Читать книгу Der gefundene Sohn - Edeltraud-Inga Karrer - Страница 12
Оглавление8. Kapitel
Jakobs Entschluss steht fest. Er entscheidet sich für das Chemiestudium. Ihm ist klar, dass es lange dauern und sehr mühsam werden würde. Die meisten, die ihn davor warnen, sich darauf einzulassen, finden die vielen Stunden im Labor sehr anstrengend. Doch genau dahin will er. Er würde in die Forschung gehen. Neues entdecken und spannende Entwicklungen erleben. Auf wie vielen Feldern ist man auf Chemie, deren neue Anwendungsmöglichkeiten und auf Innovationen angewiesen? Er würde dabei sein, wenn ganz neue Ideen umgesetzt werden. Mit seinem Namen, das wünscht er sich von Herzen, würden großartige Durchbrüche verbunden sein. Er würde alles tun, um dahin zu kommen.
Er bemüht sich sehr. Das Labor ist sein Experimentierfeld. Genau wie damals, als er ein Kind war, arbeitet er äußerst konzentriert und vergisst alles um sich herum.
Schon jetzt, nach gerade einmal fünf Semestern, nennen sie ihn den ›verträumten Professor‹. Sie mögen ihn, obwohl er wenig mit ihnen gemein hat. Außerhalb des Labors ist er stets hilfsbereit und entgegenkommend. Falschheit und Heuchelei sind ihm fremd.
Seinen weißen Kittel füllt er gut aus. Er ist ihm ein wenig zu eng. Freundlich wird er gefrotzelt: »Du bist nicht zu dick, nur zu kurz für dein Gewicht.« Er nimmt es gelassen zur Kenntnis und ärgert sich über solche Bemerkungen nicht.
Seit einiger Zeit sucht ein Kommilitone immer öfter Jacks Nähe. Es schmeichelt ihm, wenn er um Rat gefragt wird. Häufig treffen sie auch mehr oder weniger zufällig vor dem Labor aufeinander. Für alle anderen ist es offensichtlich, dass der Neue, der Norman heißt, irgendetwas vorhat, wofür er Jack braucht. Und sie schließen Wetten ab, wann dieser das endlich merkt.
Längst ist er für die anderen ein offenes Buch. Immer noch arglos wirkt der junge Mann so, als sei er nie mit dem wahren Leben konfrontiert worden. Er scheint sich in einer wohlbehüteten Blase eingerichtet zu haben.
So findet er auch nichts dabei, dass es einen Menschen gibt, dem er behilflich sein kann. Gelegentlich gehen Norman und er miteinander eine Kleinigkeit essen und diskutieren die Aufgaben, die sie zu bewältigen haben. Meist dauert es nicht lange, bis sie mit rotem Kopf und glühendem Eifer ihre Möglichkeiten, in vielen Variationen erörtern, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen.
Sie haben offensichtlich die gleichen Vorlieben. Jede Chance, einen Laborplatz zu bekommen, ergreifen sie, auch füreinander.
Es vergehen einige Monate, bis Norman Jack zu sich ruft: »Schau mal, was ich hier entdeckt habe!« Damit deutet er auf einige kristalline Bröckchen hin, die er auf dem Tablett hin und her schiebt.
»Was ist das?«
»Du, ich glaube, ich habe hier etwas zusammengebraut, das uns stinkreich machen kann!« Voller Enthusiasmus und Stolz schiebt er immer noch die Krümel herum.
»Was ist das?« Jack wird langsam ungeduldig.
Norman macht ein ganz geheimnisvolles Gesicht. »Das errätst du nie!«
»Will ich auch nicht. Sag es mir ganz einfach und mach nicht so eine Show daraus.«
»Es ist eine Droge.«
»Wie, was für eine Droge?«
»Hast du schon mal von Crystal Meth gehört?«
»Blöde Frage. Natürlich! Aber das ist doch kein…«
»Nein, nein, das ist viel wirkungsvoller!«
»Du weißt schon, dass dich niemand erwischen darf. Das ist saugefährlich! Und es macht Menschen kaputt!«
Jacks Einwände interessieren Norman nur am Rande.
»Du hältst die Klappe und ich lass mich nicht erwischen. Das Zeug kann ich auch zuhause, in meinem stillen Kämmerlein herstellen. Ein Kinderspiel … Jetzt, wo ich weiß, wie die Zusammensetzung ist.«
Natürlich würde Jakob Norman nicht verraten. Sie waren inzwischen ja Freunde geworden und damit ist er noch nie reich gesegnet gewesen. Doch es ist einfach nicht in Ordnung, solche Dinge, die absolut verboten waren, dennoch zu tun. Gerne würde er seinen Freund davon abbringen, doch es gelingt ihm einfach nicht. Inzwischen meidet Norman auch seine Gegenwart. Für Jack ist klar, er würde sich keinesfalls an so etwas beteiligen.
Für heute ist Schluss. Er verlässt die Uni und geht auf dem direkten Weg zu seinem Mietzimmer. Es ist klein aber günstig. Er kommt zurecht. Normalerweise macht er noch einen Abstecher, von dem aber niemand etwas wissen muss. Doch er kann nicht mehr anders. Irre, damit überhaupt angefangen zu haben! Nun hängt er fest und weiß, wie gefährlich dieses Spiel ist.
Aber heute bezwingt er sich und ist froh, als er das Zweifamilienhaus sieht, in dem er im Souterrain wohnt. Leichtfüßig springt er die Stufen hinunter. Unten angekommen fällt ihm ein, dass er noch schnell in den Briefkasten gucken muss. Das tut er aus Gewohnheit täglich, obwohl er sich nicht erinnern kann, wann er das letzte Mal Post darin fand. Über dem Kasten ist ein Aufkleber angebracht: Keine Werbung! Das allein hält seinen Kasten frei von Nachrichten. Doch heute ist irgendwie vieles anders. Es liegt ein Brief darin, handbeschriftet von seinem Vater Johannes .
Noch unterwegs zur Zimmertür reißt er den Umschlag auf. Dann schließt er die Tür auf, geht hinein und liest immer noch.
»Lieber Jack,
heute schreibe ich dir, weil ich dir mitteilen will, dass es deiner Mutter Magda sehr schlecht geht.«
Jack denkt: »Er schreibt ›heute‹, als wenn er mir jemals geschrieben hätte. Und dass meine Mutter Magda heißt, weiß ich.«
Er ruft sich zur Ordnung. Dieses ständige Kritisieren, dessen Ziel immer Jo ist, muss er sich dringend abgewöhnen. Es ist sein Vater, wenn auch nicht immer so, wie er ihn sich gewünscht hätte. Aber gibt es ein Kind auf der Welt, das mit seinen Eltern hundertprozentig zufrieden ist?
Er verscheucht die Gedanken und liest weiter:
»Gestern habe ich sie ins Krankenhaus gebracht. Die Ärzte glauben, dass sie Krebs hat. Sie ist sehr schwach und Dr. Hansmann, unser Hausarzt, riet uns, schnellstens in die Klinik zu fahren. Nun ist sie dort und hat mich gebeten, euch Bescheid zu sagen. Wo Andreas steckt, weiß ich nicht. Weißt du mehr über ihn? Ich würde ihn auch gern benachrichtigen.
Also, lieber Jakob, sei so gut und versuch dich freizumachen und herzukommen. Mama wünscht sich das so sehr.
Du weißt, sie ist nicht wehleidig und wenn sie meint, es wäre an der Zeit, dann glaub ich das auch.
Du hast ja noch den Haustürschlüssel, damit du hereinkommen kannst, denn ich bin praktisch dauernd bei Mama in der Klinik.
Ich hoffe sehr, dass es mit dem Herkommen klappt.
Dein Papa«
Heute ist Donnerstag. Der morgigen Vorlesung wird er fernbleiben und schnellstmöglich losfahren. Dann hat er ein paar Tage Zeit, sich um seine zu kümmern und nachzusehen, ob Jo allein klarkommt.
Am Abend trifft er am Elternhaus ein, zeitgleich mit seinem Vater, der ihm den Vortritt lässt, um in den zu Hof fahren.
Als er aussteigt, wird sein Zustand für Jack schnell deutlich – hängende Schultern, kein Lächeln zur Begrüßung, der Händedruck ist lasch und er sieht aus, als wenn er mindestens zehn Kilo abgenommen hätte. Alles hängt irgendwie an ihm herunter.
»Schön, dass du kommen konntest. Ich war den ganzen Tag bei Mama. Ich muss jetzt erst mal was essen. Komm rein.«
Auch seine Stimme ist nicht mehr so kräftig wie damals, als Jack noch ein Kind war und der Zorn auf die Jungen ihn in Rage brachte. Da konnte man seine Stimme noch fünf Häuser weiter hören und jedes Schimpfwort gut verstehen. Manchmal hatte Simon, der im dritten Haus wohnte, ihn geneckt und gefragt, ob bei ihnen wieder einmal ein Krieg ausgebrochen wäre.
»Was ist mit Mama? Wie geht es ihr? Können wir heute noch einmal zu ihr fahren?« Jack plagt die Ungewissheit über Magdas Zustand.
Während er die Kartoffeln in die Pfanne schneidet, berichtet Jo. »Es ist schlimmer als wir gedacht haben. Der Krebs hat schon gestreut. Heute kam der Arzt zur Visite und hat gesagt, dass nicht mehr viel Zeit bleibt.«
»Was ist mit Chemo und Bestrahlung? Wird dort denn gar nichts gemacht? Man muss doch was tun!« Jakob ist besorgt und glaubt, seine Mutter sei in dieser Klinik nicht gut aufgehoben.
»Chemo macht meistens noch mehr kaputt, als schon kaputt ist. Der Arzt sagt, es wäre nur eine zusätzliche Quälerei für Mama. Er rät ihr, sich das nicht mehr anzutun.«
»Soll ich mal mit dem reden?« Jack ist sicher, wenn er eingreift, wird man eher versuchen, ihr Leben zu retten.
»Kannst du gern machen. Aber ich glaube, das hilft nicht.«
»Wir werden sehen. Und können wir heute Abend noch zu ihr fahren?«
»Nein, sie war so müde. Sie hat gesagt, sie will jetzt erst mal schlafen und ich soll gehen.«
Das Essen schmeckt beiden nicht besonders gut. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt, die sich um dasselbe Thema drehen.
Später sucht Jack sein ehemaliges Kinderzimmer auf, legt sich hin und kann lange nicht einschlafen. Warum ist er so selten gekommen? Mama hätte sich sicher gefreut, wenn er öfter erschienen wäre. Aber stets war etwas anderes wichtiger. Doch Mama – sie war immer da für ihn, immer!
Und nun ist sie so krank und er kann nichts für sie tun. Er nimmt sich vor, solange hier zu bleiben, wie sie es sich wünscht. Jetzt ist die Mama dran und nichts kann von größerer Bedeutung sein. Ein Semester kann man nachholen, die Zeit mit ihr ist verloren, wenn er sie jetzt nicht nutzt.
Und dann schläft er irgendwann doch über seine Traurigkeit ein.
* * *
Am nächsten Morgen fahren Vater und Sohn zum Krankenhaus. Als Jack seine Mutter sieht, muss er alle Kraft aufbieten, um sein Erschrecken zu verbergen. Klein und zerbrechlich liegt sie in dem großen Bett.
Einst war sie diejenige, auf die sich jeder verlassen konnte. Sie war die starke Persönlichkeit in der Familie. Sie war diejenige, die Jo immer wieder ermunterte, weiter zu machen und sich gegen das ständige Mobbing in seiner Firma zur Wehr zu setzen. Er hätte sicher längst aufgegeben, wenn sie ihm nicht immer und immer wieder den Rücken gestärkt hätte. Sie war auch die, die fast ausschließlich allein die Erziehung der Zwillinge schulterte. Arztbesuche, Elternabende, Anmeldungen in Sportvereinen, alles blieb an ihr hängen und sie brach unter diesen Lasten nicht zusammen.
Und jetzt, wo doch alles geregelt ist, Johannes nur noch ein Jahr arbeiten muss und sich in der neuen Firma sehr wohl fühlt, jetzt, wo die Jungs aus dem Haus sind, sollte sie sich ausruhen können. Ausgerechnet jetzt bricht sie doch noch zusammen.
Sie schaut ihren Sohn aus ihren großen Augen an, die dunkel und mit langen Wimpern umkränzt sind, wie um Verzeihung bittend. Sie muss nicht um Verzeihung bitten, er ist es. Sie ist immer noch schön, trotz der eingefallenen Wangen hat sie noch immer eine glatte Haut. Ihre dunkelblonden Haare wellen sich noch immer üppig um ihr schmales Gesicht. Hier und da ziehen sich silberne Fäden hindurch. Die Stupsnase, über die sich die heranwachsenden Söhne lustig gemacht haben, ist immer noch von Sommersprossen übersät. Sie wirkt jung, trotz ihrer Krankheit.
Aber Jack sieht das alles nicht. Ihn irritiert ihr Zustand. Ihn entsetzt ihre Schwäche, die Hinfälligkeit, die sich hinter der Diagnose Krebs verbirgt. Er nimmt ihre schmale Hand in die seine und drückt sie ganz vorsichtig, als könne er sie zerbrechen. Nein, er wird nicht weinen. Er ist kein Weichling, aber er ist grenzenlos traurig. Er spürt mit großer Macht seine absolute Hilflosigkeit. Diese Hände haben ihn, er weiß nicht, wie oft, gestreichelt, ihm die Nase geputzt, ihn gekämmt, ihn mit einem Klaps verabschiedet, wenn er sich auf den Weg zur Schule gemacht hat. Sie haben geklatscht, als er mit der Nachricht nach Hause kam, sein Abitur mit einer Eins absolviert zu haben. Diese Hände konnten sich freuen, konnten jedes Gefühl ausdrücken, und nun liegen sie hier auf der Bettdecke, unbeschäftigt, kalt und ihrer Aufgaben enthoben.
Als sie sich nach einer Stunde verabschieden – sie ist so müde – streicht sie ihm, wie vor vielen Jahren, mit zarter Hand über seinen Blondschopf. Immer noch wachsen seine Haare in alle Richtungen und lassen sich nicht bändigen. Mühsam lächelt sie ihm zu und nickt. Diese wunderbare Frau – immer noch stark! Alles in Ordnung. – Nein, nichts ist in Ordnung! Dieser Schmerz will nicht verschwinden, diese Trauer um seine Stütze im Leben, um die Mutter, die er für unsterblich und unbesiegbar gehalten hat. Wieviel Kraft musste sie eben aufwenden, um zu lächeln? Er spürt, dass sie gern der Rückhalt wäre, den sie alle brauchen. Doch nun ist sie zu einer hilflosen Hülle geworden, die jeder Zeit in sich zusammenfallen kann. Jakobs Herz ist so schwer geworden.
Sie bleibt noch ein paar Tage in der Klinik, dann darf sie wieder nach Hause. Johannes freut sich, seine Frau wieder bei sich zu haben.
Magda liegt fast den ganzen Tag auf der Couch, von wo aus sie ihre beiden Männer beobachten und hören kann. So finden noch viele Gespräche statt und manche Unklarheit wird ausgeräumt. Die meiste Zeit aber sitzt ihr Sohn bei ihr, hält ihre Hand und schweigt. Sie weiß wie er, dass nichts mehr gesagt werden muss. Sie sind sich nah und das ist das einzige, was zählt. Viele Jahre später wird Jakob sich noch gern an diese Stunden erinnern. Vielleicht waren sie die einzigen wirklich großen Werte in seinem Leben.
Johannes und Jack bemühen sich, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Doch ihre Sehnsucht nach Andreas können sie ihr nicht nehmen. Immer wieder fragt sie bang und erwartet keine Antwort mehr darauf: »Wo wird er sein? Was macht er gerade? Wie kann ich ihn erreichen? Ich würde ihn so gern bei mir haben, genau wie Jack.« Ihre Stimme wird immer zarter, immer weniger hörbar. Es ist fast nur noch ein Flüstern. Wie ihr Körper zerbrechlicher, ihre Haut durchscheinender und ihr Lächeln müder wird, geht sie langsam davon. Man sagt: ›Die Augen sind der Spiegel der Seele.‹ Und so kann Jakob auch die Seele seiner Mutter in ihren Augen erkennen – ein reiner Blick, aber schon nicht mehr hier. Sie spricht mit ihnen, sie schaut sie auch an, dennoch ist sie weit weg. An diesem Leben scheint sie nichts mehr wirklich zu interessieren.
Für ihren Herzenswunsch finden sie alle keine Erfüllung. Sie haucht: »Andreas, mein Andy«, und drückt dabei, leicht wie ein Vogel, Jacks Hand. Er weiß traurig, dass er nicht gemeint ist.
Noch ein paar Wochen. Ihr Leiden wird durch Morphium gelindert. Doch durch die Behandlung hat sie immer wieder Halluzinationen, in denen sie glaubt, Andy sei bei ihr.
Wenn sie dann in klaren Augenblicken feststellt, dass dies nur eine Täuschung war, muss sie weinen. Häufig dämmert sie vor sich hin. Jo und Jack spüren, wie sie sich immer mehr von dieser Welt verabschiedet. Sie verbringen jede freie Minute an ihrem Lager, halten ihre Hand und erzählen ihr, was für eine bewundernswerte Frau und Mutter sie ist.
Sie können ihr den Weg zwar ein wenig erleichtern, abnehmen können sie ihn ihr nicht. Dann ist es vorbei. An einem schönen Sonntagmorgen hat sie es geschafft. Es ist in der Nacht ein Todeskampf vorausgegangen. Jack und Jo waren bei ihr, haben ihr den Schweiß von der Stirn gewischt und versucht, ihr Wasser einzuflößen. Das hat sie nicht mehr getrunken. Und dann steht der Sieger fest.
Der Schmerz kommt, überwältigt die Männer aber nicht. Sie haben Gelegenheit gehabt, sich zu verabschieden und das macht ihnen die Trennung etwas leichter.