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ZWEITER TEIL: ENKIDU – 1. KAPITEL

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Gilbert Gamesch war, so scheint es, auf dem Scheitelpunkt seiner Erfolge. GiGa, sein Werk, war deutschlandweit die größte und auch erfolgreichste Handelskette, sowohl was die Höhe des Umsatzes als auch die Zahl der Märkte betraf. Der Plan einer Übernahme eines weiteren Konkurrenten hätte mit Sicherheit den Widerspruch des Kartellamtes zur Folge gehabt. Und eine Ausweitung in die europäischen Nachbarländer hinein hielt er – über das bislang Erreichte hinaus – für wenig erfolgversprechend. Nein, für ihn war alles erreicht, wenigstens auf dem Sektor des Einzelhandels. Dabei war Gilbert noch nicht einmal vierzig Jahre alt. Auch wenn seine Mutter ihm ein wenigstens regional führendes kleines Imperium hinterlassen hatte, an dem er doch auch schon mitwirken konnte – den eigentlichen Konzern, die unerreichte Bedeutung des Namens GiGa, zusammengezogen aus seinen beiden Namen, hatte allein er erreicht.

Es begann ihn zu langweilen, nur noch hier und da einen neuen Markt zu eröffnen, einen Einkaufspreis um weitere Prozente zu drücken, den Gewinn um einige Millionen zu steigern. Das war alles kleinlich und seiner unwürdig in seinen Augen, und dafür hatte er seine Leute, die es schließlich gut gelernt hatten unter seiner Anleitung. Allein den Multimillionär zu spielen, mit seinem Reichtum zu protzen, sich mit ständig wechselnden Gespielinnen zu umgeben, die er im Grunde nur den sensationshungrigen Medien zum Fraß vorwarf – das war keine Lebensaufgabe, die ihn wirklich reizen oder gar befriedigen konnte. Es schien niemanden mehr zu geben, mit dem ein Kampf sich lohnen würde, den er in die Knie zwingen könnte. Ja, so schien es.

Doch da geschah das Unerwartete, das Unwahrscheinliche, das Ungeheuerliche: Wie aus dem Nichts trat plötzlich jemand zu diesem Kampf an, ein Newcomer, ein Nobody, ruppig, aggressiv, rücksichtslos, brutal – zunächst im süddeutschen Raum, den GiGa noch nicht flächendeckend erobert hatte, dann aber zunehmend nach Norden vordringend, den mächtigen Konkurrenten offen herausfordernd. Niemand wusste, wer dieser Nicolas Kidou war. Dass er eine regionale Ladenkette, lange in Familienbesitz und entsprechend schlecht finanziell ausgestattet, kurz vor der Insolvenz übernahm, interessierte nur die lokale Presse. Über die Herkunft des dafür nötigen Kapitals wurde nur spekuliert, man vermutete irgendwelche US-amerikanischen Investmentfonds dahinter. Aber warum setzten sie gerade auf diesen unbekannten Unternehmer, der noch nicht einmal eine Lehrzeit bei einem der Großen der Branche vorweisen konnte?

Doch es sollte sich bald herausstellen, dass sie den richtigen Mann förderten. Binnen kurzem schrieb die Kette wieder schwarze Zahlen, und das mit gutem Grund: Dem Personal wurde gekündigt, Nicolas Kidou bot den Gefeuerten die Neueinstellung zu wesentlich niedrigen Löhnen an und hatte damit Erfolg. Die Warenpalette wurde rigoros zusammengestrichen, dafür sanken die Preise. Hatten die drei großen Handelsriesen, die sich den Markt weitgehend geteilt hatten, zunehmend auf Eigenprodukte gesetzt, um Niedrigpreise durchhalten zu können, praktizierte Nicolas Kidou genau das Gegenteil: Er bot Markenartikel an, und doch konnte er dank zäher Verhandlungen mit den Produzenten billiger verkaufen als die Konkurrenz. Dennoch kaufte er in erstaunlichem Tempo immer weitere unrentabel gewordene regionale Filialisten auf, man sagte ihm bald nach, er würde an jedem Tag einen neuen Markt eröffnen.

Längst war auch Gilbert Gamesch hellhörig geworden. Was er in Erfahrung brachte, war beunruhigend: Dieser Nicolas Kidou schien nicht nur ein besonderes Geschick bei der Beschaffung des erforderlichen Kapitals zu besitzen, er war ein unbamherziger Antreiber, was seine Beschäftigten anging. Geringe Löhne und eine möglichst geringe Zahl von Angestellten, dafür hohe Anforderungen an die Arbeitskraft und rigoros durchgesetzte Entlassungen, wenn die Leute nicht spurten. Das geltende Arbeitsrecht wurde von ihm so ausgelegt, wie es seiner Firmenphilosophie entsprach, Klagen vor den Arbeitsgerichten nahm er dafür in Kauf. Strafen für unlauteren Wettbewerb ließen ihn kalt. Unterm Strich zahlte sich die Praxis aus für ihn. Die gegen ihn gerichteten Urteile kamen ihn jedenfalls billiger als wenn er immer den Gesetzen entsprechend verfahren wäre.

Bald war der Name Nicolas Kidou im Land bekannt: Bei den Konsumenten als günstige Einkaufsadresse, bei den Gewerkschaftern als Ausbeuter, bei Erzeugern als Erpresser und bei den Konkurrenten als gefährliche Bedrohung. Kritische Leitartikler und politische Magazine fielen über ihn her, aber sein Umsatz stieg von Monat zu Monat. Einzig die Regenbogenpresse fand keinen Zugang zu ihm: Keine Interviews und keine Homestories, auch die investigativsten Klatschreporter konnten nichts Bedeutsames in Erfahrung bringen. Als Privatperson blieb Nicolas Kidou ein Unbekannter, ein Phantom – keine Skandale, keine Frauengeschichten, auch keine Männergeschichten, kein privater Luxus. Nicolas Kidou schien ein Besessener zu sein, ein asketischer Kapitalist. Nicht einmal Bilder kursierten von ihm, sieht man von ein paar mühsam herausvergrößerten Fotos ab, die bei den wenigen offiziellen Anlässen entstanden waren, auf denen er sich dennoch gekonnt hinter anderen versteckte. Doch das Geheimnis um seine Person machte ihn nur umso interessanter für die Öffentlichkeit – ihn und sein neu entstandenes Imperium.

Die LEERE und die FÜLLE

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