen Dieben unter der Kundschaft, sondern dem Verhalten des Personals dienten; Ausforschung auch der privaten Lebensumstände, sozialer oder finanzieller Schieflagen etwa; Arbeitsverträge jenseits aller tariflichen Sicherungen – all das gehörte zu Gilbert Gameschs Geschäftsphilosophie, und er setzte alles daran, sie gegen alle Proteste durchzuhalten, wenn sie denn einmal an die Öffentlichkeit kamen. Was war da schon ein Fred Anders oder all die anderen Typen von der Gewerkschaft!
Und wenn das Image allzu sehr leiden sollte, dann gab es da noch die konzerneigene Stiftung, die mit einigen ansehnlichen Beträgen, medienwirksam ausgeschüttet, die soziale Gesinnung des Unternehmens, die großherzig-verantwortliche Haltung des Chefs dokumentierten. Auch steuerlich erwiesen sich Stiftungen durchaus als ein gutes Geschäft.