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III

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Bridge dauerte auf Bellomont meist bis in die frühen Morgenstunden; und als Lily in dieser Nacht zu Bett ging, hatte sie länger gespielt, als sie sich leisten konnte.

Weil sie kein Bedürfnis verspürte, in ihr Zimmer zu gehen, wo sie sich für ihr Verhalten würde Rechenschaft ablegen müssen, verweilte sie noch ein wenig auf der breiten Treppe und schaute in den Saal hinunter, wo die letzten Kartenspieler um ein Tablett mit hohen Gläsern und silberummantelten Karaffen gruppiert saßen, das der Butler gerade auf einem niedrigen Tisch neben dem Kamin abgesetzt hatte.

Der Saal war mit Arkaden versehen und mit einer Galerie, die von Säulen aus blassgelbem Marmor getragen wurde. Hohe Büsche blühender Pflanzen hatte man vor dem Hintergrund dunklen Blattwerks in den Ecken arrangiert. Auf dem karmesinroten Teppich dösten ein Jagdhund und einige Spaniels wohlig vor dem Feuer, und das Licht der großen Deckenlampe in der Mitte des Raumes gab dem Haar der Frauen strahlenden Glanz und ließ ihre Juwelen Funken sprühen, wenn sie sich bewegten.

Es gab Augenblicke, in denen solche Szenen Lily viel Freude bereiteten, in denen sie ihrem Sinn für Schönheit und ihrem Verlangen nach der äußerlichen Vollendung des Lebens entgegenkamen; es gab aber auch solche, in denen sie ihr noch verschärft vor Augen führten, wie dürftig ihre eigenen Möglichkeiten waren. Jetzt war gerade ein Moment, in dem sie vornehmlich diesen letzten Gegensatz empfand, und sie wandte sich ungeduldig ab, als Mrs. George Dorset Percy Gryce hinter sich her in ein vertrauliches Eckchen unter der Galerie zog, wobei der Flitter, der sich auf ihrem Kleid schlängelte, im Licht glitzerte.

Nicht, dass Miss Bart gefürchtet hätte, sie könnte den eben erst erworbenen Einfluss auf Mr. Gryce verlieren. Mrs. Dorset würde ihn vielleicht in Erstaunen versetzen oder blenden können, aber sie hatte weder das Geschick noch die Geduld, ihn wirklich zu erobern. Sie war zu ichbezogen, um die Tiefen seiner Schüchternheit zu ergründen, und außerdem, warum sollte sie sich die Mühe machen? Höchstens einen Abend lang konnte es sie amüsieren, sich über seine einfache Art lustig zu machen – danach würde er ihr nur zur Last fallen, und weil sie das wusste, würde sie ihn, erfahren, wie sie war, nicht ermutigen. Aber allein der Gedanke an diese andere Frau, die sich einen Mann nehmen und ihn beiseite schieben konnte, wie sie wollte, ohne ihn als möglichen Faktor in ihren Plänen ansehen zu müssen, erfüllte Lily mit Neid. Percy Gryce hatte sie den ganzen Nachmittag über gelangweilt – schon der Gedanke an ihn schien ein Echo seiner eintönigen Stimme in ihr wachzurufen –, aber sie konnte ihn am andern Morgen nicht einfach unbeachtet lassen, sie musste ihren Erfolg ausnutzen, musste sich weiterer Langeweile unterwerfen, musste ihm von neuem entgegenkommen und ihr Anpassungsvermögen unter Beweis stellen, und all das allein in der Hoffnung, dass er ihr schließlich und endlich die Ehre geben würde, sie für den Rest ihres Lebens zu langweilen.

Ihr Schicksal war hassenswert, aber wie konnte man ihm entrinnen? Welche Wahl hatte sie denn? Sie konnte nur sie selbst sein oder eine Gerty Farish. Als sie ihr Schlafzimmer betrat mit seinem weich abgedunkelten Licht, den Morgenrock aus Spitze über die seidene Bettdecke gebreitet, ihren bestickten Pantöffelchen vor dem Kamin, mit einer Vase voller Nelken, welche die Luft mit ihrem Duft erfüllten, und den neuesten Romanen und Magazinen, die noch unaufgeschnitten auf einem Tisch neben der Leselampe lagen, kam ihr Miss Farishs beengte Wohnung in den Sinn, deren billige Annehmlichkeiten und hässliche Tapeten. Nein, für vulgäre und schäbige Umgebungen, für die elenden Kompromisse der Armut, war sie einfach nicht gemacht. Ihr ganzes Wesen entfaltete sich erst in einer Atmosphäre von Luxus; das war der Hintergrund, den sie brauchte, das einzige Klima, in dem sie zu atmen vermochte. Aber der Luxus anderer war nicht das, was sie wollte. Vor wenigen Jahren hatte er ihr noch genügt: Sie hatte ihre tägliche Zuteilung an Vergnügen angenommen, ohne sich darum zu kümmern, wer sie ihr gab. Jetzt fing sie an, die Verpflichtungen, die daraus erwuchsen, als aufreibend zu empfinden; sie fühlte sich wie jemand, der den Glanz nur als Leihgabe erhält, den sie einmal als ihren eigenen betrachtet hatte. Es gab sogar Augenblicke, in denen ihr bewusst wurde, dass sie für ihren Lebensstil bezahlen musste.

Lange Zeit hatte sie sich geweigert, Bridge zu spielen. Sie wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, und sie fürchtete sich davor, Geschmack an etwas so Kostspieligem zu finden. Sie hatte die Gefahr am Beispiel von mehr als einem ihrer Bekannten erkannt; einer war Ned Silverton, der liebenswerte blonde junge Mann, der jetzt mit völliger Hingabe dicht neben Mrs. Fisher saß, einer auffälligen, geschiedenen Dame mit Augen und Gewändern, die ebenso aufdringlich wirkten wie die Schlagzeilen, die ihrem »Fall« gewidmet worden waren. Lily konnte sich noch erinnern, wie der junge Silverton in ihren Kreis gestolpert war, mit dem Auftreten des verirrten Arkadiers, der entzückende Sonette in der Zeitschrift seines Colleges veröffentlicht hatte. Seither hatte er eine Vorliebe für Mrs. Fisher und Bridge entwickelt, und Letzteres zumindest hatte ihn in Unkosten gestürzt, aus denen ihn mehr als einmal gequälte, unverheiratete Schwestern gerettet hatten, die seine Sonette wie einen Schatz hüteten und ihren Tee ohne Zucker tranken, um ihren Liebling weiterhin über Wasser zu halten. Neds Fall war Lily vertraut: Sie hatte gesehen, wie der Ausdruck seiner bezaubernden Augen – die viel mehr Poesie in sich hatten als seine Sonette – sich veränderte, zunächst von Überraschung in Vergnügen und dann von Vergnügen in Angst, als er nach und nach den Verlockungen des schrecklichen Glücksgottes erlag, und sie hatte Angst davor, dieselben Symptome an sich zu entdecken.

In den letzten Jahren hatte sie nämlich gemerkt, dass ihre Gastgeberinnen von ihr erwarteten, am Spieltisch Platz zu nehmen. Das gehörte zu dem Tribut, den sie für deren ausgedehnte Gastfreundschaft zu entrichten hatte, ebenso wie für die Kleider und die kleinen Schmucksachen, mit denen ihre unzulängliche Garderobe ab und an aufgebessert wurde. Und seit sie regelmäßig spielte, war die Spielleidenschaft in ihr gewachsen. Sie hatte letzthin ein- oder zweimal eine größere Summe gewonnen, aber anstatt sie für künftige Verluste aufzuheben, hatte sie alles für Kleider und Schmuck ausgegeben; der Wunsch, diese Unvorsichtigkeit wiedergutzumachen, zusammen mit dem ständig wachsenden Vergnügen am Spiel, veranlassten sie, bei jeder neuen Runde höhere Einsätze zu riskieren. Sie versuchte sich mit dem Vorwand zu entschuldigen, dass man in der Trenor-Clique, wenn überhaupt, mit hohem Einsatz spielen musste oder für pedantisch oder gar knauserig gehalten wurde; aber sie wusste, dass die Spielleidenschaft immer mehr Macht über sie gewann, und dass es in ihrer augenblicklichen Umgebung wenig Hoffnung gab, sich dem zu widersetzen.

An diesem Abend hatte sie überhaupt kein Glück gehabt, und die kleine Goldbörse, die zwischen ihren Schmuckstücken hing, war fast leer, als sie wieder in ihr Zimmer kam. Sie schloss ihren Kleiderschrank auf, nahm ihre Schmuckkassette heraus und sah unter dem Einsatz nach der Rolle aus Scheinen, mit denen sie ihre Börse aufgefüllt hatte, bevor sie zum Dinner nach unten gegangen war. Nur zwanzig Dollar waren noch übrig: Diese Entdeckung war so bestürzend, dass sie einen Augenblick lang glaubte, sie wäre beraubt worden. Dann nahm sie Papier und Bleistift, setzte sich an den Schreibtisch und versuchte auszurechnen, was sie an diesem Tag ausgegeben hatte. Ihre Schläfen pochten vor Müdigkeit, und sie musste wieder und wieder nachrechnen, aber schließlich wurde ihr klar, dass sie dreihundert Dollar beim Kartenspiel verloren hatte. Sie nahm ihr Scheckbuch heraus, um nachzusehen, ob der Restbetrag größer wäre, als sie in Erinnerung hatte, fand aber, dass sie sich in der anderen Richtung geirrt hatte. Dann wandte sie sich wieder ihren Zahlen zu, aber sie konnte noch so oft hin- und herrechnen, die verschwundenen dreihundert Dollar ließen sich doch nicht wieder herbeizaubern. Es war der Betrag, den sie zurückgelegt hatte, um ihre Schneiderin zu beruhigen; es sei denn, sie hätte das Geld zur Beschwichtigung des Juweliers gebraucht. Auf jeden Fall hatte sie so viele Möglichkeiten, es zu verwenden, dass gerade die Tatsache, dass die Summe unzureichend war, sie hatte so hoch spielen lassen, in der Hoffnung, das Geld verdoppeln zu können. Aber sie hatte natürlich verloren, sie, die jeden Penny brauchte, während Bertha Dorset, deren Ehemann seine Frau mit Geld geradezu überschüttete, mindestens fünfhundert eingesteckt hatte; und Judy Trenor, die es sich hätte leisten können, jede Nacht einen Tausender zu verlieren, war mit einer solchen Menge von Geldscheinen vom Tisch weggegangen, dass sie ihren Gästen nicht einmal die Hand geben konnte, als sie ihr Gutenacht sagten.

Eine Welt, in der solche Dinge geschehen konnten, empfand Lily Bart als einen erbärmlichen Ort, aber schließlich hatte sie die Gesetze eines Universums, das sie so bereitwillig aus seinen Berechnungen ausschloss, nie verstehen können.

Sie begann sich auszuziehen, ohne nach ihrer Zofe zu läuten, die sie zu Bett geschickt hatte. Lange genug war sie Sklavin des Vergnügens anderer Leute gewesen, als dass sie nicht rücksichtsvoll gegen diejenigen gewesen wäre, die von ihr abhängig waren; in Augenblicken der Erbitterung kam es ihr manchmal so vor, als seien ihre Zofe und sie in derselben Lage, nur dass Letztere ihren Lohn regelmäßiger erhielt.

Als sie vor dem Spiegel saß und ihr Haar kämmte, sah ihr Gesicht hohl und blass aus, und zwei kleine Linien neben ihrem Mund, kleine Bruchstellen in der weichen Rundung ihrer Wange, jagten ihr einen Schrecken ein.

»Oh, ich muss aufhören, mir Sorgen zu machen!«, rief sie aus. »Oder vielleicht ist es nur das elektrische Licht –«, überlegte sie, sprang von ihrem Sitz auf und zündete die Kerzen am Toilettentisch an.

Sie löschte die Wandlampen und betrachtete sich eingehend zwischen den Flammen der Kerzen. Das weiße Oval ihres Gesichtes verschwamm undeutlich gegen den dunklen Hintergrund, das unstete Licht verwischte es wie ein Schleier, aber die kleinen Linien um den Mund blieben.

Lily erhob sich und zog sich in aller Eile aus.

»Das ist nur, weil ich müde bin und über so widerwärtige Dinge nachdenken muss«, sagte sie sich immer wieder, und es kam ihr wie eine zusätzliche Ungerechtigkeit vor, dass solch kleinliche Sorgen eine Spur auf ihrer Schönheit hinterlassen sollten, die ihre einzige Verteidigung gegen eben diese Sorgen war.

Aber die Widerwärtigkeiten waren nun einmal da, und sie konnte nicht von ihnen loskommen. Müde wandte sie sich wieder dem Gedanken an Percy Gryce zu, so wie ein Wanderer seine schwere Last wieder aufnimmt und sich nach einer kurzen Pause weiterschleppt. Sie war sich fast sicher, dass sie ihn »erobert« hatte; noch ein paar Tage Arbeit und sie würde ihre Belohnung davontragen. Aber gerade jetzt erschien ihr dieser Lohn nicht sehr verlockend, sie konnte bei dem Gedanken an ihren Sieg keine Freude finden. Es würde nur eine Erholung von ihren Sorgen sein, mehr nicht – und wie wenig wert wäre ihr das noch vor ein paar Jahren erschienen: Ihre Ambitionen waren in der ausdörrenden Luft des Versagens immer kleiner geworden. Aber warum hatte sie versagt? War es ihr Fehler oder der des Schicksals gewesen?

Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter, nachdem sie ihr Vermögen verloren hatten, mit einer Art grimmiger Rachsucht zu sagen pflegte: »Aber du wirst alles zurückbekommen – du wirst alles zurückbekommen, mit deinem Gesicht …« Die Erinnerung rief in ihr eine ganze Reihe von Gedanken wach, und sie lag in der Dunkelheit und ließ die Vergangenheit, aus der ihre Gegenwart erwachsen war, wieder auferstehen.

Ein Haus, in dem niemand daheim das Essen einnahm, es sei denn man hatte eine »Gesellschaft«; eine ewig bimmelnde Türglocke; in der Empfangshalle ein Tisch, der mit quadratischen Umschlägen überhäuft war, die man in aller Eile öffnete, und mit länglichen, denen man erlaubte, in den Tiefen einer Bronzeschale zu verstauben; eine Reihe französischer und englischer Zofen, die ihre Kündigung mitten im Chaos eilig durchsuchter Kleiderschränke und Ankleidezimmer aussprachen; eine ebenso schnell wechselnde Dynastie von Kindermädchen und Bediensteten; Streitereien in Vorratskammer, Küche und Salon; überstürzte Reisen nach Europa und dann die Rückkehr mit vollgestopften Koffern und mit Tagen, an denen man endlos auspackte; halbjährige Diskussionen darüber, wo der Sommer verbracht werden sollte; graue Zeiten der Sparsamkeit und glanzvolle Zeiten des Geldausgebens – das war der Hintergrund von Lily Barts ersten Erinnerungen.

Über dieses turbulente Element, das den Namen »Zuhause« trug, herrschte die lebhafte und entschlossene Gestalt einer Mutter, noch jung genug, ihre Ballkleider zu Fetzen zu tanzen, während die verschwommenen Umrisse eines Vaters in eher neutralen Farben den Raum zwischen dem Butler und dem Mann einnahm, der kam, um die Uhren aufzuziehen. Sogar in ihren kindlichen Augen war Mrs. Hudson Bart jung erschienen, aber Lily konnte sich an keine Zeit erinnern, in der ihr Vater nicht kahlköpfig und leicht gebeugt gewesen wäre, mit grauen Strähnen im noch verbliebenen Haar und einem müden Gang. Es war ein Schock für sie, als sie später erfuhr, dass er nur zwei Jahre älter als ihre Mutter gewesen war.

Lily sah ihren Vater selten bei Tageslicht. Den ganzen Tag über war er »im Geschäft«, und im Winter war es lange nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sie seine erschöpften Schritte auf der Treppe und dann seine Hand an der Tür des Schulzimmers hörte. Er hatte sie gerade ganz still geküsst und das Kindermädchen oder die Erzieherin das eine oder andere gefragt, da kam auch schon Mrs. Barts Zofe, um ihn daran zu erinnern, dass er auswärts essen würde, und er ging – nach einem Nicken für Lily – eilig davon. Im Sommer, wenn er sich ihnen für einen Sonntag in Newport oder Southampton anschloss, schien er noch weiter weg und stiller als im Winter zu sein. Es sah so aus, als ermüde es ihn, wenn er sich ausruhen sollte, und er saß dann stundenlang da und starrte aus einer ruhigen Ecke der Veranda auf den Meereshorizont, während die Unruhe, die das Leben seiner Frau verbreitete, ein paar Meter entfernt unbeachtet weiterging. Im Allgemeinen fuhren Mrs. Bart und Lily jedoch den Sommer über nach Europa, und noch bevor das Dampfschiff die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, war Mr. Bart hinter dem Horizont verschwunden. Manchmal hörte seine Tochter, wie er dafür gerügt wurde, dass er nicht daran gedacht hatte, Mrs. Barts Uberweisung zu schicken, doch die meiste Zeit wurde er weder erwähnt, noch dachte man an ihn, bis seine geduldige, gebeugte Gestalt am Dock in New York auftauchte, um als Prellbock zwischen den ungeheuren Gepäckbergen seiner Frau und den Bestimmungen des amerikanischen Zolls zu fungieren.

Auf diese unstete und doch erregende Weise verbrachte Lily ihre Jugendjahre; im Zickzackkurs glitt das Familienschiff auf einem schnellen Strom der Vergnügungen dahin, hin und her gezogen von der Unterströmung eines ständigen Mangels – des Mangels an Geld. Lily konnte sich nicht an die Zeit erinnern, in der sie Geld genug gehabt hatten, und auf vage Art schien ihr Vater immer an dieser Unzulänglichkeit schuld zu sein. Es konnte jedenfalls mit Sicherheit nicht Mrs. Barts Fehler sein, von der ihre Freunde sagten, sie könne »wunderbar wirtschaften«. Mrs. Bart war berühmt für die unbegrenzten Wirkungen, die sie mit begrenzten Mitteln erzielte, und für die Dame selbst und für ihre Bekannten lag etwas Heroisches darin, so zu leben, als wäre man viel reicher, als es das Kontobuch verzeichnete.

Natürlich war Lily stolz auf die Tüchtigkeit ihrer Mutter in dieser Beziehung; sie war in dem Glauben erzogen worden, dass man, koste es, was es wolle, einen guten Koch haben und, wie Mrs. Bart es nannte, »anständig angezogen« sein musste. Mrs. Barts schlimmster Vorwurf ihrem Gatten gegenüber war die Frage, ob er denn erwarte, dass sie »im Dreck« leben sollten, und seine verneinende Antwort wurde immer als Rechtfertigung dafür angesehen, in Paris per Telegramm das eine oder andere zusätzliche Kleid zu bestellen und den Juwelier anzurufen, dass er schließlich doch das Türkisarmband schicken sollte, das Mrs. Bart sich am Morgen angesehen hatte.

Lily kannte Leute, die »im Dreck« lebten, und deren Erscheinung und Umgebung rechtfertigten den Widerwillen ihrer Mutter gegen eine solche Lebensform. Diese Leute waren meist Cousins, die in schäbigen Häusern wohnten, mit Kupferstichen nach Coles »Reise des Lebens«2 an den Wänden ihres Salons und schlampigen Hausmädchen, die »Ich werde nachsehen« zu den Besuchern sagten, die ihre Visite zu einer Stunde machten, in der alle anständigen Leute herkömmlicherweise oder auch wirklich ausgegangen waren. Das Widerwärtige an der Sache war, dass viele dieser Cousins reich waren, so dass in Lily die Vorstellung entstand, dass Leute, die im Dreck lebten, es aus freier Wahl taten und weil ihnen jegliches Anstandsniveau in ihrem Verhalten fehlte. Dies vermittelte ihr das Gefühl bewusster Überlegenheit, und Mrs. Barts Kommentare über die Vogelscheuchen und Geizhälse in der Familie waren nicht notwendig, um Lilys von Natur aus ausgeprägten Geschmack am Luxus zu fördern.

Lily war neunzehn, als die Umstände sie zwangen, ihre Weltsicht zu revidieren.

Im Jahr zuvor hatte sie ein glanzvolles Debüt gehabt, an dessen Rand allerdings eine schwere Gewitterwolke voller Rechnungen aufzog. Das Licht ihres Debüts hing noch am Horizont, aber die Wolke war dunkler geworden und plötzlich brach sie auf. Diese Plötzlichkeit verstärkte den Schrecken, und es gab noch immer Zeiten, in denen sie von neuem mit schmerzhafter Genauigkeit jede Einzelheit des Tages durchlebte, an dem der Schlag fiel. Sie und ihre Mutter hatten am Mittagstisch gesessen, vor ihnen das chaufroix3 und kalter Lachs vom Dinner des vergangenen Abends; es gehörte zu Mrs. Barts wenigen Einsparungen, im Familienkreis die teuren Überbleibsel ihrer Gastlichkeit zu verzehren. Lily empfand die angenehme Mattigkeit, welche die Strafe der Jugend dafür ist, bis zum Morgengrauen getanzt zu haben; ihre Mutter aber war trotz einiger Linien um den Mund und auf ihren Schläfen unter den blonden Haarwellen so munter, entschlossen und rosig, als ob sie nach ungestörtem Schlaf aufgestanden wäre.

In der Mitte des Tisches zwischen den schmelzenden marrons glacés4 und den kandierten Kirschen erhob eine Pyramide aus Rosen ihre kräftigen Stengel; die Blumen hielten ihre Köpfe so hoch wie Mrs. Bart, aber ihre rosarote Farbe hatte sich in verbrauchtes Lila verwandelt, und Lilys Sinn für das Angemessene wurde durch ihr Wiederauftauchen auf dem Mittagstisch verletzt.

»Ich finde wirklich, Mutter«, sagte sie vorwurfsvoll, »wir könnten uns zum Mittagessen ein paar frische Blumen leisten. Nur ein paar Narzissen oder Maiglöckchen –«

Mrs. Bart sah ausdruckslos vor sich hin. Ihre eigene Überempfindlichkeit richtete sich auf die Welt, und es war ihr gleichgültig, wie ihr Mittagstisch aussah, wenn niemand da war außer ihrer Familie. Aber sie lächelte über die Unschuld ihrer Tochter.

»Maiglöckchen«, sagte sie ruhig, »kosten zurzeit zwei Dollar das Dutzend.«

Lily war unbeeindruckt. Sie wusste sehr wenig vom Wert des Geldes.

»Wir würden nicht mehr als sechs Dutzend brauchen, um diese Schale zu füllen«, wandte sie ein.

»Sechs Dutzend wovon?«, fragte die Stimme ihres Vaters an der Türe.

Die zwei Frauen schauten erstaunt auf, denn, obwohl es Samstag war, war der Anblick von Mr. Bart zur Mittagszeit doch ungewohnt. Aber weder seine Frau noch seine Tochter waren interessiert genug, nach einer Erklärung zu fragen.

Mr. Bart ließ sich in einen Sessel fallen, saß da und starrte geistesabwesend auf ein Stück Lachs in Aspik, das der Butler ihm vorgesetzt hatte.

»Ich habe nur gesagt«, fing Lily wieder an, »dass ich es hasse, verwelkte Blumen auf dem Mittagstisch zu sehen, und Mutter sagt, ein Strauß Maiglöckchen würde nicht mehr als zwölf Dollar kosten. Darf ich dem Blumenhändler nicht sagen, er soll jeden Tag ein paar schicken?«

Sie wandte sich zuversichtlich an ihren Vater, denn er verweigerte ihr selten etwas, und Mrs. Bart hatte ihr beigebracht, ihn zu bitten, wenn ihre eigenen Bemühungen versagten.

Mr. Bart saß regungslos da, den Blick noch immer fest auf den Lachs gerichtet, sein Kinn hing schlaff nach unten; er sah sogar noch blasser aus als sonst, und sein dünnes Haar lag in unordentlichen Strähnen auf der Stirn. Plötzlich sah er seine Tochter an und lachte. Sein Lachen war so sonderbar, dass Lily darüber rot wurde; sie hatte es nicht gern, wenn man über sie lachte, und ihr Vater schien an ihrer Bitte irgendetwas lächerlich zu finden. Vielleicht fand er es dumm von ihr, ihn wegen einer solchen Kleinigkeit zu belästigen.

»Zwölf Dollar – zwölf Dollar pro Tag für Blumen? O natürlich, mein Liebes – bestelle doch gleich Blumen für zwölfhundert.« Er lachte noch immer.

Mrs. Bart warf einen kurzen Blick auf ihn.

»Sie brauchen nicht zu warten, Poleworth – ich werde nach Ihnen läuten«, sagte sie zum Butler.

Der Butler zog sich mit dem Ausdruck stiller Missbilligung zurück, die Reste des chaufroix ließ er auf dem Buffet stehen.

»Was ist los, Hudson? Bist du krank?«, sagte Mrs. Bart streng.

Sie hatte für Szenen, die nicht von ihr selbst gemacht wurden, nichts übrig, und sie fand es abscheulich von ihrem Gatten, dass er sich vor den Dienstboten eine solche Blöße gab.

»Bist du krank?«, wiederholte sie.

»Krank? – Nein, ich bin ruiniert«, sagte er.

Lily gab einen erschreckten Laut von sich, und Mrs. Bart stand auf.

»Ruiniert –?«, rief sie, doch sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt und schaute Lily mit ruhiger Miene an.

»Schließ die Tür zum Anrichteraum«, sagte sie.

Lily gehorchte, und als sie sich wieder umwandte, saß ihr Vater da, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den Teller mit Lachs dazwischen, und den Kopf auf die Hände gebeugt.

Mrs. Bart beugte sich über ihn, ihr Gesicht war weiß, was ihr Haar unnatürlich gelb erscheinen ließ. Als Lily näher kam, sah ihre Mutter sie an: Ihr Blick war zum Fürchten, aber sie gab ihrer Stimme einen gespenstisch heiteren Klang.

»Dein Vater fühlt sich nicht wohl – er weiß nicht mehr, was er sagt. Es ist weiter nichts, aber du gehst besser nach oben; und sprich nicht mit den Dienstboten darüber«, fügte sie hinzu.

Lily gehorchte; sie gehorchte immer, wenn ihre Mutter mit dieser Stimme sprach. Mrs. Barts Worte hatten sie nicht täuschen können, sie wusste gleich, dass sie ruiniert waren. In den dunklen Stunden, die dann folgten, überschattete diese schreckliche Tatsache sogar den langsamen und schweren Tod ihres Vaters. Für seine Frau zählte er nicht mehr, er hatte aufgehört für sie zu existieren, als er seinen Zweck nicht mehr erfüllte, und sie saß bei ihm mit der Unverbindlichkeit, die von einem Reisenden ausgeht, der darauf wartet, dass ein verspäteter Zug abfährt. Lilys Gefühle waren sanfter: Sie empfand Mitleid für ihn auf eine verängstigte und fruchtlose Weise. Aber die Tatsache, dass er die meiste Zeit über bewusstlos war, und dass seine Aufmerksamkeit, wenn sie ins Zimmer kam, nach einem Moment von ihr wegglitt, ließen ihn noch fremder erscheinen als zu ihrer Kinderzeit, in der er immer erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkehrte. Es kam ihr vor, als habe sie ihn immer durch einen Nebel gesehen, zuerst durch den der Schläfrigkeit, dann den der Entfernung und Gleichgültigkeit, und jetzt war der Nebel so dicht geworden, dass ihr Vater kaum noch zu erkennen war. Wenn sie ihm irgendwelche kleinen Dienste hätte erweisen können, oder wenn sie mit ihm einige der rührenden Worte hätte wechseln können, die sie aufgrund ausgedehnter Romanlektüre mit solchen Situationen in Verbindung brachte, wäre der töchterliche Instinkt in ihr vielleicht erwacht, aber weil ihr Mitleid keine Möglichkeit fand, sich aktiv auszudrücken, blieb es im Stadium des Zuschauens, vom grimmigen, nie erlahmenden Groll ihrer Mutter überschattet. Jeder Blick von Mrs. Bart und alles, was sie tat, schien zu sagen: »Jetzt tut er dir leid – aber du wirst noch anders denken, wenn du erfährst, was er uns angetan hat.«

Für Lily war es eine Erleichterung, als ihr Vater starb.

Dann setzte ein langer Winter ein. Es war ihnen noch ein wenig Geld geblieben, aber für Mrs. Bart war das schlimmer, als wenn sie gar keines mehr gehabt hätten – der reine Hohn, verglichen mit dem, was ihnen zustehe. Welchen Sinn hatte das Leben schon, wenn sie doch im Dreck leben mussten? Sie versank in eine Art wütender Apathie, einen Zustand reglosen Zorns gegen ihr Schicksal. Ihre besondere Fähigkeit »wirtschaften« zu können ließ sie im Stich, oder sie legte nicht mehr genügend Stolz darein, sich darum zu bemühen. Es war gut und schön zu »wirtschaften«, wenn man damit erreichte, einen eigenen Wagen halten zu können, aber wenn die allergrößte Findigkeit die Tatsache nicht verbergen konnte, dass man zu Fuß gehen musste, lohnte sich die Mühe nicht mehr.

Lily und ihre Mutter wanderten von Ort zu Ort, entweder machten sie ausgedehnte Besuche bei Verwandten, deren Haushaltung Mrs. Bart kritisierte, während sie es sehr beklagten, dass Mrs. Bart Lily erlaubte, im Bett zu frühstücken, wo das Mädchen doch so wenig Aussichten hatte, oder sie verbrachten öde Wochen in billigen Pensionen auf dem Kontinent, wo Mrs. Bart sich mit wilder Entschlossenheit von den einfachen Mahlzeiten ihrer Gefährten im Unglück fernhielt. Besonders sorgfältig mied sie ihre alten Freunde und die Orte ihrer früheren gesellschaftlichen Erfolge. Armut schien ihr solch ein Eingeständnis des Versagens zu sein, dass sie im Grunde eine Schande war, und sie entdeckte in der freundlichsten Annäherung einen Anklang von Triumph über ihr Unglück.

Nur eines tröstete sie, und das war die Betrachtung von Lilys Schönheit. Sie studierte diese mit einer Art Leidenschaft, so, als ob sie eine Waffe wäre, die sie langsam für ihre Rache geschmiedet hatte. Lilys Schönheit war der letzte Posten ihres Vermögens, das Kernstück, um das herum ihr Leben wieder aufgebaut werden sollte. Mrs. Bart wachte eifersüchtig über sie, als ob sie ihr eigener Besitz wäre und Lily bloß so etwas wie ein Verwalter; die Mutter bemühte sich der Tochter ein Gefühl der Verantwortung einzuprägen, das ein solches Gut verlangte. Sie verfolgte im Stillen die Laufbahn anderer Schönheiten, machte ihre Tochter darauf aufmerksam, was man mit einer solchen Gabe erreichen konnte, und hielt sich lange bei den warnenden Beispielen derjenigen auf, die es trotz ihrer Schönheit nicht vermocht hatten, das zu bekommen, was sie wollten; für Mrs. Bart konnte nur Dummheit das beklagenswerte Ende einiger dieser Beispiele erklären. Sie selbst war nicht darüber erhaben, inkonsequent zu sein und das Schicksal, nicht sich selbst, für ihr eigenes Unglück verantwortlich zu machen; aber sie wetterte so scharfzüngig gegen Liebesheiraten, dass Lily glauben mochte, ihre Heirat sei eine solche gewesen, hätte Mrs. Bart ihr nicht oftmals versichert, dass sie dazu »überredet« worden sei – von wem erklärte sie nie.

Lily war gehörig beeindruckt vom Umfang ihrer Möglichkeiten. Die Schäbigkeit ihres gegenwärtigen Lebens verlieh der Existenz, auf die sie, wie sie fand, ein Anrecht hatte, einen tröstlichen Zauber. Einer weniger klaren Intelligenz hätten Mrs. Barts Ratschläge gefährlich werden können, aber Lily hatte begriffen, dass Schönheit nur das Rohmaterial für Eroberungen war, und dass andere Künste vonnöten waren, wollte man damit Erfolge erzielen. Sie wusste, dass es eine subtilere Form der von ihrer Mutter so heftig kritisierten Dummheit gewesen wäre, Überheblichkeit zu zeigen, und sie brauchte nicht lange, um zu lernen, dass eine Schönheit mehr Taktgefühl braucht als die Besitzer eher durchschnittlicher Gesichtszüge.

Ihre Ambitionen waren weniger krude als die von Mrs. Bart. Ein Grund zur Klage war es für diese Dame unter anderem gewesen, dass ihr Gatte – in den ersten Tagen ihrer Ehe, bevor er zu müde für dergleichen war – seine Abende damit verschwendet hatte, »Gedichte zu lesen«, wie sie es vage beschrieb, und unter den Habseligkeiten, die nach seinem Tode in aller Eile zur Auktion weggeschickt wurden, waren ein oder zwei Dutzend abgegriffener Bände gewesen, die zwischen Stiefeln und Medizinflaschen in den Regalen seines Ankleidezimmers um ihre Existenz gekämpft hatten. Lily besaß eine gefühlvolle Ader, die sie vielleicht aus dieser Quelle mitbekommen hatte und die sogar ihren alltäglichsten Vorhaben einen Anflug von Idealisierung gab. Sie sah ihre Schönheit gern als eine Kraft für das Gute an, als etwas, das ihr Gelegenheit gab, eine Position zu erreichen, in der sie ihren Einfluss zur Verbreitung von Vornehmheit und gutem Geschmack fühlbar machen könnte. Sie liebte Bilder und Blumen und auch gefühlvolle Romane, und es war unvermeidlich, dass sie glaubte, ihr Verlangen nach weltlichen Vorteilen würde durch solche Neigungen veredelt. Sie hatte kein Interesse daran, einen Mann zu heiraten, der weiter nichts als reich war; im Geheimen schämte sie sich wegen der geschmacklosen Leidenschaft ihrer Mutter für Geld. Am liebsten wäre Lily ein englischer Adliger gewesen mit politischen Ambitionen und riesigen Ländereien, oder am zweitliebsten, ein italienischer Prinz mit einem Schloss im Apennin und einem ererbten Amt im Vatikan. Gerade aussichtslose Fälle hatten einen romantischen Reiz für sie, und sie stellte sich gern vor, wie sie sich abseits hielt von der vulgären Hast des Quirinals5 und alles, was ihr Vergnügen bereitete, im Dienste einer unvordenklichen Tradition opferte …

Wie lange her und wie weit entfernt ihr all das erschien! Jene ehrgeizigen Pläne waren kaum weniger sinnlos und kindisch gewesen als die Wünsche ihrer Kinderzeit, die sich auf den Besitz einer französischen Gliederpuppe mit echtem Haar gerichtet hatten. War es nur zehn Jahre her, dass sie in ihren Vorstellungen zwischen einem englischen Earl und einem italienischen Prinzen geschwankt hatte? Unnachgiebig ging sie in Gedanken noch einmal dieser trostlosen Zeit nach …

Nach zwei Jahren hungrigen Umherwanderns war Mrs. Bart gestorben – gestorben an einem tiefen Ekel. Sie hasste alles Schäbige, und ihr Schicksal war es, selbst schäbig zu leben. Ihre Vorstellungen von einer glänzenden Heirat für Lily waren nach dem ersten Jahr verblasst.

»Man kann dich nicht heiraten, wenn man dich nicht sieht – und wie kann dich jemand sehen in diesen Löchern, in denen wir festsitzen?« So lautete die ganze Last ihrer Klage, und ihre letzte dringende Bitte an die Tochter war, dem schäbigen Leben zu entkommen, wenn sie nur irgend könnte.

»Lass es nicht an dir hochkriechen und dich in die Tiefe reißen. Kämpfe dich irgendwie da heraus – du bist jung und kannst es schaffen«, insistierte sie.

Sie war während einer ihrer kurzen Besuche in New York gestorben, und dort wurde Lily gleich zum Hauptgesprächsgegenstand eines Familienrates, den ihre reichen Verwandten einberufen hatten, die man sie verachten gelehrt hatte, weil sie im Dreck lebten. Vielleicht hatten diese Verwandten eine leise Ahnung von den Gefühlen, zu denen man sie erzogen hatte, denn keiner von ihnen zeigte ein sehr lebhaftes Verlangen nach ihrer Gesellschaft. In der Tat stand sogar zu befürchten, dass diese Frage ungelöst bleiben würde, bis Mrs. Peniston mit einem Seufzer verkündete: »Ich werde es für ein Jahr mit ihr versuchen.«

Jedermann war überrascht, aber alle verbargen ihre Überraschung, damit Mrs. Peniston nicht verunsichert würde und sich ihre Entscheidung noch einmal überlegen wollte.

Mrs. Peniston war Mr. Barts verwitwete Schwester, und wenn sie auch keineswegs die reichste in der Familie war, fanden die anderen Familienmitglieder doch Gründe genug, warum die Vorsehung ganz eindeutig sie dazu auserwählt habe, die Sorge für Lily zu übernehmen. Zum Ersten war sie alleinstehend, und es würde doch reizend für sie sein, eine junge Gefährtin zu haben. Zum Zweiten reiste sie manchmal, und Lilys vertrauter Umgang mit fremden Sitten – von ihren konservativeren Verwandten als Unglück beklagt – würde sie zumindest in die Lage versetzen, als eine Art Reiseführer zu fungieren. Aber in Wahrheit war Mrs. Peniston von diesen Überlegungen nicht beeinflusst worden. Sie hatte das Mädchen nur aufgenommen, weil sonst niemand es haben wollte und weil sie von einer falschen Scham geleitet wurde, welche die öffentliche Zurschaustellung von Selbstsucht schwierig machte, wenn sie auch nicht verhinderte, dieser im Privaten nachzugeben. Es wäre für Mrs. Peniston unmöglich gewesen, auf einer einsamen Insel heroisch zu handeln, aber wenn die Augen ihrer kleinen Welt auf sie gerichtet waren, empfand sie ein gewisses Vergnügen an einer solchen Tat.

Sie erntete jedoch den Lohn, auf den Selbstlosigkeit einen berechtigten Anspruch hat, und bekam eine angenehme Gefährtin in ihrer Nichte. Sie hatte erwartet, Lily halsstarrig, kritisch und »fremdländisch« zu finden – denn sogar Mrs. Peniston, die doch dann und wann ins Ausland fuhr, hatte die Furcht der ganzen Familie vor Ausländischem –, aber das Mädchen zeigte eine Fügsamkeit, die jemandem mit mehr Scharfsinn, als ihre Tante ihn bewies, weniger beruhigend erschienen wäre als die offene Selbstsucht der Jugend. Ihr Unglück hatte Lily geschmeidig gemacht, statt sie zu verhärten, und biegsames Material ist weniger leicht zu zerbrechen als festes.

Mrs. Peniston hatte jedoch unter der Anpassungsfähigkeit ihrer Nichte nicht zu leiden. Lily hatte nicht die Absicht, Vorteile aus der Gutartigkeit ihrer Tante zu ziehen. Sie war ehrlich dankbar für die Zuflucht, die sich ihr bot, Mrs. Penistons wohlhabende Einrichtung war zumindest äußerlich nicht schäbig. Aber das Schäbige ist eine Eigenschaft, die sich auf alle mögliche Art und Weise tarnt, und Lily fand bald heraus, dass es in der teuren Routine, aus der das Leben ihrer Tante bestand, ebenso lauerte wie in dem improvisierten Leben in einer Pension auf dem Kontinent.

Mrs. Peniston war eine jener Randfiguren, die dem Leben eine gewisse Polsterung geben. Es war unmöglich, sich vorzustellen, sie hätte jemals im Zentrum irgendwelcher Aktivitäten gestanden. Das Interessanteste an ihr war die Tatsache, dass ihre Großmutter eine Van Alstyne gewesen war. Diese Verbindung mit den wohlgenährten und fleißigen Familien der frühen New Yorker Zeit verriet sich in der kalten Sauberkeit von Mrs. Penistons Salon und ihrer hervorragenden Küche. Sie gehörte zu jener Klasse von New Yorkern, die immer gut gelebt, sich teuer gekleidet und sonst sehr wenig getan hatte, und diesen ererbten Verpflichtungen kam Mrs. Peniston getreulich nach. Sie hatte immer dem Leben zugeschaut, und ihr Geist ähnelte einem der kleinen Spiegel, die ihre niederländischen Ahnen am Oberlicht ihrer Fenster anzubringen pflegten, so dass sie aus den Tiefen ihrer unergründlichen Häuslichkeit sehen konnten, was sich auf der Straße zutrug.

Mrs. Peniston gehörte ein Landsitz in New Jersey, aber sie hatte sich dort seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr aufgehalten – einem weit zurückliegenden Ereignis, das in ihrem Gedächtnis hauptsächlich als Scheidepunkt der persönlichen Erinnerungen zu existieren schien, die den Hauptgegenstand ihrer Unterhaltung darstellten. Sie war eine Frau, die sich mit großer Intensität an Daten erinnerte, und konnte, ohne viel zu überlegen, sagen, ob die Vorhänge im Salon vor oder nach Mr. Penistons letzter Krankheit erneuert worden waren.

Mrs. Peniston fand das Landleben einsam, fand Bäume feucht und hegte eine vage Furcht davor, mit einem Stier zusammenzutreffen. Um sich vor solch unangenehmen Zufällen zu schützen, besuchte sie meist die stärker bevölkerten Badeorte, wo sie sich möglichst unpersönlich in einem gemieteten Haus niederließ und dem Leben durch den schützenden Zierrahmen ihrer Veranda zuschaute. Lily wurde sehr bald klar, dass sie bei einem solchen Vormund nur die rein materiellen Vorzüge guten Essens und teurer Kleidung genießen würde, und wenn sie solches auch wahrhaftig nicht unterschätzte, so hätte sie dies doch liebend gern gegen das eingetauscht, was Mrs. Bart sie gelehrt hatte, als ihre »Chancen« anzusehen. Sie musste seufzen, wenn sie daran dachte, was die verbissene Energie ihrer Mutter vollbracht hätte, wäre sie mit Mrs. Penistons Mitteln gepaart gewesen. Lily verfügte selbst über ausreichende Energie, aber diese wurde von der Notwendigkeit, sich den Gewohnheiten ihrer Tante anzupassen, in Schranken gehalten. Sie wusste, dass sie sich Mrs. Penistons Wohlwollen erhalten musste, koste es, was es wolle, bis sie, wie Mrs. Bart es ausgedrückt hätte, auf eigenen Beinen würde stehen können. Lily hatte für das Vagabundenleben einer armen Verwandten nichts übrig, und um sich Mrs. Peniston anzupassen, musste sie bis zu einem gewissen Grade die passive Haltung dieser Dame annehmen. Sie hatte zunächst geglaubt, es würde leicht sein, ihre Tante in den Wirbel ihrer eigenen Aktivitäten einzubeziehen, aber in Mrs. Peniston war eine statische Kraft, an der sich die Bemühungen ihrer Nichte umsonst verausgabten. Der Versuch, in ihr eine aktive Einstellung zum Leben zu wecken, war wie das Ziehen an einem Möbelstück, das fest am Boden verschraubt war. Sie erwartete keineswegs von ihrer Nichte, ebenso unbeweglich zu bleiben, nein, sie hatte die ganze Nachsicht des amerikanischen Vormundes für die Lebhaftigkeit der Jugend. Sie hatte auch Nachsicht mit gewissen anderen Gewohnheiten ihrer Nichte. Es erschien ihr selbstverständlich, dass Lily all ihr Geld für Kleidung ausgab, und sie besserte das geringe Vermögen des Mädchens durch gelegentliche »großzügige Geschenke« auf, die für eben diesen Zweck bestimmt waren. Lily, die ausgesprochen praktisch veranlagt war, hätte eine feste Zuteilung vorgezogen, aber Mrs. Peniston schätzte das periodische Wiederaufleben von Dankbarkeit, das die unerwarteten Schecks hervorriefen, und war vielleicht auch gewitzt genug zu erkennen, dass eine solche Methode zu schenken in ihrer Nichte ein heilsames Gefühl der Abhängigkeit wachhielt.

Darüber hinaus hatte sich Mrs. Peniston nicht verpflichtet gefühlt, etwas für ihre Pflegetochter zu tun; sie war einfach beiseite getreten und hatte ihr das Feld überlassen. Lily hatte es übernommen, zunächst mit dem Selbstvertrauen des Besitzers, dann mit nach und nach geringer werdenden Forderungen, bis sie jetzt entdeckte, dass sie wahrhaftig um einen letzten Fußbreit des weiten Feldes kämpfte, das einmal, wenn sie nur gewollt hätte, ihr eigenes geworden wäre. Wie das geschehen war, wusste sie noch nicht. Manchmal dachte sie, es war so, weil Mrs. Peniston sich zu passiv verhalten hatte, dann wieder fürchtete sie, es war so, weil sie selbst nicht abwartend genug gewesen war. Hatte sie einen unangemessenen Siegesdrang gezeigt? Hatte es ihr an Geduld, Anpassungsfähigkeit und Verstellungskunst gefehlt? Ob sie sich diese Fehler nun vorwarf oder sich von ihnen freisprach, machte keinen Unterschied in der Endsumme ihres Versagens. Jüngere und weniger hübsche Mädchen hatte man schon zu Dutzenden verheiratet, und sie war neunundzwanzig und noch immer Miss Bart.

Es kam nun vor, dass sie Anfälle zornigen Aufbegehrens gegen ihr Schicksal durchlebte, wenn sie ein Verlangen verspürte, aus dem Rennen auszusteigen und sich ein unabhängiges eigenes Leben aufzubauen. Aber was für ein Leben konnte das sein? Sie hatte kaum Geld genug, ihre Schneiderrechnungen und ihre Spielschulden zu bezahlen, und keine der vagen Interessen, die sie mit der schönen Bezeichnung »Neigungen« aufwertete, war ausgeprägt genug, ihr ein friedliches, ruhiges Leben zu ermöglichen. Ach nein – sie war zu intelligent, um mit sich selbst nicht ehrlich zu sein. Sie wusste, dass sie alles Schäbige hasste, genauso sehr wie ihre Mutter es gehasst hatte, und sie wollte bis zum letzten Atemzug dagegen ankämpfen, sie wollte sich immer und immer wieder gegen seine Flut aufrichten, bis sie die hellen Gipfel des Erfolgs, die ihrem Griff so oft entglitten waren, erreicht haben würde.

Das Haus der Freude

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