Читать книгу Der gefundene Sohn - Edeltraud-Inga Karrer - Страница 10
Оглавление6. Kapitel
Um den Kranken nicht zu stören, gehen die drei vor die Tür und setzen sich auf die klotzigen Stühle, die Hans aus dicken Baumstämmen hergestellt hatte. Sie sind überraschenderweise relativ bequem, weil sie sogar Rücken- und Armlehnen besitzen. Aus einem Kanister gießt er die drei Gläser voll Wasser. »Quellwasser«, wie er betont.
Jonathan und Andy sind sehr gespannt auf seine Geschichte. Ihre eigene hatten sie ihm schon kurz erzählt, die mit ihrem gemeinsamen Start in die Erkundung der Welt begann.
Sie spüren, dass der Alte gern erzählen will. Das ist ja oft bei Menschen so, die nicht sehr viel Gelegenheit zum Reden haben. Und die Gespräche mit Hugo waren sicher auf die Dauer auch zu einseitig.
Hans ist seit einigen Jahren Frührentner. Seine Familie lebt in der Stadt. Dort wohnen in einem ganz normalen Haus seine Frau und ihre zwei Söhne. Er hat schon immer vom Aussteigen geträumt. Eines Tages stand für ihn fest, dass er aus der Hektik und Unruhe der Stadt in den Wald gehen würde. Doch seine Frau konnte er auch mit den herrlichsten Beschreibungen eines freien Lebens, nicht davon überzeugen, mit ihm zu gehen, um die Romantik der Spinnen, des nicht vorhandenen Leitungswassers, der fehlenden Heizung und Dusche mit ihm zu teilen.
Ihn hielt das aber nicht davon ab, sich im Schwarzwald eine Hütte zurecht zu zimmern. Der etwas kritische Blick seiner Besucher veranlasste ihn zu dem Geständnis, dass er handwerklich nicht besonders begabt ist. Aber dafür war das Ganze doch recht stabil. Es hatte schließlich schon drei Jahre überstanden, ohne dass ihm etwas auf den Kopf gefallen war. Keine Wand war eingestürzt, sein Hugo stand im Trockenen und es hatte ihm bisher auch noch nicht ins ›Haus‹ geregnet.
Jonathan und Andreas, beide nicht ungeschickt, bieten ihm an, gerne mit anzupacken, wenn es etwas auszubessern oder zu befestigen gäbe. Sie haben keine Eile und werden von ihm großzügig bewirtet. Irgendwie wollen sie sich gern dankbar erweisen, auch wegen Hinnerk, für den sie sich ein bisschen verantwortlich fühlen.
So greifen sie zu Hammer, Nägeln und Säge und machen sich an die Arbeit. Hier und da können zu feststellen, dass das Dach dem nächsten Regenguss wohl nicht standhalten wird. Eine Wand richten sie wieder gerade aus und mit einigen Stämmen, die Hans hinter der Hütte deponiert hat, wird sie so verstärkt, dass selbst ein Sturm dem Häuschen nichts anhaben kann.
An einzelnen Stellen ist noch etwas zu reparieren. Andy und Jonathan bemerken, dass sie sehr gut Hand in Hand arbeiten können.
Die beiden jungen Männer schlafen in Hugos Box. Freundlicherweise hat der Esel ihnen genügend Platz eingeräumt, sodass sie einträchtig nebeneinander auf dem Heu ihre Nächte verbringen.
Hans hat ihnen erzählt, dass er seit Jahren Frührentner ist. Er hatte vieles versucht, Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Ab und zu gelang ihm auch, eine kleinere Aufgabe zu übernehmen. Aber er konnte sich nie lange konzentrieren, hatte ein katastrophales Gedächtnis und es kam immer wieder zu Fehlern. Kein Chef behielt in lange. Dann meinte seine Frau, dass er einmal zum Arzt gehen solle. Und dieser stellte fest, dass es wohl vorläufig für ihn nicht mehr möglich wäre, einen Beruf auszuüben. Er merkte ja selbst, wie flatterig er war.
Dann beginnt er, über den Grund seines Gesundheits- oder eigentlich mehr seines Seelenzustandes zu erzählen.
Er war im Jahr 1945 in einem winzigen französischen Dörfchen geboren. Seinen Vater kannte er nicht besonders gut. Er sah ihn einmal im Jahr für einige Wochen. Dann war er wieder verschwunden. Niemand sagte dem Jungen, wohin er ging. Er sehnte sich sehr nach ihm. Seine Mutter war eine Frau, die mit dem Leben nicht wirklich zurechtkam. Auch ihr fehlte die starke Hand eines Mannes. So gab sie sich vielen hin, ohne auch nur im Entferntesten ihre große Leere gefüllt zu bekommen. Sie fühlte sich in dieser Welt als Verliererin und war es vermutlich auch.
Sie bemerkte nicht, wie auch ihr Sohn durch diese depressive Situation immer mehr in sich zusammensank, ohne Selbstbewusstsein und ohne Liebe dahinvegetierte und dafür prädestiniert war, auf einen ›Rattenfänger‹ hereinzufallen.
Als er mit einundzwanzig Jahren das Haus, das niemals ein Zuhause war, endgültig verließ, wanderte er ziellos, von Unsicherheit und Sehnsucht getrieben, in die nächste Stadt. Hier erwartete er irgendwas Großes, Besonderes, etwas, das alles verändern und ihn vielleicht glücklich machen würde. Drei oder vier Jahre war er so unterwegs, ohne anzukommen und mit tiefer Enttäuschung angefüllt. Er bekam einfach keinen Boden unter die Füße, erledigte hier und da mal eine kleine Aufgabe, um ein bisschen Geld zu haben, das er gleich wieder in die nächste Kneipe brachte.
In irgendeiner der vielen Spelunken, die er aufsuchte, traf er einen, der ihm den Rat gab, zur Fremdenlegion zu gehen. In den buntesten Farben schilderte er ihm, was ihn dort erwarten würde. Der Unbekannte war selbst in der Legion gewesen und berichtete von Heldentum, von Ehre, davon, ein ganzer Mann zu sein, von Tapferkeit und Abenteuer.
Alles das glaubte er in der Vergangenheit vermisst zu haben. Ja, er wollte auch ein Sieger sein, ein tapferer Kämpfer. Schon schwoll ihm die Brust und schon wuchs er um mindestens zwanzig Zentimeter. Er hatte keine zusammengesunkene Haltung mehr, sondern nur noch ein Ziel. Und was für eins!
Der Mann sagte ihm, wo er sich melden könne und Hans, der eigentlich Jean heißt, verließ ihn eilig, um sich schnell registrieren zu lassen. Für fünf Jahre hatte er sich dann verpflichtet, ein Held zu sein, so sah er es jedenfalls. Er hätte auch für sein ganzes Leben unterschrieben, aber das war nicht möglich.
Als er dann in Algerien angekommen war, merkte er, dass die Geschichte mit der Romantik, die ihm der Mann in der Spelunke erzählt hatte, nicht ganz der Realität entsprach. Hartes, gar brutales Training war angesagt. Viele hielten diese Torturen nicht aus. Doch er hielt durch!
Einmal mussten sie viele Kilometer laufen. Seine Schuhe rieben an den Fersen, sodass diese bluteten und er sich nur noch humpelnd fortbewegen konnte. Sein Sergent stellte ihm von hinten kommend ein Bein. Jean fiel auf die Erde. Da er nicht darauf gefasst war, konnte er sich nicht abstützen. Sein Arm und sein Knie waren jetzt auch verletzt. Der Sergent schrie: »Auf die Füße und vorwärts!« Er musste sich aufrappeln und als er auf sein kaputtes Knie und den Arm hinwies, schlug ihm der Vorgesetzte ins Gesicht. »Memme oder Soldat?«
Er entschied sich für Soldat. Er sah, dass ein Kamerad nach einer ähnlichen Behandlung, wie er sie erlitten hatte, zum Capitaine ging, um sich zu beschweren. Da bekam er noch zehn Tage Bau dazu.
»Das Schlimmste, an das ich mich erinnere, war eine Sache, die mich noch heute aus dem Schlaf reißt. Dann passiert es, dass ich mich sinnlos betrinke. Natürlich weiß ich, dass das nicht hilft. Aber keine Ahnung, wie ich sonst vergessen soll, was damals geschah.
Wir wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Es war 1974. Wir bekamen Ausrüstung für die Tropen und wussten nicht, wohin es ging. Die wildesten Spekulationen beherrschten unsere Gespräche. Der christliche Präsident im Tschad befand sich in dieser Zeit in einem grausamen Krieg gegen aufständische Stämme, die um ihre Macht und Vorherrschaft fürchteten.
Wir waren mit Jeeps unterwegs und mussten an jeder auch noch so geringen Erhebung mit Beschuss rechnen. Oftmals schossen wir, ohne jemanden zu sehen, in Richtung dieser Bodenwellen. Viele Male wurden wir angegriffen. Kameraden starben, Aufständische sicher auch. Ein Massaker. Wir wollten leben und kämpften darum. Dörfer wurden von uns angegriffen und abgebrannt. Befehl ist Befehl! Um die schreienden Menschen kümmerten wir uns nicht. Wir trugen nur Sorge, dass wir ihnen nicht den Rücken zuwendeten.
An einem Abend saßen wir abgekämpft, verschwitzt und voller Hass und Vernichtungswillen in einer Bar. Wir waren bestimmt fünfzig Mann. Da wird die Tür geöffnet. Eine Frau und ein kleiner Junge, höchstens fünf Jahre alt, bleiben in der Öffnung stehen und wir sahen mit Entsetzen, dass beide Handgranaten in ihren Händen hielten. Und ich wusste: Sie werden sie zünden. Fünfzig tote Männer – eine Frau und ein Kind. Ich hatte keine Zeit zum Überlegen. Ich legte an und erschoss beide. Ich wurde als Held gefeiert, ich genoss diese Stellung, die Freude meiner Kameraden, das Hochgehoben werden, das Wichtig sein. Ich war der Retter!«
Lange Zeit spricht er nichts mehr. Jonathan und Andreas haben wie versteinert zugehört und können ihr Entsetzen kaum verbergen. Auch sie bringen keinen Ton hervor.
Hans-Jean steht schwerfällig auf, geht in die Hütte und kommt mit einer Flasche Wodka wieder heraus. Er öffnet die Flasche und trinkt direkt daraus. Nach ein paar Schlucken setzt er ab und reicht sie Andy, der auch trinkt und sie dann an Jonathan weitergibt. Auch der macht es den beiden nach.
»Ich kann nicht vergessen, was ich getan habe. Ich kann es mir nicht verzeihen. Kein Held, ein armseliger Halunke, der eine Frau und ein kleines Kind erschießt. Sie trage ich ständig in meinen Gedanken, in meinen Träumen. Nicht die Glorifizierung, die ich durch die anderen Männer bekommen habe. Nein, immer wieder die Frau und das Kind. Ich werde es nicht los. Ich weiß, es war meine verdammte Aufgabe, meine Pflicht. Ich musste tun, was ich getan habe. Es wurde von mir erwartet. Ich hätte es von meinen Kameraden genauso verlangt. Aber ich kann damit nicht leben.
Ich habe meinen Abschied genommen. Die fünf Jahre waren vorbei und ich ging und watete in meiner Schuld.
Meine Frau hat mir das Leben gerettet. Sie holte mich aus den schlimmsten Anklagen, die ich gegen mich anführte. Langsam versuchte sich ein Nebel des Vergessens über diese Tat zu legen. Doch kurz bevor sie ganz verschwand, riss ich ihn wieder auf.«
Nachdenkliches Schweigen, dann: »Sie hat lange mit mir ausgehalten. Eine wunderbare Frau, die einen besseren als mich verdient hätte. Doch ich denke, hierher, in die Einöde mit mir, das wäre mehr gewesen, als sie hätte verkraften können. Einen alten Einsiedler, der sich ab und zu besäuft und seine Probleme auch damit nicht verschwinden lassen kann. Ohne Ablenkung nur meinem Schuldkomplex ausgeliefert zu sein, das konnte ich ihr wirklich nicht zumuten.
Nun besuche ich sie ab und zu. Dann ziehe ich mich anständig an und freue mich auch jedes Mal, auf die Dusche und fühle mich dann gleich wie ein ganz neuer Mensch. Das hält aber nicht lange. Zwei Tage, vielleicht auch mal drei, dann muss ich wieder weg – in meine Einsamkeit und zu meinem Hugo.«