Читать книгу Der Leuchtturmwächter - Edi Mann - Страница 6
Sonnenzeit
ОглавлениеDu bist wie eine Fata Morgana in der Wüste, die der durstige Mensch für Wasser hält; aber wenn er es erreicht, findet er nichts. Und da, wo er glaubte Wasser zu finden, findet er Gott. Gleichermaßen, wenn du dich selbst untersuchtest, würdest du feststellen, dass du selbst nichts bist, und stattdessen würdest du Gott finden. Das heißt, du würdest Gott finden an Stelle von dir selbst, und es würde nichts von dir übrig bleiben als ein Name ohne Form.
- Al-Alawi
Wie der leere Himmel hat Es keine Grenzen, und doch ist Es genau hier, immer tiefgründig und klar.
- Yung-chia Hsuan-cheh
Einer Endlosschleife gleich, einem gordischen Knoten, hat sich der Gedanke an diesen nicht vorhandene Schatten in den unergründlichen Tiefen des Gehirns festgesetzt. Wo ist mein Schatten? Was hat es mit diesem nicht mehr vorhandenen Schatten auf sich? Ist es der Schatten der Vergangenheit, die nur vorgestellte und sich als Illusion herausgestellte Person die ich einmal war und die sich nun verflüchtigt hat? Obwohl, verflüchtigt scheint der falsche Ausdruck, eher integriert von einer Art Ganzheit, die, schleichend und fast unbemerkt von dieser Person, das Ruder übernommen hat. Aber vielleicht hat er sich auch nur tief in mein Inneres zurückgezogen, in diese nicht greifbare Leere und Frische, welche unerreichbar und unberührt von der so gnadenlos auf mich einwirkenden Hitze bleibt.
Unbeantwortete Fragen, deren einziger Sinn darin zu liegen scheint, neue Fragen nach sich zu ziehen. Müßiges Geplapper eines überforderten Verstandes.
Meine Gegenwart gleicht einem zerbrochenen Spiegel, dessen Scherben unter dieser glühenden Sonne sporadische und zusammenhanglose Bilder der Vergangenheit auf mich zurückwerfen. Fragmente eines alles vernichtenden Feldzuges gegen mich selbst. Ein Kampf, der weder Sieger noch Verlierer auf dem Schlachtfeld zurückließ. Nur verbrannte Erde, auf der ich nun unterwegs bin.
Bei diesem Kampf gegen mich selbst wurde ich zum Mörder. Da war dieses Grenzland, mit dem ich, der Grenzwächter, eine untrennbare Einheit bildete. Dieses Grenzland gibt es nicht mehr. Es löste sich auf, als die letzte Person dort vernichtet war. Einstmals scheint es dicht bevölkert gewesen zu sein. Doch all den dort auftauchenden Personen wurde der Prozess gemacht. Und alle wurden sie für schuldig befunden. Schuldig im Sinne von nicht wirklich zu sein. Ich habe sie alle getötet, diese Personen die keine wirklichen Menschen waren, diese Zombies die mir ihre Wichtigkeit und damit einhergehend ihren Wirklichkeitsanspruch beweisen wollten.
Aber vielleicht bin ich auch der Zombie. Allem entledigt was so ein Organismus zum Menschen macht, was den Mensch zur Person macht. Denn was bleibt übrig wenn erkannt wurde dass all die getöteten Personen Teil des eigenen Daseins waren? Wenn die Suche nach Wahrheit das alte Weltbild in den Untergang riss und auf dessen Ruinen kein neues entstand? Kein Phönix aus der Asche, nur ein Nichts, dessen letzter Weg hier der endgültigen Vernichtung entgegen zu gehen scheint. Aufgesaugt und absorbiert von dieser mit unverminderter Kraft auf mich herab scheinenden Sonne.
Sonnenzeit. Die Sonne, die allem Geschehen einen zeitlichen Rahmen verpasst. Untrennbar mit dem Fortschreiten der Zeit verbunden. Eins mit der Zeit, aber nicht in sie verwickelt. Das stillstehende Zentrum, alles zeitliche Geschehen aus sich hervorbringend. Tag und Nacht, Morgen und Abend, Sommer und Winter. Der über das Firmament ziehende Sonnenwagen, gelenkt von Helios, diesem All-erschauenden, dem angeblich nichts verborgen bleibt. Doch hier und jetzt scheint er seine Fahrt unterbrochen zu haben, die Zeit steht still. Ist das der Tod, das Ende des Weges, das Ende der Zeit? Mit zusammengekniffenen Augen lege ich den Kopf in den Nacken und schaue zu ihm hoch. Er scheint mir zuzublinzeln, mich einzuladen ihn auf seiner Fahrt zu begleiten. Ein plötzliches Schwindelgefühl überfällt mich und legt mir eine tiefe Schwärze vor die Augen. Die Sinne beginnen sich einer nach dem anderen zu verabschieden, was angesichts der extremen Umstände wenig verwunderlich ist.
Hoch über einer kleinen rotierenden Kugel, die sich bei genauerer Betrachtung als Erde zu erkennen gibt, komme ich wieder zu mir. Seltsamerweise beunruhigt mich nicht die Tatsache hier neben Helios in seinem Sonnenwagen zu sitzen, sondern das Gefühl einer starken Beschleunigung, die mich unerbittlich in meinen heißen Sitz presst. Ich dachte immer die Sonne wäre ein Fixpunkt, selbst stillstehend.
Ja, ich bin ein Fixpunkt der die Welt um mich herum in Bewegung hält. Doch auch ich selbst bin einer dauernden Bewegung unterworfen. Die Welt bewegt sich um mich und ich bewege mich durch die Welt. Verhält es sich denn mit euch Menschen nicht genauso? Seid ihr nicht auch Fixpunkte und alles dreht sich um euch selbst, wobei ihr euch gleichzeitig durch diese eure Welt bewegt? Sonnengleich seid ihr, wie ich selbst, nur scheint ihr es vergessen zu haben.
Siehst du da unten Japan? Dort bin ich dem Namen nach Amaterasu, der unaufhaltsam seine Bahn von Ost nach West zieht. Und hier, über diesen grandiosen Pyramiden stehend, bin ich Horus, Ra oder Aton. Die Perser da unten nennen mich Mithra, das bedeutet “Derjenige der alles Leben ermöglicht“. Im südlichen Europa bin ich als Apollo bekannt, aber zu einer anderen Zeit wachte ich als Sol Invictus über dem Kolosseum. Weiter nördlich beschere ich als Sunna und Sol den Germanen ihre Sonnwendfeiern. Na ja, diese Zeiten sind längst vorüber, aber ich kann dir sagen dass es dabei immer heiß zuging. Und wer weiß, vielleicht besinnen sich die Menschen bald wieder meiner. Oder ihrer selbst, was auf das Gleiche hinausläuft. Im fernen Amerika, bei den Inkas, kämpfte ich als Viracocha gegen den Huitzilopochtli der Azteken, den ich ebenfalls verkörpere. Ein Kampf gegen mich selbst, der bis heute noch nicht entschieden ist. Und als Krönung meiner Reise erscheine ich als Malina den Eskimos weit im Norden sogar um Mitternacht.
Hey, was ist mit dir, du bist ja ganz bleich und dein Körper zittert wie Espenlaub. Bekommt dir irgendetwas nicht? Die Reise hat doch eben erst begonnen, die erste Runde ist kaum beendet. Na ja, es wird wohl besser sein dich wieder abzusetzen, ihr Sterblichen habt wohl eine recht schwächliche Konstitution.
Im heißen Staub sitzend und an einen nicht weniger heißen Fels gelehnt finde ich mich wieder. Trotz der sengenden Hitze scheint dem Körper plötzlich eiskalt zu sein. Was ist das, die Ankündigung eines drohenden Hitzschlages? Zitternd lege ich mir meine alte schon recht zerschlissene Wolldecke um, was die beunruhigenden Symptome augenblicklich mildert. Jetzt ist mir wieder heiß, was mir aber den Umständen entsprechend wesentlich gesünder vorkommt. Dass die Sonne derartig realistisch erscheinende Visionen verursachen kann ist mir neu. Aber was sollte so ein schwächlich konstituiertes menschliches Wesen, wie wir von Helios bezeichnet werden, auch schon wissen.
Kaum haben sich die körperlichen Symptome einigermaßen beruhigt beginnt der Verstand mit seiner Analyse des Geschehens. Eigenartigerweise beschäftigt ihn nicht das Ereignis an sich, sondern der Inhalt der Aussage des Sonnengottes. Das eben Erfahrene als Halluzination abzutun scheint ihm als Erklärung zu genügen.
Die Sonne. Überall gilt sie als ein Symbol der beständigen Wiederkehr, der Dauerhaftigkeit, egal welcher Art die jeweilige Benennung auch ist, die ihr übergestülpt wird. Diese Benennungen der Erscheinungen mit anschließender Interpretation scheint ein menschliches Phänomen zu sein. Ein für den Verstand notwendiges, vielleicht schon zwanghaftes Bemühen, Ordnung in die vor ihm erscheinende Welt der Phänomene zu bringen. Erst wenn die Dinge einen Namen haben kann man sie interpretieren und mit Bedeutungen versehen. Sie einordnen in das eigene Inventarsystem und sich eine Meinung darüber bilden. Was man kennt meint man auch kontrollieren zu können. Hier bei der Sonne wird die Benennung sogar noch einen Schritt weiter getrieben und eine Personifizierung angestrebt, was, wie in diesem Fall, einen leibhaftigen Helios zur Folge haben kann. Da der Mensch sich selbst als Person sieht, versucht er die ihm erscheinenden Objekte oder Kräfte auf seine Ebene zu bringen. Ob er sie zu sich herauf oder herabholt ist dabei nebensächlich. Dies ist nur von seinem Standpunkt abhängig, auf den er sich selbst stellt. Jetzt kann eine direkte Auseinandersetzung stattfinden, sei es durch Anbetung, Opfergaben oder Beschimpfungen, die bis zum Verfluchen reichen können. Auf diese Art erschafft sich der Mensch ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis, das er von nun an zu seinen Gunsten zu beeinflussen sucht. Durch die Benennung geschieht aber in Wirklichkeit eine Abtrennung. Die Dinge werden vom Menschen aus der Einheit, in die er selbst integriert ist, herausgelöst, um anschließend wieder in Beziehung zu ihnen zu treten. Diesmal aber in eine Gedankenbeziehung, die ihm eine scheinbar kontrollierbare Interaktion ermöglicht. So macht sich der Verstand die Welt zu eigen.
Mein eigener Verstand scheint noch nicht völlig ausgetrocknet zu sein, da er sich noch mit solchen philosophischen Unwichtigkeiten beschäftigen kann. Oder ist es ein Zeichen von Resignation, eine Ablenkung von der Tatsache, an der so langsam aber sicher bedrohlich werdenden Situation nichts ändern zu können?
Die andere von Helios angesprochene Sache, das mit dem Fixpunkt, schiebt sich ins Bewusstsein. Wenn ich selbst ein Fixpunkt bin dann könnte oder müsste das doch bedeuten, alles mir Erscheinende dreht sich um mich. Oder kommt sogar aus mir selbst hervor. Und ich, von was auch immer getrieben, begebe mich in diese Erscheinungswelt hinein. Dieser Aspekt scheint es mir Wert zu sein im Auge behalten zu werden. Allerdings weigert sich der Verstand momentan dieses Gedankenspiel weiterzuspielen. Ob es an der Hitze liegt oder ob er prinzipiell damit überfordert ist kann ich nicht sagen. Na ja, wahrscheinlich gibt es im Augenblick auch wichtigeres zu überdenken.
Um auf die eigene Auseinandersetzung mit meinem derzeitigen Peiniger zurückzukommen, da bin ich mittlerweile auf der Schwelle des Verfluchen angelangt. Wie schnell sich diese lebensspendende Kugel in einen glühenden Todesstern verwandeln kann. Lebensspendend, ein schlechter Witz angesichts der Umstände, in die ich mich, warum auch immer, hinein manövriert habe. Lebensfeindlich scheint dem schon näher zu kommen.
Auf der Suche nach einem Schuldigen oder einem Verursacher dieser prekären Situation beginnt der Verstand ironischerweise mit Selbstvorwürfen: „Das ist die Konsequenz der geleisteten Vernichtungsaktion im Grenzgebiet.“ Oder: „Das ist die Strafe für die zahlreichen im Unverstand begangenen Morde.“ Das Wort “hätte“ nimmt dabei in seinen Ausführungen eine Schlüsselposition ein. Na ja, man muss ihm das wohl nachsehen, er arbeitet eben noch immer nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip. Selbst davon befreit beachte ich ihn nicht weiter und lasse das nölende Geplapper über mich ergehen. Was soll man machen, so ein Verstand tut halt auch nur was er tun muss. Und vielleicht hat er ja gar nicht mal so unrecht. Die Suche nach dem Licht (ich sträube mich noch immer es Erleuchtung zu nennen), die mich zu dieser Wanderung hat aufbrechen lassen, ist möglicherweise gar nicht vorgesehen im menschlichen Bauplan. Nicht aufgeführt im Reiseführer durch die Zeit. Doch auch das sind nur müßige Verstandesüberlegungen und dienen nicht wirklich dazu die Situation zu verbessern.
Das einzig Vernünftige scheint mir einfach weiterzugehen. Ein steiler Abhang, bedeckt mit losem Geröll, das den Abstieg nicht gerade vereinfacht, führt mich zu einem noch gut erkennbaren ovalen Choral, aufgeschichtet aus den zahllos hier herumliegenden Steinbrocken. Wie ein Eindringling ragt er aus dem eintönigen Wüstenboden. Eindeutig Menschenwerk, das sich allerdings in einem fortgeschrittenen Verfallstadium befindet. Als ich dort ankomme und mich erschöpft an einem noch intakten Mauerstück niederlasse stelle ich fest, dass das Leben auch hier schon vor langer Zeit weitergezogen ist. Zurückgelassen hat es einen mittlerweile vertrauten Anblick: Vertrocknetes Gebüsch auf sonnenverbrannter Erde, dazwischen ausgebleichte Knochen und Skelettfragmente. An einer schattigen Stelle innerhalb des Choralls entdecke ich, versteckt unter dem wurmstichigen Gerippe eines schon vor langer Zeit abgestorbenen Feigenbaumes, doch noch einen letzten Rest Leben. Die mit wehrhaften Stacheln besetzten Ohren eines halb vertrockneten Opuntienkaktus trotzen hier der Dürre und dem Tierfraß. Die einladend aussehenden roten Früchte darauf entpuppen sich beim Nähertreten allerdings als leere Hüllen. Die Vögel und Eidechsen waren wohl vor mir da, um sich diese Köstlichkeit schmecken zu lassen.
Sogar für eine richtige Enttäuschung scheint die Energie zu fehlen. Desillusioniert lässt sich der Körper wieder auf seinen Hintern nieder und streckt die müden Beine weit von sich. Der Kopf sinkt nach unten, doch gerade als die schweren Augenlider folgen wollen wird er wieder, wie an einer Schnur hängend, in die Höhe gezogen.
Ein stetig lauter werdendes Rauschen drängt sich in die bleierne Stille hinein, das mich, nach der Ursache Ausschau haltend, aufblicken lässt. Ist da nicht eine Bewegung auf dem mir gegenüberliegenden Hang auszumachen? Bis mir klar wird, was dieses Rauschen zu bedeuten hat, sitze ich auch schon mitten drin in einer sich über den steinigen Boden wälzende Windhose. Roter Staub hüllt mich ein, zerrt an Kleidung und Haaren, reißt den Hut vom Kopf und bringt die nicht rechtzeitig geschlossenen Augen zum tränen. Die Winderscheinung gibt mich genauso schnell wie sie mich einhüllte auch wieder frei, ihren unbestimmten Weg durch den Steinchorall fortsetzend. Offensichtlich ohne besonderes Ziel, manchmal abrupt die Richtung wechselnd oder auch mal sekundenlang am selben Fleck verweilend, scheint sie das Gelände wie ein Fährtensucher abzutasten. Bei ihrer Tätigkeit wirbelt sie viel Staub und vertrocknete Gebüschteile auf, die sie, einen Sog bildend, hoch in die Luft befördert. Dadurch lässt sich ihr wirrer und für mich unvorhersehbarer Weg gut verfolgen. Fast wie ein Spiel kommt es mir vor, ein absichtsloses herumtollen und sich austoben. Oder steckt doch ein tieferer sich mir nicht offenbarender Sinn dahinter?
Plötzlich schmückt sich dieser sich um sich selbst drehende Wirbelwind mit einer Vielzahl weißer Federn. Die vormals staubgesättigte Luftsäule legt sich ein Federkleid um, sich so in ein völlig verändertes Erscheinungsbild bringend. Ein runder tonnenförmiger Leib mit sich nach oben verlierenden flügelähnlichen Extremitäten. Manifestiert sich hier ein Engel aus einer anderen Dimension vor mir? Gebannt starre ich auf das sich langsam verdichtende Gebilde. Doch die Erscheinung ist nicht von langer Dauer. So plötzlich wie die Windhose aus dem Nichts erschien verschwindet sie auch wieder, sich in sich selbst auflösend. Die hoch aufgewirbelten Federn sinken langsam herab, eine davon auf meiner ausgestreckten Handfläche landend.
Es ist eine gewöhnliche Taubenfeder, also nichts mit Engelserscheinungen. Wohl die Hinterlassenschaften eines Falken, der im Schutz der Steinmauer seine Beute rupfte.
Tote weiße Friedenstauben, aus dem Nichts erscheinende und wieder verschwindende Engel... Der Verstand, dies als schlechtes Omen deutend, drängt zum sofortigen Aufbruch. Doch der erschöpfte Körper lässt sich nicht so ohne weiteres überreden und lehnt sich erneut an die brüchige Steinmauer zurück.
Zwei im Laufe der Zeit von Wind und Wetter blank polierte und in der gleißenden Sonne weiß glänzende Schädel erregen meine Aufmerksamkeit. Wie von einem knochentrockenen Objektkünstler platziert heben sie sich wie Schmuckstücke aus der monoton rotbraunen Landschaft. Sie sind noch ziemlich intakt und den sich nach oben windenden schneckenförmig eingedrehten dunkelbraunen Hörnern nach die Überreste zweier einst mächtiger Schafböcke. Sich einem zeitlosen Finalkampf stellend starren sie sich gegenseitig in die leeren Augenhöhlen. Kaum vorstellbar dass hier in dieser heute so lebensfeindlichen Umgebung einstmals so etwas wie Viehzucht möglich war. Aber nicht dieser Umstand lässt mich aufmerken, sondern das gesamte Bild, die Anordnung als solche, wie sie hier vor mir erscheint. Ich kenne es schon. Das Bild, genau so wie es hier vor mir liegt, ist bereits in meinem Erinnerungsspeicher abgelegt. Saß ich nicht gestern auch schon hier, den fast leeren Wasserschlauch um ein paar Tropfen erleichternd und dabei diese beiden Objekte betrachtend? Ja, eindeutig, das scheinbare Grinsen des mir zugewandten und die Ausdruckslosigkeit des seines Unterkiefers beraubten ihm gegenüberliegenden Schädels kenne ich schon. Deja-vu. Festsitzend in einer Endlosschleife des Lebens, das mir den ewigen Tod widerspiegelt. Vielleicht bin ich ja schon tot, gefangen in einem ewigen die Vergänglichkeit widerspiegelnden Kreislauf.
Dass alles schon da ist, sozusagen als Möglichkeit, bevor es in mein Erscheinungsbild tritt, leuchtet mir ja noch ein. So etwas wie ein unendlicher Pool der Möglichkeiten, aus dem der jeweilige Augenblick geschöpft wird, den ich gerade zu erleben scheine. Oder den ich durch das Erleben in Erscheinung bringe. Aber sich ereignende Wiederholungen scheinen ein neues Phänomen zu sein. Und dem Gesetz der momentanen Negativserie folgend wählt es sich natürlich eine Szene, die mir einmal erlebt vollauf genügen würde.
Wahrscheinlich ist es aber nur das unter der Hitze leidende Hirn, das sich zu ein paar Fehlschaltungen hinreißen lässt. Verwunderlich wäre dies nicht, der grüne Bereich für ein ordnungsgemäßes Funktionieren ist bestimmt längst überschritten. Halbwegs durch diese Argumentation beruhigt kann das gerade erlebte Deja-vu Ereignis von der Rubrik “besorgniserregend“ über “unbegreiflich“ nach “erledigt“ verschoben werden. Interessant zu beobachten wie der Verstand mit solchen Phänomenen umgeht. Auch er kann es sich manchmal leicht machen, obwohl er sich sonst meist für die Schwere verantwortlich zeigt.
Was folgt ist der angestrengte Versuch die hypnotisierende Faszination, die diese Schädel auf mich ausüben, zu unterbrechen. Totes Gebein das mir die Sinne verwirrt. Das Gefühl einer sich noch nicht erschließenden tieferliegenden Bedeutung lässt sich kaum unterdrücken. Zwei Todessymbole, die mir zwei mal hintereinander begegnen. Der Verstand ist sofort wieder hellwach und kramt nach verborgenen Bedeutungen und Erklärungen. Da war doch was mit Zahlenmystik, mit Symboldeutungen... „Aus Eins wird Zwei, aus Zwei wird Drei, und das Eine des Dritten ist das Vierte; so werden die zwei eins“. Nein, das ging anders. „Die Eins wird zur Zwei, die Zwei zur Drei, und aus dem Dritten wird das Eine als Viertes“. Oder doch ganz anders? „Aus zwei...“
Schluss, für solche Spielchen ist jetzt wahrlich nicht die rechte Zeit. Auch wenn der Verstand anderer Meinung ist. Gewaltsam reiße ich mich (wer?) von der ganzen Szene los. Beim nach-oben-blicken offenbart sich der ganze Choral in einer Art weitläufigem Krater liegend. Kein Wunder dass es mir immer heißer wird, Kessel sind bekanntlich dafür da, um darin zu kochen. Allerdings könnte ich gut und gerne darauf verzichten, selbst darin zu sitzen und mitgekocht zu werden. Und wieder gibt der Verstand ungefragt seinen Kommentar dazu ab, wobei er mir diesmal allerdings ein lautes Auflachen entlockt: „Sei auf der Hut wenn du von einem Kannibalen zum Mittagessen eingeladen wirst...“.
Ein wiederholtes Aufraffen ist angesagt. Ohne lange darüber nachzudenken greife ich mir einen der beiden gehörnten Schädel, wahrscheinlich weil er mir sympathischer erscheint den grinsenden, um der Falle eines erneuten Deja-vu zu entgehen. Die etwas seltsame Überlegung des Verstandes geht dahin, dass wenn das Gesamtbild verändert wurde man nicht mehr in dem vorherigen auftauchen kann. Keine Ahnung ob das stimmt, aber ein drittes Mal möchte ich die Szene nicht mehr erleben müssen.
Nach einem tiefen Durchatmen scheint der Organismus bereit, sich dem nicht allzu weit entfernten Kraterrand entgegen zu schleppen. Die Seite mit der flachsten Steigung wählend gelingt der Aufstieg dann auch relativ mühelos. Als der von einer zerfallenen Steinmauer gekrönte Grad schließlich erreicht ist eröffnet sich ein grandioses Panorama vor mir. So ähnlich muss es Moses ergangen sein, als er auf das gelobte Land blickte. Vierzig Jahre Wüste lassen halt doch die Fülle des Lebens vergessen. Na ja, hier waren es ein paar Tage weniger, doch wie ein Wunder kommt mir das sich weit vor mir ausbreitende Land trotzdem vor. Ergriffen lasse ich mich auf den Mauerresten nieder, um dieses unerwartete Bild wie Labsal in mein ausgedörrtes Inneres fließen zu lassen.
Grüne Vegetationsflecken, üppiges Leben verheißenden Oasen gleich, mischen sich in die monotone steinige Wüstenlandschaft. Sich anfangs noch zwischen den kahlen Hügeln versteckend breiten sie sich weiter aus, um schließlich die ganze weite Ebene bis zum Horizont einzunehmen. Grün, die Farbe der Hoffnung, der Inbegriff des Lebens. Erst jetzt, nachdem es so unverhofft vor mir erscheint wird mir klar, wie sehr ich es vermisst habe. Ein silbern glänzendes Band schiebt sich zwischen die hintere Grenze dieser grünfleckigen Landschaft und dem darüber aufsteigenden weissgefleckten Blau des Himmels. Zwei übereinanderliegende Fleckenteppiche, getrennt oder vereinigt durch dieses intensiv schimmernde Geschenkband. Der Horizont scheint sich von einer bloßen Linie zu einem breiten Band gemausert zu haben. Was es damit wohl auf sich hat? Zuerst noch verwundert und etwas verwirrt über diese ungewohnte Erscheinung wird mir schlagartig klar das Meer zu sehen. Ja, eindeutig, da liegt er im flimmernden Licht der Mittagssonne. Der Ozean. Erinnerung, Hoffnung und Zuversicht zugleich. Zwar noch in weiter Ferne, doch immerhin sichtbar und meiner weiteren Wanderung wenigstens eine grobe Richtung vorgebend.
Lange hält dieser Zustand der Glückseligkeit nicht an, denn ein etwas bedrückender Gedanke bahnt sich unerbittlich einen Weg ins Bewusstsein. Moses selbst war es nicht vergönnt, ins gelobte Land zu gelangen. Ihm war es nur bestimmt, sein Volk dahin zu führen. Ich habe zwar kein Volk hinter mir, aber meine momentane Situation berücksichtigend scheint der Zweifel, es bis zur Küste zu schaffen, mehr als berechtigt. Vielleicht hatte der Schafbock ein Volk, das er bis hierher führte und das dann ohne ihn weiterzog. Ihm verspätete Genugtuung verschaffend lege ich ihn, mit dem Blick zum Meer, auf die Mauerkrone. Ob nun diese Geste dafür verantwortlich ist oder auch nicht, auf jeden Fall scheinen sich neue Kräfte zu mobilisieren und ich beginne den Abstieg.
Welcher sich dann allerdings als nicht so einfach gestaltet. Aber wie sagte schon der Dachdecker? Runter geht es immer. Mich auf direktem Weg hinabzustürzen traue ich mich dann doch nicht, da mir der Abhang viel zu steil dafür vorkommt. Also wird er, viele Umwege in Kauf nehmend, serpentinenartig bewältigt. Dummerweise scheint dieses schräg am Hang laufen extrem die Gelenke zu belasten, so dass eine frühzeitige Erholungspause notwendig wird. Die strapazierten Beine fordern ihr Recht ein, was ich ihnen auch gerne gewähre. Da sie momentan die ganze Hoffnung des Vorankommen tragen möchte ich das unnötige Risiko einer Überbelastung nicht provozieren. Vorankommen, irgendwo hin kommen, ein Ziel erreichen... längst überwunden geglaubte Dinge rücken plötzlich mit gewaltiger Macht ins Dasein.
Eine Felsplatte, die über einem dieser zahlreichen, nun immer breiter und tiefer sich in den Berg gefressenen Gräben hängt, bietet etwas Schutz vor der voll auf den Abhang knallenden Sonne. Das schiefergraue Gestein mit seiner reflektierenden Wirkung bildet ein perfektes Solarium. Ich habe schon von Menschen gehört die Geld für den Besuch einer solchen Einrichtungen bezahlen. Seltsame Gepflogenheiten, seltsame Menschen.
Mich in diese kleine schattenspendende Grotte hineinzwängend halte ich Ausschau nach Hanghühnern, die in dieser Gegend eigentlich heimisch sein müssten. Hanghühner, von der Natur mit zwei unterschiedlich langen Beinen ausgestattet, so perfekt dem Leben an Berghängen wie diesem angepasst. Allerdings macht sie diese anatomische Besonderheit auch zu einer leichten Beute, wenn man ihre zweite Eigenart auszunutzen weiß. Sie sind nämlich von Natur aus penetrant neugierige Wesen. Um eines von ihnen zu fangen schleicht man sich also von hinten an, ruft im geeigneten Augenblick „Hey, Hanghuhn“, worauf es sich, seiner Neugier nicht widerstehen könnend, umdreht. Der Beinwechsel bewirkt ein sofortiges umkippen des Federviehs, worauf es vom Jäger nur noch eingesammelt werden muss.
Nachdem mich die Lebensgeister einer nach dem anderen zu verlassen scheinen, was ich ihnen nicht verübeln kann, denn es gibt weiß Gott angenehmere Aufenthaltsorte, scheint mir als letztes der Humor zu bleiben. Auch wenn es sich in dieser Situation wohl eher um Galgenhumor handelt. Oder der Verstand sucht Zuflucht in der Verrücktheit, der letzten Bastion angesichts seiner immer deutlicher zu Tage tretenden Hilflosigkeit. Nicht der übelste Ort, wie ich zu meiner eigenen Verwunderung feststellen muss.
Mit einer bewussten Anstrengung bringe ich den Körper dazu sich zu erheben und den weiteren Abstieg in Angriff zu nehmen. Irgendwann scheint der Organismus dann aber auf Automatik umgeschaltet zu haben, denn plötzlich, ohne die bewusste Wahrnehmung eines Übergangs, habe ich ebenen Boden unter den Füssen und das Laufen fällt leichter. Vielleicht wäre zu stolpern ein besserer Ausdruck, denn die Füße scheinen zu müde um sich wie Wanderer zu verhalten.
Der Geländewechsel ist aber nicht das einzige was mir unterwegs entgangen ist, auch meinen Hut scheine ich verloren zu haben. Gnadenlos nutzt die Sonne ihren nun freien Zugang zum Kopf sofort aus. Salzige Rinnsale laufen mir in die Augen, was ein unangenehmes brennen und eine verschwommene Sicht bewirkt. Es ist mir ein Rätsel aus was sich dieser Schweiß noch bilden kann, ausgedörrt wie ich mir vorkomme.
Weit und breit nichts mehr zu sehen von der dort oben am Grat erkannten Vegetation. Geschweige denn von dem schmalen Band des Meeres, das mir als Richtungsweiser dienen sollte. War dies alles nur eine Fata Morgana? Vorstellbar wäre es in dieser vor Hitze flimmernden Luft. Mit mir selbst, dem Schicksal und allem anderen hadernd schleppe ich mich weiter. Verwundert und erstaunt über welche Energiereserven dieser Organismus noch verfügt.