Читать книгу Der gefundene Sohn - Edeltraud-Inga Karrer - Страница 9

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5. Kapitel

Rügen, Ostsee, Mecklenburger Seenplatte, alles angeschaut, herrliche Aussichten genossen, hier und da eingekehrt und gefunden, dass man es sehr gut miteinander getroffen hat. Freunde fürs Leben, sozusagen. Jedenfalls verkünden Hinnerk und Andreas ihre neue Sichtweise. Jonathan ist etwas zurückhaltender.

Als sie irgendwann ein Waldstück durchqueren, stolpert Andy über eine Brombeerschlinge. Ein stechender Schmerz fährt ihm durch das Bein. Mühsam schleppen die zwei Kumpel den Verletzten durch eine Schonung zu einer Straße. Glücklicherweise müssen sie nicht lange warten, bis ein Autofahrer hält und sie mitnimmt.

Im Krankenhaus wird ein angerissenes Band am Sprunggelenk diagnostiziert. Also heißt es, den Marsch zu unterbrechen und Zwangspause einzulegen. Andy wird mit einer Orthese versorgt und muss sein Bein kühlen und hochlegen. Er darf zwar gehen, aber natürlich nur wenig belasten. Der Arzt meint, es würde sechs Wochen dauern, ehe er weitergehen kann und dann auch nur, ohne mit voller Kraft aufzutreten.

Hinnerk juckt es nach drei Wochen mächtig in den Füßen. Er will nicht mehr länger warten. Es zieht ihn fort. Jonathan entscheidet sich, bei Andy zu bleiben. Sie haben sich in einer Pension einquartiert und dort will er warten, bis sie zusammen wieder durchstarten können. Er warnt Hinnerk, sich ganz allein auf den Weg zu machen. Wenn ihm etwas passieren würde, wäre niemand bei ihm, der ihm helfen könne. Hinnerk bedankt sich für seine Fürsorge, schnallt den Rucksack wieder auf, sagt: »Bye, bye.« Im nächsten Moment ist er verschwunden.

Sein Ziel ist der Süden. Lange genug hat er sich im Norden aufgehalten. Schließlich will er sich die Welt ansehen und ist mit Deutschland allein nicht zufrieden.

Zwei Wochen später brechen auch seine bisherigen Wegbegleiter auf. Genau wie Hinnerk beginnen sie, dem Norden den Rücken zuzukehren und nach Süden zu ziehen. Sie wollen ferne Länder sehen, wie es in einem Volkslied heißt.

Jonathan hat bemerkt, dass Andy die Rechnung der netten Pensionswirtin bar bezahlt. Er rät ihm dringend davon ab, sein gesamtes Kapital mit sich herumzutragen. Wie leicht könnte es jemand bemerken und ihn bestehlen. Schon seinen Eltern hatte er in dieser Sache widerstanden und auch jetzt tut er den gutgemeinten Rat von Jonathan mit einem Schulterzucken ab.

Ihr Freiheitsdrang wird unter anderem durch das Wetter auf eine harte Probe gestellt. Es regnet tagelang. Am Anfang gehen sie trotz der widrigen Witterung mutig und zielstrebig weiter, doch irgendwann reicht es ihnen, jeden Tag mit klammer Kleidung unterwegs zu sein. Wieder kehren sie für einige Tage in einer Pension ein. Als sie an einem Abend beieinander sitzen und über die Zeit ihrer Wanderschaft sprechen, gesellt sich die Wirtin zu ihnen.

»Ich habe eben den Namen Hinnerk gehört. Hier war vor einigen Tagen jemand, der auch so heißt. Und man kann schon sagen, dass im Schwarzwald dieser Name ziemlich ungewöhnlich ist. Darum fiel es mir auch auf, als sie vorhin von einem Hinnerk gesprochen haben.« Als sie den jungen Mann beschreibt, ist klar, dass es sich tatsächlich um Andys ›Freund fürs Leben‹ handelt.

Wie die Frau erzählt, machte er einen ziemlich geknickten Eindruck und konnte auch seine Rechnung nicht bezahlen. Er hatte angeboten, für sie zu arbeiten, um die Schulden zu begleichen. Aber sie wusste nicht, wo sie ihn hätte einsetzen können. Und so war er vor einigen Tagen weitergezogen, jedoch nicht ohne ihr versichert zu haben, er käme auf seinem Heimweg wieder vorbei und würde bezahlen, was er ihr schulde. Sie hatte ihn gefragt, wohin er wolle. Er habe nur geantwortet: »In den Süden.«

Ja, das war Hinnerk. Die Summe, die er der Wirtin zu bezahlen hatte, ist nicht hoch. Und so übernimmt Andy den Betrag.

Sie marschieren weiter und Jonathan bringt das Gespräch auf Hinnerk.

»Was ihm wohl passiert ist? Als er bei uns war, kam er mir überhaupt nicht deprimiert vor.«

»Stimmt, eher im Gegenteil. Er war voller Tatendrang. Mal sehen, ob wir ihn noch einmal zu Gesicht bekommen.«

Sie gehen beide gern unvorbereitete Wege. So steigen sie über Gestrüpp und Baumwurzeln. Andy ist nun äußerst vorsichtig, damit sein Fuß keinen neuen Schaden nimmt. Sie kommen an eine Hütte, die mitten im Wald liegt und offenbar bewohnt ist. Lediglich ein Trampelpfad führt zu ihr hin. Neugierig nähern sich die jungen Männer der Behausung und schon öffnet ein etwas strubbliger Mann die kaum aufzudrückende wacklige Tür.

»Kommen Sie ruhig her. Ich beiße nicht.« Gastfreundlich streckt er ihnen die Hand entgegen. Hinter dem Haus hören sie einen Esel rufen.

»Hugo hat Hunger oder er hat mitbekommen, dass ich Besuch habe.« Und ihnen den Rücken zukehrend, fügt er hinzu: »Hugo, es ist alles in Ordnung, sie sagen dir gleich ›Hallo‹. Kommen Sie.«

Eifrig läuft er zu einem Bretterverhau voran, in dem Hugo seinen grauen Kopf über die Halbtür herausstreckt, um die zwei Neuankömmlinge genauestens in Augenschein zu nehmen. Brav tätscheln diese den Esel und der nimmt es zufrieden hin.

»Manchmal verläuft sich wochenlang niemand hierher. Und nun gleich drei innerhalb von vier Tagen.«

Damit öffnet der Alte, der sich als Hans vorgestellt hat, die Tür noch ein bisschen weiter und sie können ins ziemlich dunkle Innere der behelfsmäßigen Behausung schauen. Dort liegt ein Mensch auf einer Pritsche.

»Hinnerk, wir haben Besuch«, bereitet er den Liegenden auf die zwei Neuen vor.

Sie treten ein und tatsächlich – da liegt er, ihr Freund, der mit ihnen die Welt erkunden wollte.

»Was ist passiert? Was machst du hier?« Natürlich muss er einige Fragen über sich ergehen lassen.

Der Alte ist hinaus gegangen und hat einen Propangaskocher angeworfen, um einen schönen starken Kaffee zu brauen. Damit kommt er kurz darauf in die Hütte, gießt vier verbeulte Zinkbecher voll, greift hinter sich in ein rustikales Regal, gefertigt aus rohen Baumstämmen und ungehobelten Brettern, stellt den Zucker auf den Tisch und wendet sich dann seinen Gästen zu. Dabei streicht er das ihm immer wieder über die buschigen Augenbrauen fallende weiße Haar hinter sein Ohr. Das faltenreiche Gesicht, das ein erstaunlich mächtiger Schnurrbart ziert, strahlt eine freundliche Zufriedenheit aus. Offensichtlich gefällt ihm die Situation, in der er sich befindet. Wie ein Soldat hält er sich sehr aufrecht und erscheint damit größer, als er in Wirklichkeit ist.

Hinnerk schweigt auf die Fragen seiner ehemaligen Begleiter. Er sieht wirklich nicht gut aus. Er ist verpackt wie eine Mumie. Sein linkes Bein ist vom Oberschenkel bis zum Fußknöchel mit einer Mullbinde umwickelt. Beide Arme befinden sich in einem ähnlich verpackten Zustand.

Da der Verletzte schweigt, beginnt Hans zu erzählen, wie er ihn gefunden hat.

Wie jeden Tag war er durch seinen Wald gestreift, um Beeren oder Pilze zu sammeln. Da lag der junge Mann an einen Baum gelehnt, in der Nähe des Hauptweges, auf dem manchmal auch verbotenerweise Autos fuhren. Irgendjemand musste ihn dort abgelegt haben, denn Hinnerk war nicht bei Bewusstsein. So hatte Hans seinen Hugo geholt, Hinnerk irgendwie auf den Eselsrücken verfrachtet und ihn zur Hütte gebracht. Durch das Gerüttel auf dem Tier war er wohl wieder wach geworden. Er hatte ihm Schmerztabletten gegeben und versucht, ihn zum Essen zu bewegen. Bislang hat er nur getrunken und geschlafen.

»Heute habe ich Kartoffelbrei gekocht. Ich hoffe, er kann das essen. Apfelmus habe ich auch noch irgendwo.« Ja, sein Regal gibt noch einige Schätze her.

Tatsächlich richtet sich sein Patient auf und versucht zu essen. Es fällt ihm schwer, aber offensichtlich siegt der Hunger. Er schlürft den Inhalt des Löffels in seinen Mund. Die Lippen sind dick angeschwollen und in seinen Mundwinkeln ist verkrustetes Blut zu sehen.

»Mann, da hat dich ja jemand gut zugerichtet!«, kann Andy sich nicht verkneifen.

Hinnerk nickt nur und lässt sich beim Schlürfen nicht weiter stören. Irgendwann legt er den Löffel beiseite, trinkt mit dem Strohhalm noch einen Schluck Kaffee und lässt sich aufstöhnend und sichtlich erschöpft auf sein Kissen fallen.

Ziemlich undeutlich beginnt er zu erzählen:

»Ich bin von euch weggegangen und habe einen getroffen, der ein Stück mit mir gehen wollte, weil er in der nächsten Stadt einen Termin habe und sein Auto irgendwo nicht mehr weiterfahren wolle. Ich hab ihm geglaubt und war auch froh, nicht mehr allein zu sein.«

Schon braucht er eine kurze Erholungspause. Dann fährt er fort: »Ob ich ein Handy dabei habe, fragte er und ich gab es ihm. Er tippte irgendwas ein und hielt es sich eine Weile ans Ohr. ›Oh, Scheiße, der Igor geht nicht ans Telefon. Jetzt bin ich aufgeschmissen.‹ Ich wollte wissen, wo sein Problem sei. Er sagte mir, er habe seinen Geldbeutel nicht dabei und seine Scheckkarte verloren. Igor sollte ihn eigentlich abholen und ihm Geld geben, damit er Sprit besorgen und sein Auto betanken könnte. ›Was mach ich bloß?‹

Sie waren weitergelaufen, da fragte der Mann ihn, ob er ihm etwas leihen könnte. Als Hinnerk ihm einen kleineren Schein reichen wollte, hat der andere ihm den Geldbeutel entrissen und ist davongelaufen. Hinnerk lief hinter ihm her, holte ihn ein und wollte sein Geld wieder zurückhaben. Der hat ihm ins Gesicht geboxt, sodass er zu Boden ging.

Der Schläger war zu seinem Auto gelaufen, an ihm vorbeigefahren, hupte noch einmal und war verschwunden. So war Hinnerk bei der Pensionswirtin angekommen und konnte seine Übernachtung nicht bezahlen.

Nun macht er wieder eine Pause. Man kann sehen, dass ihm der Mund vom Reden wehgetan hat. Er schließt die Augen und ist kurze Zeit später eingedöst.

Der gefundene Sohn

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