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KAPITEL 4

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Ich weiß es. Ja, ich weiß es! Ihr haltet mich jetzt für eine Verräterin, oder für feige, oder auch für opportunistisch. Doch das ist nicht wahr! Das ist jedenfalls nicht der eigentliche Grund für das, was ich getan habe. Vielleicht kann ich es so sagen: Ich bin verhext worden. Ja, so ähnlich kann man es ausdrücken. Und – ich bin froh darüber. Ich glaube, das muß ich jetzt erklären, wenn es denn überhaupt möglich ist. Am besten, ich versuche einfach zu erzählen, wie es gewesen ist.

Als sein Anruf kam – es war abends nach acht, ich hatte den Fernseher nach der Tagesschau ausgeschaltet, um noch einmal in aller Ruhe meine Notizen durchzugehen für die Verhandlung am nächsten Tag – als also der Anruf kam, war ich zunächst einfach perplex. Mit allem hatte ich gerechnet – Drohungen, Erpressung, Bestechung, ja selbst mit einem inszenierten Unfall – aber nicht damit. Er hatte eine freundliche, eigentlich sogar eine richtig sanfte, liebenswerte Stimme. Ganz anders, als ich das von ihm erwartet hätte, wenn ich je damit gerechnet hätte, dass Gilbert Gamesch, der unerreichbare Boß, das große Phantom hinter allem, sich einfach per Telefon bei mir meldet. Ich habe anfangs gezögert, das überhaupt für bare Münze zu nehmen. Ich dachte an einen üblen Scherz, oder an einen Testversuch. Doch dann merkte ich schon, daß er wirklich am andern Ende der Leitung war.

Erst wollte ich einfach wieder auflegen, oder ihn anschreien, beschimpfen, doch dann erkannte ich: Dies ist eine Chance! Meine Chance. Er ruft schließlich nicht umsonst an. Er hätte das nicht nötig. Aber er will verhandeln. Mit mir, der kleinen Angestellten aus irgendeinem seiner vielen Märkte. Mit mir, die es gewagt hat, gegen ihn zu klagen, nun schon in der zweiten Instanz. Irgend etwas schien da schiefgelaufen zu sein mit all seinen klugen Anwälten. Und ich, ich könnte nun erreichen, was andere vergeblich versucht haben! Eine Entschuldigung für diese Tricks, vielleicht sogar eine Betriebsratswahl für unseren Markt. Ja, das war eine Chance. Aber da war noch dieses andere: seine Stimme. Diese freundliche, sanfte, liebenswürdige Stimme. Da hat es angefangen. Genau da. Darum habe ich zugesagt. Darum!

Wir haben uns verabredet. Er lud mich zu einem Glas Wein ein. Er wolle ganz offen mit mir über alles reden, er sei gesprächsbereit, ganz ohne Vorbehalte. Und ich hätte ein Recht darauf, ihm meine Meinung zu sagen. Da sei eine kleine Weinstube, ganz in der Nähe meiner Wohnung. Dort könnten wir uns treffen, am besten jetzt gleich, wenn es mir passen würde. Und – er würde sich freuen, mich kennenzulernen. So hat es angefangen.

Ich habe einige Zeit vor dem Kleiderschrank gestanden, die übliche Frage: Was zieht man an? Ich entschied mich für ein luftiges Sommerkleid, nicht zu kurz, kein tiefer Ausschnitt. Nein, ich wollte nicht mit Körpereinsatz kämpfen, bestimmt nicht. Warum ich allerdings jene duftig-erotische Garnitur für darunter auswählte, die mein verflossener Freund so an mir geschätzt hat – ich kann es nicht sagen. Aber ich tat es.

Zu dem kleinen Restaurant waren es tatsächlich nur wenige Schritte, dennoch war es mir noch nie besonders aufgefallen. Ich wohnte damals schon länger mitten in der Altstadt mit ihren zum Fluß hin abfallenden Gassen, da gab es die unterschiedlichsten Lokale. Aber Kneipenbummel war nicht so mein Ding, vor allem, nachdem mein Freund eines Tages ohne große Erklärung ausgezogen war. Danach war eher Enthaltsamkeit angesagt, in jeder Beziehung. Aber eigentlich habe ich seitdem nichts vermisst.

Die Weinstube war ein gemütliches kleines Lokal mit dunklen Tischen und Stühlen, Kerzen überall und sogar echte Blumen in den kleinen Vasen. Keine Spur von Schickimicki, kein Hauch von großer weiter Welt, eher Biederkeit und Winzerromantik. Gilbert saß bereits an einem Tisch in der hinteren Ecke, und als ich mich suchend umschaute, erhob er sich, winkte mir zu und setzte sich erst, nachdem ich Platz genommen hatte. Er trug Jeans und ein offenes, kurzärmeliges Hemd mit dezentem Streifenmuster. Er lächelte, als er meine innere Anspannung spürte: „Lassen Sie uns erst einmal ein Gläschen genießen und plaudern,“ sagte er und empfahl dann einen leichten französischen Rotwein. Ich nickte, er bestellte.

„Natürlich weiß ich einiges über Sie aus der Personalakte, aber das sagt wahrscheinlich über einen Menschen genauso wenig wie die angeblich exklusiven Berichte in den bunten Blättern über mich.“ Er blickte mich an, und neben dieser Stimme waren es nun auch diese dunklen, fast traurig wirkenden Augen, die mich faszinierten. „Sie leben schon länger hier in Lübeck?“ „Ich bin in Rehna geboren und aufgewachsen, aber Arbeit gab es dort kaum, so bin ich erst gependelt und dann umgezogen. Die kleine Wohnung habe ich mir mit meinem Freund geteilt.“ „Der Sie dann verlassen hat.“ Ob das ebenfalls in der Personalakte stand oder nur gut geraten war? Jedenfalls irritierte mich diese Bemerkung, aber sie klang irgendwie auch mitfühlend. Ich schwieg. „Auch meine Familie ist aus Mecklenburg herübergekommen, aus beruflichen Gründen, weil Großvater enteignet werden sollte. Und ich bin dann hier in dieser schönen Stadt zur Welt gekommen. Und was kaum jemand weiß: Das Häuschen gibt es noch immer, und es ist auch noch immer in Familienbesitz, und ich bin gern dort, wenn auch leider allzu selten.“ Wieder schwieg ich. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was er mit dieser Art von Gespräch bezweckte. Mein Verstand warnte mich: Laß dich nicht einwickeln! Aber etwas anderes in mir sagte: Er ist einfach nett.

Wir sprachen dann lange über diese Stadt, unsere Beziehungen zu ihr, über viele kleine Erlebnisse, die wir mit ihr und den Menschen hier verbinden, er plauderte aus seiner Schulzeit, erzählte von seinen Lehrern, von mancherlei Streichen. Es war wohl schon das dritte Glas, das vor uns stand, und es war spät geworden. Wir waren nun die einzigen Gäste im Raum, und noch immer war er mit keiner Silbe auf den eigentlichen Grund unseres Treffens eingegangen. Der Markt, der Marktleiter und seine Anschuldigung, das Verfahren vor dem Arbeitsgericht – es schien für ihn einfach nicht zu existieren. Und, ich gebe es zu, ich hatte zuerst nicht den Mut, und später auch nicht mehr die Absicht, das Gespräch darauf zu bringen. Dabei ging es doch um mich, meine Zukunft, ja auch um meine Ehre! Ich wusste das, aber ich verdrängte es. Dies war ein so schöner, so entspannter Abend mit einem so wunderbaren Mann, da zählte das alles nicht. Ich wollte dieses Erlebnis nicht kaputtmachen, nicht aufwachen aus diesem schönen Traum.

Und so kam, was ich nie für möglich gehalten hätte, was ich mir sonst verboten hätte: Der Wirt bat darum, kassieren zu dürfen, wir tranken unsere Gläser leer, traten hinaus in eine wunderbar laue Frühsommernacht, und er sagte ganz selbstverständlich: „Wir haben noch so viel zu erzählen; es wäre doch schade, wenn wir uns jetzt einfach trennen würden. Komm doch noch ein bisschen zu mir, es ist wunderschön dort im Garten unter dem alten Walnussbaum – und unter dem Sternenhimmel.“ Er hatte mich geduzt, und es war eine durchaus verfängliche Einladung, und ich hatte mehr Wein getrunken als ich eigentlich durfte, und es war eine Nacht voller Blütenduft – und das alles wusste ich und ich wusste auch, wem ich mich dabei aussetzte.

Aber ich widersprach nicht, verabschiedete mich nicht, sondern hängte mich ein in seinen Arm und ließ mich führen. Ließ mich verführen, wenn ihr so wollt. Und es war einfach ein wunderbares Gefühl, es waren die berühmten Schmetterlinge im Bauch, das Herzklopfen, dieser gefährliche, aber wunderschöne Verlust klaren Denkens, dieser Verzicht auf alles, was jenseits der Gegenwart lag, diese vollkommene Hingabe an das Jetzt, den Augenblick. Ja, ich ließ mich verführen. Und ich hatte kein schlechtes Gewissen dabei, damals nicht und auch heute noch nicht.

Sein Häuschen entpuppte sich als eine unter viel Efeu verborgene, aber durchaus respektable Backsteinvilla mit einem ebenso verwunschenen, verwilderten Garten, der sich zur großen, auch in der Dunkelheit leuchtenden Wasserfläche der breit aufgestauten Wakenitz hin erstreckte. Gilbert trug ein Windlicht herbei und eine neue Flasche sowie zwei Gläser, die sicher nicht aus seinen Marktangeboten stammten, und wir setzten uns in eine herrlich antiquierte Hollywoodschaukel, die dort sicher schon ein halbes Jahrhundert gestanden haben musste. Aber das Gespräch nahm keine erneute Fahrt auf und versiegte irgendwann ganz. Wir schwiegen, bewegten unseren gemeinsamen Sitz und lauschten dem Knarren, das er dabei erzeugte. Wir blickten vor uns hin, mieden es, uns anzusehen, aber wir dachten beide das gleiche und warteten, dass einer den Anfang machte, um uns dann hineinfallen zu lassen in das, was unsere Körper von uns erwarteten.

Und irgendwann nahm er mich schweigend bei der Hand, führte mich durch die offene Terrassentür in eine dunkle Halle, die Treppe hinauf in ein Zimmer, wo ein breites französisches Bett wartete. Er schaute mich nur an, und da streifte ich mir das Kleid vom Körper, und er zog Hemd und Hose aus, dann fuhren seine Hände ganz sanft über mein Haar, über das Gesicht, die Schultern, und als sie meine Brüste berührten, löste ich auch den BH und bot sie ihm dar. Dabei sprachen wir kein einziges Wort, nur unsere Körper drängten sich aneinander, und irgendwann streiften wir beide ab, was sie noch trennte, und er trug mich durch den Raum und legte mich auf das Bett wie in einer Hochzeitsnacht, und dann beugte er sich über mich und küsste alles, was ihm küssenswert schien, und ich ließ ihn gewähren, ließ ihn mit allem gewähren, bis hin zur letzten, tiefsten Vereinigung. Und dann, als auch alles Nachspiel sein Ende genommen hatte, schlief ich ein, den Kopf auf seine Brust gebettet, und erwachte erst, als die Morgensonne das Bett erreicht hatte und mir durch die geschlossenen Augenlider drang.

Es war offenbar niemand außer uns im Haus, aber er hatte unten in der Halle den Frühstückstisch gedeckt, und erst nach dem Essen eröffnete er mir, dass der fingierte Diebstahl Teil einer von ihm selbst angeordneten Strategie sei, und er bat mich um Entschuldigung. Da bot ich ihm an, die Klage zurückzunehmen, damit er sich nicht öffentlich dazu bekennen müsste. Ich tat es von mir aus, ohne dass er mich gedrängt hätte. Ich tat es – nun ja, aus Liebe zu ihm. Denn ich liebte ihn, und ich liebe ihn immer noch, auch wenn mir schon in jener Stunde klar war, dass unsere Beziehung nur von kurzer Dauer sein würde. „Wir werden die Entlassung zurücknehmen,“ sagte er und nahm dabei meine Hand, „aber ich denke, es wäre nicht gut, wenn du an diesen Arbeitsplatz zurückkehrst. Und ich möchte den Marktleiter nicht entlassen, er hat eine Familie, und er hat nur auf Weisung gehandelt. Aber ihr beide in einem Geschäft, das wäre auch für dich sicher unerträglich. Du solltest erst einmal ein paar Tage Urlaub machen – und ich lade dich dazu ein. Danach sehen wir weiter.“

Und so kam es zu diesen wunderbaren gemeinsamen Tagen in der sommerlichen Schweiz, von denen niemand etwas erfahren sollte. Und so kam es, dass ich bald darauf die Leitung jenes neu eröffneten Marktes übernahm, der für ihn, wie er bei der Einweihung sagte, eine ganz besondere Bedeutung hätte: „Dieser Markt, wenn auch neu errichtet, steht auf einem denkwürdigen Platz. Hier, damals auf einem leergeräumten Trümmergrundstück, hat Wilhelm August Gamesch 1948 in einer Baracke sein erstes Geschäft im Westen Deutschlands eröffnet, hier hat meine leider so früh verstorbene Mutter ihre Lehrzeit verbracht, hier ist die Wiege von GiGa! Und ich vertraue sie jetzt einer Frau an, die durch ihre Tapferkeit, ihren Mut und ihre Entschlossenheit, wenn es um das Wohlergehen meiner Mitarbeiter geht, gezeigt hat, dass GiGa auch in Zukunft wegweisend sein wird für kundenfreundliches, mitarbeiterorientiertes und ökologisch nachhaltiges Wirtschaften.“

Das waren seine Worte – und jeder wusste, dass es nur Sprechblasen waren. Ich auch. Aber es waren die Worte eines Mannes, mit dem mich vieles verband, und der für mich immer jener zartfühlende, sanfte, verständnisvolle Liebhaber bleiben wird. Nennt es Verrat, ihr habt aus eurer Sicht sicher recht. Aber was ist solch ein Verrat, wenn ich sonst meine Liebe verraten hätte!

Die LEERE und die FÜLLE

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