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II

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In der Droschke lehnte sie sich mit einem Seufzer zurück.

Warum musste man als Mädchen so teuer für das geringste Abweichen von der Normalität bezahlen? Warum konnte man nie etwas ganz Natürliches tun, ohne es hinter einem kunstvollen Gebäude kleiner Listen verbergen zu müssen? Sie hatte einem Impuls nachgegeben, als sie in Lawrence Seldens Wohnung mitgegangen war, und es war so selten, dass sie sich den Luxus impulsiven Handelns erlauben konnte! Diesmal würde es sie jedenfalls mehr kosten, als sie sich leisten konnte. Es beunruhigte sie sehr, dass sie erkennen musste, dass sie trotz jahrelanger Wachsamkeit zweimal innerhalb von fünf Minuten einen Fehler begangen hatte. Die dumme Geschichte von der Schneiderin war schlimm genug – es wäre so einfach gewesen, Rosedale zu erzählen, dass sie mit Selden Tee getrunken hatte! Die reine Feststellung der Tatsache hätte diese in harmlosem Licht erscheinen lassen. Aber nachdem sie sich einmal bei einer Unwahrheit hatte ertappen lassen, war es doppelt dumm gewesen, den Zeugen ihrer Verwirrung so schroff abzufertigen. Hätte sie Geistesgegenwart genug bewiesen und Rosedale erlaubt, sie zum Bahnhof zu fahren, so hätte dieses Zugeständnis vielleicht sein Schweigen erkaufen können. Er verfügte über die Genauigkeit seiner Rasse im Abschätzen von Werten, und zu einer lebhaft bevölkerten Nachmittagsstunde in Gesellschaft von Miss Lily Bart den Bahnsteig entlangzugehen, wäre bares Geld in seiner Tasche gewesen, wie er es vielleicht selbst ausgedrückt hätte. Er wusste natürlich, dass auf Bellomont eine große Gesellschaft gegeben würde, und die Möglichkeit, für einen von Mrs. Trenors Gästen gehalten zu werden, hatte er bei seinen Kalkulationen sicher berücksichtigt. Mr. Rosedale war zurzeit noch in einem Stadium seines sozialen Aufstiegs, in dem es wichtig war, solche Eindrücke hervorzurufen.

Das Ärgerliche war, dass Lily all das wusste, wusste, wie einfach es gewesen wäre, ihn auf der Stelle zum Schweigen zu bewegen, und wie schwierig es werden würde, dies im Nachhinein zu tun. Mr. Simon Rosedale gehörte zu den Menschen, die es sich zur Aufgabe machen, alles über jedermann in Erfahrung zu bringen; er glaubte, seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft dadurch unter Beweis stellen zu können, dass er eine lästige Vertrautheit mit den Gewohnheiten derjenigen zeigte, die er gern als gute Bekannte hingestellt hätte. Lily war davon überzeugt, dass innerhalb von vierundzwanzig Stunden die Geschichte von ihrem Besuch bei ihrer Schneiderin im Benedick unter Mr. Rosedales Bekanntschaft in regem Umlauf sein würde. Das Schlimmste bei alledem war, dass sie ihn immer abweisend behandelt oder ganz ignoriert hatte. Bei seinem ersten Auftreten in der Gesellschaft – als ihr unbedachter Cousin Jack Stepney ihm eine Einladung für eine der ausufernden, unpersönlichen Van-Osburgh-»Riesengesellschaften« besorgt hatte (zum Ausgleich welcher Art von Gefälligkeiten war nur zu leicht zu erraten) –, war Rosedale mit dieser Mischung aus künstlerischem Einfühlungsvermögen und geschäftlicher Cleverness, die seiner Rasse eigen ist, instinktiv zu Miss Bart hingezogen worden. Sie durchschaute seine Motive, denn ihr eigenes Vorgehen wurde von ebenso hübschen Berechnungen gesteuert. Erziehung und Erfahrung hatten sie gelehrt, sich gegenüber Neuankömmlingen gastfreundlich zu verhalten, da sogar ganz und gar nicht Vielversprechende ihr später von Nutzen sein konnten; außerdem gab es genug »Verliese«, die sie verschlucken würden, wenn sie es nicht waren. Aber ein instinktiver Widerwille hatte all die Jahre gesellschaftlicher Disziplin zunichtegemacht und sie Mr. Rosedale ohne jegliche Anhörung in sein »Verlies« abschieben lassen. Er hinterließ nur noch die kleine Welle des Amüsements, das sein schleuniges Abgefertigtwerden bei ihren Freunden hervorrief; und obwohl er später (um die Metapher zu wechseln) weiter unten im Strom wieder auftauchte, war es doch nur für flüchtige Augenblicke mit langen Zwischenzeiten, in denen er unter der Oberfläche blieb.

Bisher war Lily nicht von Skrupeln geplagt worden. In ihrem unmittelbaren Kreis hatte man Mr. Rosedale für »unmöglich« erklärt und man ließ Jack durchaus die Verachtung spüren, die man für seinen Versuch empfand, seine Schulden mit Abendeinladungen zu bezahlen. Sogar Mrs. Trenor, deren Sinn für Abwechslung schon zu einigen riskanten Experimenten geführt hatte, weigerte sich, auf Jacks Bemühungen einzugehen und Rosedale als gesellschaftliche Neuheit auszugeben; sie erklärte, dass dieser kleine Jude ja wohl, soweit sie sich erinnern konnte, bereits ein Dutzend Mal der Gesellschaft serviert und von ihr zurückgewiesen worden war; und solange Judy Trenor unbeugsam blieb, waren Mr. Rosedales Chancen äußerst gering, über den äußeren Kreis der Van-Osburgh-Riesenempfänge hinaus in die Gesellschaft einzudringen. Jack gab das Rennen mit einem lachenden »Ihr werdet schon sehen« auf, blieb aber mannhaft bei seinen Waffen und zeigte sich mit Rosedale in den Restaurants, die gerade in Mode waren, in Gesellschaft persönlich sehr farbiger, gesellschaftlich aber eher obskurer Damen, die für solche Zwecke jederzeit zur Verfügung stehen. Seine Bemühungen waren bisher jedoch umsonst gewesen, und da Rosedale ohne Zweifel für die Dinners zahlte, hatte der Schuldner bisher den größeren Gewinn von der Sache.

Mr. Rosedale war daher, wie unschwer zu erkennen ist, noch kein Faktor, den man fürchten musste –, es sei denn, man begab sich in seine Gewalt. Und das war genau, was Miss Bart getan hatte. Ihre unbeholfene Schwindelei hatte ihm gezeigt, dass sie etwas zu verbergen hatte; und sie war sicher, dass er noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen hatte. Etwas in seinem Lächeln sagte ihr, dass er nicht vergessen hatte. Sie versuchte mit leisem Schaudern, den Gedanken loszuwerden, aber er verfolgte sie den ganzen Weg zum Bahnhof und auch den Bahnsteig entlang mit einer Beharrlichkeit, als wäre er Mr. Rosedale selbst.

Sie hatte gerade noch Zeit, ihren Platz einzunehmen, bevor der Zug anfuhr; aber nachdem sie sich einmal in ihrer Ecke zurechtgesetzt hatte mit dem instinktiven Gefühl für Wirkung, das sie nie im Stich ließ, schaute sie sich um in der Hoffnung, noch andere Gäste der Trenor-Party zu sehen. Sie wollte sich von sich selbst ablenken, und Konversation war das einzige Fluchtmittel, das sie kannte.

Ihre Suche wurde mit der Entdeckung eines sehr blonden Mannes mit weichem rötlichem Bart belohnt, der am andern Ende des Wagens offenbar versuchte, sich hinter einer entfalteten Zeitung zu verbergen. Lilys Augen leuchteten, und ein kleines Lächeln entspannte ihre Mundwinkel. Sie hatte gewusst, dass Mr. Percy Gryce auf Bellomont sein würde, aber sie hatte nicht mit dem glücklichen Zufall gerechnet, ihn im Zug für sich zu haben. Diese Tatsache vertrieb alle beunruhigenden Gedanken an Mr. Rosedale. Vielleicht würde der Tag schließlich doch noch besser enden, als er begonnen hatte.

Sie fing an, die Seiten ihres Romans aufzuschneiden, wobei sie in aller Ruhe ihre Beute durch die niedergeschlagenen Wimpern hindurch betrachtete und sich gleichzeitig eine geeignete Methode für den Angriff zurechtlegte. Etwas in seiner Haltung völligen Aufgehens in seine Lektüre sagte ihr, dass er sich ihrer Anwesenheit bewusst war: Kein Mensch war jemals derartig in eine Abendzeitung vertieft gewesen! Sie erriet, dass er zu schüchtern war, um zu ihr zu kommen, und dass ihr eine Möglichkeit, ihn anzusprechen, einfallen müsste, die nicht wie ein Annäherungsversuch von ihrer Seite wirken durfte. Der Gedanke, dass jemand, der so reich war wie Mr. Percy Gryce, schüchtern sein könnte, amüsierte sie; aber sie hatte sehr viel Nachsicht mit solchen Eigenarten, und außerdem konnte seine Schüchternheit ihren Zwecken besser dienen als zu viel Selbstsicherheit. Sie verstand die Kunst, den Verlegenen Selbstbewusstsein zu vermitteln, aber sie war nicht sicher, ob sie ebenso über die Fähigkeit verfügte, selbstbewusste Menschen in Verlegenheit zu bringen.

Sie wartete, bis der Zug den Tunnel verlassen hatte und durch die ärmlichen Ausläufer der nördlichen Vororte raste. Dann, als er seine Geschwindigkeit in der Nähe von Yonkers verlangsamte, stand sie auf und ging langsam den Wagen entlang. Als sie an Mr. Gryce vorüberging, schlingerte der Zug plötzlich, und er merkte, dass eine schmale Hand sich an der Rücklehne seines Sitzes festhielt. Er fuhr erschreckt auf, sein argloses Gesicht sah aus, als ob man es in karmesinrote Farbe getaucht hätte, sogar die rötliche Färbung seines Bartes schien sich zu vertiefen.

Der Zug schwankte wieder und warf Miss Bart dabei fast in seine Arme. Sie verschaffte sich mit einem Lachen Halt und trat ein wenig zurück, aber er wurde vom Duft ihres Kleides umhüllt, und seine Schulter hatte ihre flüchtige Berührung gespürt.

»Oh, Mr. Gryce, Sie sind es? Es tut mir ja so leid – ich habe gerade versucht, den Steward zu finden, um eine Tasse Tee zu bekommen.«

Sie gab ihm die Hand, als der Zug seine normale Geschwindigkeit wieder aufnahm, und stand dann noch ein wenig im Gang, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Ja – er sei auf dem Weg nach Bellomont. Er habe gehört, dass sie mit von der Partie sein würde – er errötete wieder, als er dies zugab. Und würde er auch eine Woche lang dort sein? Wie wundervoll!

Als ihr Gespräch diesen Punkt erreicht hatte, zwängten sich noch ein paar verspätete Reisende vom letzten Bahnhof in den Wagen, und Lily musste zu ihrem Sitzplatz zurückkehren.

»Der Platz neben meinem ist frei – setzen Sie sich doch zu mir«, sagte sie über die Schulter, und Mr. Gryce gelang es, wenn er auch ziemlich außer Fassung war, einen Wechsel zu bewerkstelligen, der ihn und seine Taschen an ihre Seite brachte.

»Ah, und hier ist der Steward, und vielleicht können wir unseren Tee jetzt bekommen.«

Sie winkte die Bedienung herbei, und in kürzester Zeit war – mit der Leichtigkeit, welche die Erfüllung all ihrer Wünsche zu begleiten schien – ein kleiner Tisch zwischen ihren Sitzen aufgestellt worden, und sie hatte Mr. Gryce geholfen, seine sperrigen Besitztümer unter diesem zu verstauen.

Als der Tee kam, beobachtete er sie mit wortloser Faszination, während ihre Hände über das Tablett flatterten und sich dabei wunderbar fein und schmal ausnahmen im Gegensatz zu dem groben Porzellan und klumpigen Brot. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass jemand mit so lässiger Behendigkeit die schwere Aufgabe meistern konnte, in aller Öffentlichkeit und in einem schlingernden Zug Tee aufzugießen. Er hätte nie gewagt, ihn für sich zu bestellen, um die Aufmerksamkeit seiner Mitreisenden nicht auf sich zu lenken, aber im Schutz ihrer alles Interesse auf sich ziehenden Person, nippte er von dem tintenschwarzen Gebräu mit einem herrlichen Gefühl von Behaglichkeit.

Lily, noch mit dem Geschmack von Seldens Karawan-Tee auf den Lippen, hatte keine große Lust, diesen in der Brühe, die in der Bahn serviert wurde, zu ertränken, während diese Brühe für ihren Reisegefährten reiner Nektar zu sein schien. Aber, wie sie richtig annahm, lag einer der Reize des Tees darin, dass man ihn zusammen trinken konnte, und sie machte sich daran, Mr. Gryces Freuden zur Vollendung zu bringen, indem sie ihn über ihre erhobene Tasse hinweg anlächelte.

»Ist er richtig so, habe ich ihn nicht zu stark gemacht?«, fragte sie besorgt, und er antwortete mit Überzeugung, er habe nie besseren Tee getrunken.

»Das könnte womöglich sogar stimmen«, überlegte sie und erwärmte sich bei dem Gedanken, dass Mr. Percy Gryce, der die tiefsten Tiefen hemmungsloser Genusssucht hätte auskosten können, vielleicht wirklich seine erste Reise allein mit einer hübschen Frau unternahm.

Es schien ihr eine glückliche Fügung, dass ausgerechnet sie das Instrument zu seiner Einführung in diese Dinge sein sollte. Manche Mädchen hätten nicht gewusst, wie sie mit ihm umgehen mussten. Sie hätten die Neuheit des Abenteuers überbetont und so versucht, ihn den Reiz einer Eskapade daran empfinden zu lassen. Lilys Methoden aber waren subtiler. Sie erinnerte sich, dass ihr Cousin Jack Stepney Mr. Gryce einmal als einen jungen Mann beschrieben hatte, der seiner Mutter versprochen hat, bei Regen niemals ohne seine Überschuhe auszugehen. Lily legte diesen Hinweis also allem, was sie tat, zugrunde und beschloss, der Szene eine liebenswürdig häusliche Atmosphäre zu verleihen, in der Hoffnung, ihr Reisegefährte werde, statt zum Gefühl, etwas Leichtsinniges oder Ungewöhnliches zu tun, vielmehr zum Nachdenken über die Vorteile einer ständigen Begleiterin gebracht, die einem im Zug den Tee zubereitet.

Aber trotz ihrer Bemühungen ging ihnen der Gesprächsstoff aus, nachdem das Tablett weggeräumt worden war, und sie hatte Anlass, aufs Neue Mr. Gryces Grenzen abzuschätzen. Es war schließlich nicht Gelegenheit, sondern Phantasie, was ihm fehlte, sein geistiger Gaumen würde niemals lernen, zwischen dem Tee der Bahn und Nektar zu unterscheiden. Es gab jedoch ein Thema, auf das sie immer zurückgreifen konnte, eine Triebfeder, die sie nur berühren musste, um seine einfache Mechanik in Bewegung zu setzen. Sie hatte sich das bisher versagt, weil dies ein letztes Mittel für sie war, und hatte auf andere Künste gezählt, um andere Gefühle zu wecken. Als aber nach und nach ein entschiedener Zug von Langeweile auf seinem offenen Gesicht erschien, erkannte sie, dass extreme Maßnahmen vonnöten waren.

»Und wie«, sagte sie und lehnte sich dabei vor, »geht es mit Ihren Amerikana voran?«

Seine Augen wurden gleich ein bisschen weniger trübe; es war, als ob ein Film, der eben im Entstehen begriffen war, von ihm abgezogen worden wäre, und Lily empfand den Stolz eines geschickten Operateurs.

»Ich habe da ein paar neue Sachen«, sagte er, durchströmt von Freude, wobei er aber seine Stimme senkte, als ob er fürchtete, seine Mitreisenden könnten sich verbündet haben, um ihn auszuplündern.

Sie entgegnete mit einer verständnisvollen Rückfrage, und ganz allmählich wurde er dazu gebracht, von seinen letzten Erwerbungen zu erzählen. Dies war das einzige Gesprächsthema, das es ihm ermöglichte, sich selbst zu vergessen, oder vielmehr ihm erlaubte, sich seiner selbst ohne Befangenheit bewusst zu sein, denn das war sein Feld, und hier vermochte er eine Überlegenheit geltend zu machen, die ihm nur sehr wenige streitig machen konnten. Kaum einer seiner Bekannten hatte Interesse an Amerikana oder wusste etwas über sie, und das Bewusstsein dieser Unkenntnis machte Mr. Gryces Kenntnisse zu einer angenehmen Erleichterung. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, das Thema ins Gespräch zu bringen und an ihm als Hauptgesprächsgegenstand festzuhalten; die meisten Menschen zeigten leider kein Bedürfnis, ihre Unwissenheit vermindert zu sehen, und Mr. Gryce war daher so etwas wie ein Kaufmann, dessen Lagerhäuser bis zum Dach mit Waren gefüllt sind, die er nicht auf den Markt bringen kann.

Aber Miss Bart wollte, wie es schien, wirklich etwas über Amerikana erfahren, und darüber hinaus war sie bereits informiert genug, um die Aufgabe weiterer Belehrung ebenso leicht wie angenehm zu gestalten. Sie befragte ihn auf sehr intelligente Weise, sie lauschte ihm ergeben, und da er auf den Ausdruck von Lethargie gefasst gewesen war, der normalerweise auf den Gesichtern seiner Zuhörer erschien, wurde er unter ihrem aufnahmebereiten Blick geradezu beredt. Die Bruchstücke, die sie klugerweise bei Selden hatte sammeln können – genau diesen Zufall voraussehend –, halfen ihr nun so ausgezeichnet, dass sie schon anfing, ihren Besuch bei ihm für das glücklichste Vorkommnis des Tages zu halten. Sie hatte wieder einmal ihr Talent bewiesen, vom Unerwarteten zu profitieren, und unter der Oberfläche lächelnder Aufmerksamkeit, die sie ihrem Reisegefährten weiterhin zuwandte, keimten gefährliche Theorien darüber, ob es ratsam sei, plötzlichen Eingebungen zu folgen.

Mr. Gryces Gefühle waren, wenn auch weniger entschieden, doch ebenso angenehm. Er empfand das undeutliche Kitzeln, mit dem die niederen Organismen auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse reagieren, und all seine Sinne taumelten in einem vagen Wohlgefühl, durch das er Miss Barts Person undeutlich aber wohltuend wahrnahm.

Mr. Gryces Interesse für Amerikana war nicht aus ihm selbst heraus erwachsen; es war unmöglich, ihn sich als jemanden vorzustellen, der eigenständig Geschmack an einer Sache findet. Ein Onkel hatte ihm eine Sammlung hinterlassen, die in bibliophilen Kreisen bereits Beachtung gefunden hatte. Das Vorhandensein dieser Sammlung war das Einzige, das je dem Namen Gryce eine gewisse Glorie verliehen hatte, und der Neffe war so stolz auf sein Erbe, als ob es sein eigenes Werk gewesen wäre. Es kam sogar so weit, dass er es als solches ansah und ein Gefühl persönlicher Selbstzufriedenheit empfand, wenn ihm ein Hinweis auf die Gryce’schen Amerikana in die Hände kam. Ängstlich bemüht, wie er war, persönlich nicht aufzufallen, hatte er doch ein so exquisites und übermäßiges Vergnügen daran, seinen Namen gedruckt zu sehen, dass dies geradezu ein Ausgleich für seine Furcht vor der Erregung persönlichen Aufsehens zu sein schien.

Um dieses Gefühl so oft wie möglich genießen zu können, abonnierte er alle Zeitschriften, die sich mit dem Sammeln von Büchern im Allgemeinen und mit amerikanischer Geschichte im Besonderen befassten. Da sich die Hinweise auf seine Bibliothek in den Seiten dieser Journale häuften, die sein einziger Lesestoff waren, begann er, sich selbst als jemanden zu sehen, der eine wichtige Stellung in der Öffentlichkeit einnimmt, und fing an, den Gedanken daran zu genießen, welches Interesse die Leute, die er auf der Straße traf oder zwischen denen er auf Reisen saß, an ihm haben würden, wenn sie plötzlich erführen, dass er der Besitzer der Gryce’schen Amerikana sei.

Die meisten Ängste haben solche geheimen Möglichkeiten der Kompensation, und Miss Bart war scharfsichtig genug zu erkennen, dass innere Eitelkeit im Allgemeinen in direkter Proportion zur äußeren Geringschätzung der eigenen Person steht. Mit einem selbstbewussteren Menschen hätte sie nicht gewagt, sich so lange bei einem Thema aufzuhalten oder so übertriebenes Interesse dafür zu zeigen; aber sie hatte erraten, dass Mr. Gryces Egoismus ein durstiger Boden war, der nach ständiger Nahrung von außen verlangte. Miss Bart hatte die Gabe, einen verborgenen Gedankengang zu verfolgen, während sie an der Oberfläche der Unterhaltung mit Leichtigkeit dahinzugleiten schien, und in diesem Fall nahm ihr gedanklicher Abstecher die Gestalt eines schnellen Überblicks von Mr. Percy Gryces Zukunft in Verbindung mit ihrer eigenen an. Die Gryces kamen aus Albany und waren erst vor kurzem in die Hauptstadt eingeführt worden, in die Mutter und Sohn nach dem Tode des alten Jefferson Gryce gekommen waren, um sein Haus in der Madison Avenue in Besitz zu nehmen – ein scheußliches Haus, ganz brauner Stein von außen und schwarzes Walnussholz von innen, mit der Gryce’schen Bibliothek in einem feuersicheren Anbau, der wie ein Mausoleum aussah. Lily wusste jedoch bereits alles über sie: Die Ankunft des jungen Mr. Gryce hatte die Mutterherzen von New York höher schlagen lassen, und wenn ein Mädchen keine Mutter hat, die für es ins Zittern kommt, muss es verständlicherweise selbst auf dem Posten sein. Lily hatte deshalb nicht nur dafür gesorgt, den Weg des jungen Mannes zu kreuzen, sondern auch die Bekanntschaft von Mrs. Gryce gemacht, einer monumentalen Erscheinung mit der Stimme eines Kanzelpredigers und einem Kopf, der voll war von den Schandtaten ihrer Dienstboten. Diese Dame kam manchmal, um Mrs. Peniston Gesellschaft zu leisten und zu erfahren, wie es ihr gelang, das Küchenmädchen daran zu hindern, Esswaren aus dem Haus zu schmuggeln. Mrs. Gryces Wohltätigkeit war von ganz und gar unpersönlicher Art: Fälle, in denen es um die Notlage eines Einzelnen ging, betrachtete sie mit Misstrauen, aber sie unterstützte Institutionen, wenn deren Jahresbericht ein eindrucksvolles Plus verzeichnete. Ihre häuslichen Pflichten waren zahlreich, denn sie reichten von heimlichen Inspektionen der Dienstbotenkammern bis zu unangekündigten Besuchen im Keller; viele Vergnügungen hatte sie sich dagegen nie erlaubt. Einmal jedoch ließ sie eine Sonderausgabe des Sarum Rule1 in roter Schrift drucken und versah alle Kleriker der Diozöse damit. Das vergoldete Album, in dem die Dankesbriefe eingeklebt waren, stellte das wichtigste Schmuckstück auf dem Tisch ihres Salons dar.

Percy war nach Grundsätzen erzogen worden, die eine so exzellente Frau gar nicht umhinkonnte, ihm einzuimpfen. Jede Form von Vorsicht und Misstrauen war einer Natur eingepflanzt worden, die von sich aus schon zögernd und vorsichtig war, mit dem Resultat, dass es für Mrs. Gryce kaum nötig gewesen wäre, ihrem Sohn das Versprechen wegen der Überschuhe abzunehmen, so wenig wahrscheinlich war es, dass er sich im Regen draußen in Gefahr gebracht hätte. Nachdem er volljährig geworden war und das Vermögen des seligen Mr. Gryce geerbt hatte, das dieser mit einem Patent, um frische Luft von Hotels fernzuhalten, gemacht hatte, lebte der junge Mann zunächst weiterhin mit seiner Mutter in Albany; aber nach Jefferson Gryces Tod, als ein weiterer großer Besitz in die Hände ihres Sohnes überging, fand Mrs. Gryce, dass, was sie seine »Interessen« nannte, seine Anwesenheit in New York erforderte. Sie ließ sich also in dem Haus in der Madison Avenue nieder, und Percy, dessen Pflichtgefühl dem seiner Mutter in nichts nachstand, verbrachte all seine Wochentage in einem hübschen Büro in der Broad Street, wo ein Trupp blasser Männer für ein kleines Gehalt bei der Verwaltung der Gryce’schen Besitzungen ergraut war, und wo er mit angemessener Ehrerbietung in alle Einzelheiten der Kunst des Geldscheffelns eingewiesen wurde.

Soweit Lily in Erfahrung bringen konnte, war dies bisher Mr. Gryces einzige Beschäftigung gewesen, und man sollte ihr verzeihen, dass sie die Aufgabe nicht als allzu schwer empfand, das Interesse eines jungen Mannes zu wecken, den man bei so strenger Diät gehalten hatte. Auf jeden Fall fühlte sie sich so völlig Herrin der Lage, dass sie sich einem Gefühl der Sicherheit hingab, in dem alle Furcht vor Mr. Rosedale und vor den Schwierigkeiten, von denen diese Furcht abhing, hinter dem Horizont bewussten Denkens verschwanden.

Dass der Zug in Garrisons hielt, hätte sie von ihren Gedanken nicht abgelenkt, wenn sie nicht plötzlich einen gequälten Ausdruck in den Augen ihres Reisegefährten entdeckt hätte. Sein Sitz war der Tür zugewandt, und sie erriet, dass er von einem sich nähernden Bekannten beunruhigt worden war, eine Tatsache, die durch sich umwendende Köpfe und eine allgemeine Unruhe bestätigt wurde, so wie es oft geschah, wenn sie selbst ein Eisenbahnabteil betrat.

Sie erkannte die Symptome sofort und war nicht erstaunt, von der hohen Stimme einer hübschen Frau begrüsst zu werden, die in den Zug kam in Begleitung einer Zofe, eines Bullterriers und eines Gepäckträgers, der unter der Last von Taschen und Reisenecessaires daherwankte.

»Oh, Lily – fährst du nach Bellomont? Dann kannst du mir wohl nicht deinen Platz überlassen, oder? Aber ich muss einen Platz in diesem Abteil finden – Schaffner, Sie müssen mir sofort einen Platz besorgen! Kann nicht jemand woanders hingesetzt werden? Ich will bei meinen Freunden sitzen. Oh, wie geht es Ihnen, Mr. Gryce? Versuchen Sie doch ihm begreiflich zu machen, dass ich einen Sitzplatz bei Ihnen und Lily haben muss!«

Mrs. George Dorset stand in der Mitte des Ganges, ohne auf den schüchternen Versuch eines Reisenden mit einer Reisetasche zu achten, der sein Bestes tat, ihr Platz zu machen, indem er ausstieg; sie verbreitete um sich jene allgemeine Irritation, die gutaussehende Frauen auf Reisen nicht selten verursachen.

Sie war kleiner und schlanker als Lily Bart, mit einer ruhelosen Biegsamkeit in ihrer Haltung, so als ob man sie hätte zusammenknüllen und durch einen Ring ziehen können, wie die wallenden Stoffe, an denen sie Gefallen fand. Ihr kleines blasses Gesicht schien nur die Fassung für ein Paar dunkler unglaublicher Augen zu sein, deren träumerischer Blick in sonderbarem Kontrast zu der Selbstsicherheit ihrer Stimme und Gestik stand, so dass einer ihrer Freunde bemerkte, sie gleiche einem körperlosen Geist, der eine Menge Raum einnahm.

Nachdem sie schließlich doch entdeckt hatte, dass der Sitzplatz neben Miss Bart zu ihrer Verfügung stand, nahm sie ihn mit einer weiteren Verdrängung ihrer Umgebung in Besitz, während sie erklärte, dass sie am Morgen in ihrem Wagen von Mount Kisko gekommen sei und sich in Garrisons eine Stunde lang die Beine in den Bauch habe stehen müssen, noch dazu ohne den Trost einer Zigarette, weil der Rohling von Ehemann vergessen hatte, ihr Etui aufzufüllen, bevor sie am Morgen weggefahren war.

»Und um diese Tageszeit hast du, nehme ich an, keine einzige mehr übrig, oder Lily?«, schloss sie mit klagender Stimme.

Miss Bart fing den erstaunten Blick von Mr. Percy Gryce auf, dessen Lippen nie von Tabak besudelt wurden.

»Was für eine absurde Frage, Bertha!«, rief sie und errötete bei dem Gedanken an den Vorrat, den sie bei Lawrence Selden angelegt hatte.

»Wieso, rauchst du nicht? Seit wann hast du es denn aufgegeben? Was – du hast nie – und Sie auch nicht, Mr. Gryce? Ah, natürlich – wie dumm von mir – ich verstehe.«

Und Mrs. Dorset lehnte sich zurück in ihre Reisepolster mit einem Lächeln, das Lily wünschen ließ, es wäre kein Platz neben ihrem frei gewesen.

Das Haus der Freude

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