Читать книгу Das Haus der Freude - Edith Wharton - Страница 9

VI

Оглавление

Es war ein vollkommener Nachmittag. Eine tiefere Stille erfüllte jetzt die Luft, und der strahlende Glanz des amerikanischen Herbstes wurde durch einen Dunstschleier gemildert, der sich mit der Helligkeit vermischte, ohne sie zu vermindern.

In den waldigen Niederungen des Parks begann es schon ein wenig kühl zu werden, aber mit ansteigendem Gelände wurde die Luft leichter, und als sie die weiten Hänge auf der anderen Seite der großen Straße hinaufstiegen, erreichten Lily und ihr Begleiter einen Bereich, in dem der Sommer noch lebendig war. Ihr Weg wand sich durch eine Wiese, auf der hier und dort ein paar Bäume standen, dann senkte er sich und wurde zu einem Durchgang zwischen fedrigen Astern und sich purpurrot verfärbendem Dornengesträuch, von wo aus man durch das leise zitternde Eschenlaub hindurch die Landschaft in pastoralen Farben sich verlieren sehen konnte.

Weiter oben umstanden den Weg üppige Büsche von Farnkraut und den glatten Bodenpflanzen, die man auf beschatteten Abhängen findet; dann kamen Bäume mit überhängendem Geäst, und schließlich vertiefte sich der Schatten zum wechselnden Dämmer eines Birkenhains. Die Baumstämme standen in ziemlicher Entfernung voneinander, zwischen ihnen lag nur ein zartfedriger Teppich aus Bodengewächsen. Der Weg wand sich am Waldesrand entlang, gab dann und wann den Blick frei auf eine Wiese im Sonnenlicht oder auf einen Obstgarten, der mit Früchten übersät war.

Lily verfügte nicht über ein echtes Gefühl der Vertrautheit mit der Natur, aber sie hatte geradezu eine Leidenschaft für das Angemessene und war überaus empfänglich für eine Szenerie, die den passenden Hintergrund für ihre eigenen Gefühle abgab. Die Landschaft, die sich vor ihr ausbreitete, erschien ihr wie die Erweiterung ihrer gegenwärtigen Stimmung, und sie fand etwas von ihrem eigenen Wesen in der Ruhe, der Größe, der freien Weitläufigkeit der Landschaft. Auf den näher gelegenen Hängen flackerten Zuckerahornbäume wie Freudenfeuer, weiter unten lag eine Ansammlung grauer Obstgärten, und da und dort hielt sich noch das Grün eines Eichenhains. Ein paar rote Bauernhäuser lagen schläfrig unter Apfelbäumen, und der weiße Holzturm einer Dorfkirche lugte hinter der Schulter eines Hügels hervor, während ganz weit unten in einem Dunstschleier sich die Hauptstraße ihren Weg zwischen den Feldern bahnte.

»Kommen Sie, setzen wir uns hier hin«, schlug Selden vor, als sie einen offenen Felsvorsprung erreicht hatten, über dem zwischen moosigen Steinen hoch und steil die Birken wuchsen.

Lily ließ sich auf dem Felsen nieder; sie glühte warm von dem langen Aufstieg. Still saß sie da, ihre Lippen noch geöffnet von der Anstrengung der Kletterei, während ihre Augen friedlich über die durchbrochenen Weiten der Landschaft wanderten. Selden streckte sich zu ihren Füßen im Gras aus, er zog seinen Hut in die Stirn wegen der schrägfallenden Sonnenstrahlen und faltete die Hände hinter seinem Kopf, an die Seite des Felsblocks gelehnt. Er hatte kein Bedürfnis, Lily zum Reden zu bringen; ihre schnellatmende Schweigsamkeit schien ein Teil der allgemeinen Ruhe und Harmonie der Welt um sie herum zu sein. Sein eigener Kopf war ganz von einem trägen Gefühl des Wohlbehagens erfüllt, das einen Schleier auf seine Empfindungen legte, genauso wie der Septemberdunst die Landschaft zu seinen Füßen in Schleier hüllte. In Lily aber, obwohl ihre Haltung so ruhig war wie die seine, raste innerlich ein Sturm von Gedanken. Im Augenblick gab es zwei Wesen in ihr, das eine atmete die Freiheit und Heiterkeit ein, das andere schnappte in einem beengten schwarzen Gefängnis nach Luft. Aber das Luftschnappen dieses Gefangenen wurde immer schwächer, und schließlich beachtete das andere Wesen ihn nicht weiter: Der Horizont weitete sich, die Luft wurde kräftiger, und der freie Geist schwang die Flügel gen Himmel.

Sie selbst hätte dieses Gefühl der Lebensfreude nicht erklären können, das sie über die sonnendurchflutete Welt zu ihren Füßen emporzuheben schien. War es Liebe, fragte sie sich, oder bloß die zufällige Verbindung von glücklichen Gedanken und Empfindungen? Wie viel davon hatte sie nur dem Zauber des vollkommenen Nachmittags zu verdanken, dem Duft der verblassenden Wälder, dem Gedanken an all das Öde, dem sie entkommen war? Lily hatte keine eindeutigen Erfahrungen, mit deren Hilfe sie die Beschaffenheit ihrer Gefühle hätte prüfen können. Sie hatte sich zwar schon des Öfteren in Schicksale oder Karrieren verliebt, aber nur einmal in einen Mann. Das war schon Jahre her; zur Zeit ihres Debüts war sie von einer romantischen Leidenschaft für einen jungen Herrn namens Herbert Melson ergriffen gewesen, er hatte blaue Augen gehabt und eine leichte Welle im Haar. Mr. Melson, der über keine weiteren verwertbaren Sicherheiten als diese zwei verfügte, hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sie zur Eroberung der ältesten Miss Van Osburgh zu verwenden; seit dieser Zeit war er füllig geworden, schnaufte und hatte die üble Angewohnheit, Anekdoten von seinen Kindern zu erzählen. Wenn Lily sich an dieses erste Gefühl erinnerte, war es nicht um einen Vergleich anzustellen zu dem, das sie jetzt beherrschte; das einzig Vergleichbare war das Gefühl von Leichtigkeit, von Befreiung, das sie auch während der kurzen Zeit ihrer jugendlichen Romanze im Wirbel des Walzers oder der Abgeschiedenheit eines Wintergartens empfunden hatte. Bis zum heutigen Tag hatte sie diese Leichtigkeit, dieses Leuchten der Freiheit nicht wieder gekannt, aber diesmal war es mehr als das blinde Suchen des Blutes. Der besondere Zauber ihrer Gefühle für Selden lag darin, dass sie diese verstand; sie hätte ihren Finger auf jedes Glied der Kette legen können, die sie und ihn immer enger verband. Obwohl seine Beliebtheit von der ruhigen Art war, von seinen Freunden eher gefühlt als aktiv ausgedrückt, hatte sie nie den Fehler begangen, seine unauffällige Art für einen Mangel an Bedeutsamkeit zu halten. Sein Ruf, gebildet zu sein, wurde im Allgemeinen als ein gewisses Hindernis im Umgang mit ihm betrachtet, aber Lily, die stolz auf ihre liberale Hochschätzung der Literatur war und immer einen Omar Khayam9 in ihrer Reisetasche hatte, wurde von dieser Eigenschaft gerade angezogen, deren Vorzüge in einer Gesellschaft mit älteren Traditionen, das sagte ihr ihr Gefühl, eher anerkannt worden wären. Darüber hinaus besaß er die Gabe, seiner Rolle gemäß auszusehen, groß genug zu sein, um den Kopf höher als die Menge tragen zu können, und scharf geschnittene, dunkle Gesichtszüge zu haben, die ihm in einem Land eher ungeformter Menschentypen den Ausdruck von jemandem verliehen, der einer reiner ausgeprägten Rasse angehörte und die Merkmale einer einheitlichen Vergangenheit trug. Überschwängliche Menschen fanden ihn ein wenig nüchtern, und sehr junge Mädchen hielten ihn für sarkastisch, aber seine freundlich-distanzierte Haltung, so weit wie nur irgend möglich davon entfernt, einen persönlichen Vorteil geltend zu machen, war gerade die Eigenschaft, die Lilys Interesse erregte. Alles an ihm kam dem wählerischen Element in ihrem Geschmack entgegen, sogar die leichte Ironie, mit der er all das betrachtete, was ihr als das Heiligste erschien. Vielleicht bewunderte sie ihn am meisten dafür, dass er ein ebenso ausgeprägtes Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln wusste wie der reichste Mann, den sie je getroffen hatte.

Es war das unbewusste Weiterspinnen dieses Gedankens, das sie plötzlich mit einem Lachen sagen ließ: »Ich habe heute Ihretwegen zwei Verabredungen abgesagt. Und Sie, wie viele haben Sie um meinetwillen abgesagt?«

»Keine«, sagte Selden ruhig. »Meine einzige Verabredung auf Bellomont galt Ihnen.«

Sie blickte zu ihm herunter und lächelte ein wenig.

»Sind Sie wirklich nach Bellomont gekommen, um mich wiederzusehen?«

»Natürlich bin ich das.«

Sie blickte tief in Gedanken versunken vor sich hin. »Warum?«, fragte sie leise, mit einer Betonung, die der Frage jeden Anflug von Koketterie nahm.

»Weil Sie für mich ein wunderbares Schauspiel sind; ich sehe immer wieder gern, was Sie gerade so treiben.«

»Woher wollen Sie denn wissen, was ich tun würde, wenn Sie nicht da wären?«

Selden lächelte. »Ich schmeichle mir nicht, dass mein Kommen den Gang Ihrer Handlungen auch nur um Haaresbreite verändert hätte.«

»Das ist doch absurd – denn, wenn Sie nicht hier wären, könnte ich ja wohl offensichtlich nicht mit Ihnen spazieren gehen.«

»Nein, aber der Spaziergang mit mir ist nur eine andere Art, Ihr Material einzusetzen. Sie sind eine Künstlerin, und ich bin nun einmal die Farbe, von der Sie heute Gebrauch machen. Es gehört zu Ihrer Klugheit, mit Vorbedacht gewählte Effekte wie improvisiert einzusetzen.«

Auch Lily musste lächeln, seine Worte waren zu geistreich, als dass sie ihren Sinn für Humor nicht angesprochen hätten. Es war wahr, dass sie seine zufällige Anwesenheit für ihr Vorhaben ausnutzen wollte, oder das war zumindest der Vorwand, den sie sich zurechtgelegt hatte, um ihr Versprechen, mit Mr. Gryce einen Spaziergang zu machen, nicht einlösen zu müssen. Man hatte ihr so manches Mal vorgeworfen, sie sei zu ungeduldig; sogar Judy Trenor hatte sie gewarnt, nicht zu schnell vorzugehen. Nun gut, in diesem Fall würde sie nicht voreilig sein; sie würde ihren Verehrer das Gefühl der Spannung auskosten lassen. Wo Pflicht und eigene Vorlieben so schön zusammenfielen, lag es nicht in Lilys Natur, sie gewaltsam auseinanderzuhalten. Sie hatte ihr Fernbleiben von diesem Spaziergang mit Kopfweh entschuldigt, mit eben dem schrecklichen Kopfweh, das sie am Morgen schon nicht hatte zur Kirche gehen lassen. Und ihr Erscheinen beim Mittagessen rechtfertigte ihre Entschuldigung. Sie wirkte matt, voll leidender Sanftheit und trug ein Riechfläschchen in der Hand. Mr. Gryce waren solche Zeichen der Schwäche völlig neu an ihr; er fragte sich ziemlich nervös, ob sie wohl eine delikate Gesundheit habe, und hegte reichlich voreilige Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft seiner Nachkommenschaft. Aber sein Mitgefühl siegte für dieses Mal, und er bat sie dringend, sich keinen Unbilden der Witterung auszusetzen; er verband frische Luft immer mit gefährlichem Ausgesetztsein.

Lily nahm sein Mitgefühl mit matter Dankbarkeit entgegen und drängte ihn, wo sie doch so wenig amüsante Gesellschaft abgeben würde, sich den anderen anzuschließen, die nach dem Mittagessen sich zu einem Besuch im Automobil zu den Van Osburghs nach Peekskill aufmachen wollten. Mr. Gryce war gerührt von ihrer Selbstlosigkeit, und um der drohenden Leere des Nachmittags zu entgehen, war er ihrem Ratschlag gefolgt und traurig davongefahren, ausgerüstet mit Staubhaube und riesiger Schutzbrille; als der Wagen die Allee hinunterfuhr, musste sie lächeln, so sehr glich er einem verwirrten Käfer in diesem Aufzug.

Selden hatte ihre List mit trägem Amüsement beobachtet. Sie hatte ihm auf seinen Vorschlag, den Nachmittag zusammen zu verbringen, keine Antwort gegeben, aber als ihre Pläne sich vor seinen Augen entfalteten, nahm er mit ziemlicher Sicherheit an, in diese eingeschlossen zu sein. Das Haus war leer, als er endlich ihre Schritte auf der Treppe hörte und langsam aus dem Billardzimmer kam, um sich ihr anzuschließen. Sie trug einen Hut und ein Kleid zum Spazierengehen, und die Hunde sprangen um ihre Füße herum.

»Ich fand dann doch, dass ein wenig frische Luft mit guttun würde«, erklärte sie, und er meinte zustimmend, ein so einfaches Heilmittel wäre sicher einen Versuch wert.

Die Ausflügler würden mindestens vier Stunden unterwegs sein; Lily und Selden hatten den ganzen Nachmittag vor sich, und das Gefühl von freier Zeit und Sicherheit machte die Heiterkeit ihrer Stimmung vollkommen. Mit so viel Zeit sich zu unterhalten, ohne ein festgesetztes Thema ansprechen zu müssen, konnte Lily einmal die seltenen Freuden geistigen Vagabundentums genießen.

Sie fühlte sich so vollkommen frei von Hintergedanken, dass sie seine Andeutungen ein wenig unwillig aufnahm.

»Ich weiß wirklich nicht«, sagte sie, »warum Sie mir immer vorwerfen, ich würde alles im Voraus planen.«

»Ich dachte, Sie hätten sich selbst dazu bekannt; Sie haben mir doch neulich erzählt, Sie müssten auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten – und wenn man eine Sache in Angriff nimmt, dann ist es doch eher ein Verdienst, sie gründlich zu betreiben.«

»Wenn Sie damit meinen, dass ein Mädchen, das niemanden hat, der für es denkt, das wohl oder übel selber tun muss, bin ich durchaus bereit, Ihren Vorwurf anzuerkennen. Aber Sie müssen mich ja für eine grässliche Person halten, wenn Sie glauben, ich würde nie einem spontanen Einfall nachgeben.«

»Ach, aber das glaube ich doch gar nicht; habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Ihr Genie gerade darin liegt, Impulse zu Intentionen zu machen?«

»Mein Genie?«, wiederholte sie mit einem plötzlichen Anflug von Traurigkeit. »Gibt es überhaupt einen endgültigen Beweis für Genie außer den Erfolg? Und ich habe mit Sicherheit bisher keinen gehabt.«

Selden schob seinen Hut zurück und blickte sie von der Seite her an. »Erfolg – was ist Erfolg? Ich wäre sehr daran interessiert, Ihre Definition zu hören.«

»Erfolg?« Sie zögerte. »Nun, so viel wie möglich aus dem Leben herauszuholen, nehme ich an. Schließlich und endlich ist das eine relative Angelegenheit. Entspricht das nicht Ihrer Vorstellung von Erfolg?«

»Meiner Vorstellung? Um Himmels willen, nein!« Er setzte sich plötzlich voll Energie auf, lehnte seinen Ellbogen auf die Knie und starrte auf die weichen Linien der Felder. »Meine Vorstellung von Erfolg«, sagte er, »heißt persönliche Unabhängigkeit.«

»Unabhängigkeit? Unabhängigkeit von Sorgen?«

»Von allem – von Geld, von Armut, von Luxus und Bedrängnis, von allen materiellen Zufällen. Sich eine Art Republik des Geistes zu erhalten – das nenne ich Erfolg.«

Sie beugte sich vor und antwortete ihm mit plötzlichem Erkennen. »Ich weiß – ich weiß – es ist sonderbar, aber das ist genau das, was ich heute empfunden habe.«

Er sah ihr in die Augen, und sie entdeckte die verhaltene Freundlichkeit in den seinen. »Haben Sie das Gefühl so selten?«, sagte er.

Sie errötete ein wenig unter seinem Blick. »Sie halten mich für ein schrecklich minderwertiges Geschöpf, nicht wahr? Aber vielleicht liegt es eher daran, dass ich nie die Wahl hatte. Es gab niemanden, meine ich, der mir von der Republik des Geistes erzählt hätte.«

»Das gibt es nie – sie ist ein Land, zu dem man nur selbst den Weg finden kann.

»Aber ich hätte den Weg dorthin nie gefunden, wenn Sie ihn mir nicht gezeigt hätten.«

»Ja, es gibt schon Wegweiser – aber man muss sie lesen können.«

»Nun, ich habe es gewusst, ich habe es gewusst!«, rief sie glühend vor Begeisterung. »Immer wenn ich Sie sehe, merke ich, wie ich einen Buchstaben dieses Wegweisers entziffere – und gestern – gestern Abend beim Dinner – sah ich plötzlich einen kleinen Weg in Ihre Republik.«

Selden sah sie noch immer an, aber mit anderen Augen. Bisher hatte er in ihrer Gegenwart und in der Unterhaltung mit ihr das ästhetische Vergnügen empfunden, das ein Mann, dem Gedankliches wichtig ist, gern im unbekümmerten Umgang mit hübschen Frauen sucht. Seine Haltung war die des bewundernden Zuschauers gewesen, und es hätte ihm geradezu leidgetan, an ihr eine gefühlsmäßige Schwäche zu entdecken, die sie daran gehindert hätte, ihre Ziele zu erreichen. Aber jetzt war die Andeutung eben dieser Schwäche zum interessantesten Zug an ihr geworden. Er hatte sie an jenem Morgen in einem Moment der Unordnung angetroffen, ihr Gesicht war bleich und verändert gewesen, und die Einschränkung ihrer Schönheit hatte ihr einen ergreifenden Zauber verliehen. So sieht sie aus, wenn sie allein ist! war sein erster Gedanke gewesen, und der zweite hatte die Veränderung in ihr verfolgt, die sein Kommen auslöste. Der Gefahrenpunkt in ihrem Verhältnis zueinander war, dass er an der Spontaneität ihrer Zuneigung nicht zweifeln konnte. Von welchem Blickwinkel aus er ihre langsam wachsende Vertrautheit auch betrachtete, er konnte sie nicht als Teil ihrer Lebenspläne sehen, und das unvorhergesehene Element in einem so exakt geplanten Leben zu sein, war sogar für einen Mann anregend, der Experimente im Bereich der Gefühle aufgegeben hatte.

»Nun und«, sagte er, »hat es Sie dazu gebracht, dass Sie mehr sehen wollen? Werden Sie bald eine von uns sein?«

Er hatte seine Zigaretten aus der Tasche gezogen, während er sprach, und sie streckte ihre Hand nach dem Etui aus.

»Oh, bitte, geben Sie mir eine – ich habe seit Tagen nicht geraucht!«

»Warum diese unnatürliche Abstinenzhaltung? Auf Bellomont raucht doch jeder.«

»Ja – aber es gilt nicht als schicklich für une jeune fille à marier10; und das bin ich im Moment, une jeune fille à marier

»Ah, dann fürchte ich, können wir Ihnen keinen Zutritt zu unserer Republik gewähren.«

»Warum nicht? Handelt es sich dabei um eine zölibatäre Vereinigung?«

»Nicht im Geringsten, obwohl ich leider sagen muss, dass es dort nicht sehr viele verheiratete Leute gibt. Aber Sie werden jemanden heiraten, der sehr reich ist, und für Reiche ist der Zugang ebenso schwierig wie der zum himmlischen Königreich.«

»Das ist ungerecht, finde ich, denn, wenn ich richtig verstanden habe, ist doch eine Bedingung, um die Staatsangehörigkeit zu erwerben, sich nicht zu viele Gedanken über Geld zu machen, und die einzige Möglichkeit, nicht mehr an Geld denken zu müssen, ist es, eine schöne große Menge davon zu haben.«

»Sie könnten mit dem gleichen Recht sagen, die einzige Möglichkeit, nicht an die Luft denken zu müssen, ist es, genug zum Atmen zu haben. Das stimmt zwar in gewissem Sinne, aber Ihre Lungen denken an die Luft, wenn Sie es nicht tun. Und genau so ist es mit Ihren reichen Leuten – sie mögen zwar nicht an Geld denken, aber sie atmen es ständig ein. Versetzen Sie sie in ein anderes Element, und Sie werden sehen, wie sie sich winden und nach Luft schnappen!«

Lily blickte geistesabwesend durch die blauen Ringe ihres Zigarettenrauchs.

»Es scheint mir aber«, sagte sie schließlich, »dass Sie einen beachtlichen Teil Ihrer Zeit in dem Element zubringen, das Sie so sehr ablehnen.«

Selden nahm diesen Vorwurf ungerührt hin. »Ja, aber ich habe versucht, ein Amphibienwesen zu bleiben; es macht nichts, solange die Lungen noch in anderer Luft atmen können. Die wahre Alchemie besteht darin, Gold wieder in etwas anderes zu verwandeln, und das ist das Geheimnis, das die meisten Ihrer Freunde verloren haben.«

Lily dachte nach. »Meinen Sie nicht«, gab sie einen Augenblick später zurück, »dass die Leute, die an der Gesellschaft etwas auszusetzen haben, zu sehr dazu neigen, sie als Selbstzweck anzusehen statt als ein Mittel zu etwas anderem, genauso wie die Leute, die Geld verachten, darüber sprechen, als wäre es nur dazu da, in Säcken aufbewahrt zu werden, damit man sich daran ergötzen kann? Ist es nicht gerechter, beides als Chance anzusehen, die man entweder dumm vertun oder klug nutzen kann, je nachdem, wie begabt derjenige ist, dem diese Chance gegeben wurde?«

»Das ist sicher ein vernünftiger Standpunkt, aber das Sonderbare an der Gesellschaft ist, dass die Leute, die sie als Selbstzweck ansehen, auch diejenigen sind, die dazugehören, und nicht die Kritiker am Zaun. Mit den meisten Schauspielen ist es genau andersherum – die Zuschauer mögen sich der Illusion hingeben, aber die Schauspieler wissen, dass das wirkliche Leben sich auf der anderen Seite der Rampenlichter abspielt. Die Leute, welche die Gesellschaft als Gelegenheit ansehen, sich nach der Arbeit zu unterhalten, haben die richtige Einstellung dazu, aber wenn die Gesellschaft zu dem wird, wofür man arbeitet, werden die Verhältnisse im Leben völlig verdreht.« Selden richtete sich auf und stützte sich auf seinen Ellbogen.

»Du lieber Himmel!«, erklärte er weiter. »Ich unterschätze die dekorative Seite des Lebens durchaus nicht. Mir scheint sich der Sinn für Pracht und Luxus durch das zu rechtfertigen, was mit seiner Hilfe entstanden ist. Das Schlimme ist nur, dass so viel menschliche Natur in diesem Prozess verbraucht wird. Wenn wir alle das Rohmaterial für kosmische Effekte sind, wäre man doch lieber das Feuer, das ein Schwert härtet, als der Fisch, der dazu dient, einen Purpurmantel einzufärben. Und eine Gesellschaft wie die unsere verschwendet so gutes Material, um ihr kleines Fleckchen Purpur herzustellen! Sehen Sie sich einen Jungen wie Ned Silverton an – er ist wirklich zu schade, um dazu gebraucht zu werden, die gesellschaftliche Fadenscheinigkeit anderer Leute wieder aufzufrischen. Da ist einmal ein Bursche, der sich auf den Weg gemacht hat, das Universum zu entdecken: Ist es nicht traurig, dass die Sache damit endet, dass er glaubt, es in Mrs. Fishers Salon gefunden zu haben?«

»Ned ist ein lieber Junge, und ich hoffe, er wird sich seine Illusionen lang genug bewahren, um ein paar hübsche Gedichte darüber zu schreiben, aber glauben Sie denn, dass nur in der Gesellschaft die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass er sie bald verliert?«

Selden antwortete ihr mit Achselzucken. »Warum nennen wir all unsere hochherzigen Ideen Illusionen und die niedrigen Wahrheiten. Reicht es nicht schon aus, die Gesellschaft zu verdammen, wenn man merkt, dass man eine solche Ausdrucksweise übernimmt? Ich hätte diese Art zu reden in Ned Silvertons Alter beinahe angenommen, und ich weiß, wie Bezeichnungen Meinungen eine andere Färbung geben können.«

Sie hatte ihn noch niemals zuvor mit solcher Bestimmtheit sprechen hören. Für gewöhnlich gab er sich als Eklektiker, der die Dinge mit leichter Hand hin- und herdreht und vergleicht, und der Blick in die Werkstatt, in der seine Überzeugungen geformt wurden, rührte sie.

»Ach, Sie sind genauso schlimm wie andere Sektierer«, rief sie aus. »Warum nennen Sie Ihre Republik eine Republik? Sie ist eine geschlossene Vereinigung, und Sie erheben willkürliche Einwände, nur um andere draußen zu halten.«

»Es ist nicht meine Republik; wenn sie es wäre, würde ich einen Staatsstreich inszenieren und Sie auf den Thron setzen.«

»Während Sie glauben, dass ich in Wirklichkeit nicht auch nur einen Fuß über die Schwelle brächte. Sie verachten meine Ambitionen, Sie meinen, sie seien meiner nicht würdig!«

Selden lächelte, aber ohne Ironie. »Na ja, ist das nicht ein Kompliment? Ich halte solche Ambitionen durchaus der meisten Leute für würdig, die sich von ihnen ihr Leben bestimmen lassen.«

Sie wandte sich um und betrachtete ihn ernst. »Aber kann es nicht sein, dass ich, wenn ich die Möglichkeiten dieser Leute hätte, diese besser nutzen würde? Geld steht für alles Erdenkbare, was man damit erreichen kann, es beschränkt sich nicht auf Diamanten und Automobile.«

»Nein, nicht im Geringsten; Sie könnten Ihre Freude an diesen Dingen dadurch wiedergutmachen, dass Sie ein Krankenhaus gründen.«

»Aber wenn Sie glauben, dass es diese Dinge sind, an denen ich wirklich Freude habe, müssen Sie meine Ambitionen ja für gut genug für mich halten.«

Selden nahm diesen flehentlichen Einwand mit einem Lachen entgegen. »Ach, meine liebe Miss Bart, ich bin nicht die göttliche Vorsehung, die Ihnen garantieren kann, dass Sie an den Dingen Freude haben werden, die Sie zu bekommen versuchen!«

»Dann ist alles, was Sie mir sagen können, dass ich, nachdem ich mich mit aller Kraft bemüht habe, sie zu bekommen, sie wahrscheinlich nicht besonders mögen werde.« Sie atmete tief ein. »Was für eine elende Zukunft Sie mir vorhersagen!«

»Nun – haben Sie das nicht schon selbst alles so gesehen?«

Langsam röteten sich ihre Wangen, es war kein Erröten, das aus der Aufregung erwuchs, es kam vielmehr aus den tiefsten Tiefen ihres Fühlens; es war, als hätte ihr geistiges Bemühen es hervorgebracht.

»Schon oft, so oft«, sagte sie. »Aber die Zukunft wirkt so viel düsterer, wenn Sie sie mir zeigen!«

Er antwortete nicht auf ihren Ausruf, und eine Zeit lang saßen sie schweigend da, und etwas schwang zwischen ihnen in der weiten Ruhe der Luft. Aber plötzlich wandte sie sich ihm schon geradezu heftig zu.

»Warum tun Sie mir das an?«, rief sie aus. »Warum sorgen Sie dafür, dass alles, wofür ich mich entschieden habe, mir hassenswert erscheint, wenn Sie mir nichts an seiner statt zu geben haben?«

Diese Worte rissen Selden aus der Grübelei, in die er versunken war. Er wusste selbst nicht, warum er sie dazu gebracht hatte, ein solches Gespräch mit ihm zu führen. Von allen Alternativen, wie man einen Nachmittag allein mit Miss Bart verbringen konnte, hätte er diese für die letzte gehalten, die er sich ausgesucht hätte. Aber es war einer der Augenblicke, in dem keiner von beiden mit einer bestimmten Absicht zu sprechen schien, in dem vielmehr eine Stimme tief drinnen in jedem von ihnen den anderen über unergründliche Tiefen des Gefühls hinweg zu rufen schien.

»Nein, ich habe Ihnen nichts dafür zu geben«, sagte er, setzte sich aufrecht hin und wandte sich um, um sie anzusehen. »Wenn ich es hätte, würde es Ihnen gehören, das wissen Sie.«

Sie nahm diese abrupte Erklärung auf eine Weise auf, die noch sonderbarer war als seine Art, sich zu äußern: Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, und er sah, dass sie einen Augenblick lang weinte.

Es dauerte jedoch nur einen Augenblick, denn als er sich näher zu ihr beugte und ihre Hände mit einer eher ernsten als leidenschaftlichen Geste wegzog, wandte sie ihm ihr Gesicht zu; es war nicht entstellt nach ihrem Gefühlsausbruch, und er sagte sich, ein wenig grausam zwar, dass sogar ihr Weinen eine Kunst sei.

Diese Überlegung gab seiner Stimme die nötige Festigkeit, als er zwischen Mitleid und Ironie fragte: »Ist es nicht ganz natürlich, dass ich versuche, all die Dinge, die ich Ihnen nicht bieten kann, schlecht zu machen?«

Ihr Gesicht hellte sich daraufhin auf, aber sie zog ihre Hand weg, nicht mit einer Geste der Koketterie, sondern so, als wolle sie auf etwas verzichten, auf das sie keinen Anspruch habe.

»Aber ich bin es doch, die Sie schlechtmachen, nicht wahr«, erwiderte sie freundlich, »wenn Sie so sicher sind, dass das das Einzige ist, was mir etwas bedeutet?«

Selden merkte, wie etwas in ihm erschrak, aber das war nur das letzte Zucken seines Egoismus. Fast sofort antwortete er ganz einfach: »Aber es bedeutet Ihnen doch etwas, nicht? Und ich kann das nicht ändern, wie sehr ich es mir auch wünsche.«

Er hatte so vollständig aufgehört, daran zu denken, wohin ihn diese Wendung des Gesprächs führen könnte, dass er ganz deutlich Enttäuschung empfand, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, auf dem der Spott nur so funkelte.

»Ah«, rief sie aus, »trotz all Ihrer feinen Rederei sind Sie doch ein genauso großer Feigling wie ich, denn Sie hätten nichts von alledem gesagt, wenn Sie nicht genau gewusst hätten, wie meine Antwort aussehen würde.«

Der Schock, den ihre Erwiderung auslöste, hatte zur Folge, dass Seldens schwankende Absichten feste Form annahmen.

»Ich bin mir Ihrer Antwort nicht so sicher«, sagte er ruhig. »Und ich will Ihnen gegenüber so gerecht sein zu glauben, dass Sie es auch nicht sind.«

Jetzt war die Reihe an ihr, überrascht auszusehen; nach einer Weile fragte sie: »Wollen Sie mich heiraten?«

Er lachte laut auf. »Nein, ich will nicht – aber ich würde es vielleicht, wenn Sie es wollten!«

»Das habe ich Ihnen ja gesagt – Sie sind sich meiner so sicher, dass Sie sich das Vergnügen gönnen können, Experimente zu machen.« Sie entzog ihm ihre Hand, die er wieder genommen hatte, und schaute traurig zu ihm herunter.

»Ich mache keine Experimente«, erwiderte er. »Oder wenn ich es doch tue, dann mit mir selbst und nicht mit Ihnen. Ich weiß nicht, welche Folgen sie für mich haben werden – aber wenn eine davon es ist, Sie zu heiraten, will ich das Risiko eingehen.«

Ihr gelang ein schwaches Lächeln. »Es wäre mit Sicherheit ein großes Risiko – ich habe Ihnen nie verborgen, wie groß das Risiko wäre.«

»Ah, Sie sind der Feigling!«, rief er aus.

Sie war aufgestanden, und er stand ihr gegenüber, seine Augen sahen in die ihren. Die sanfte Einsamkeit des schwindenden Tages hüllte sie ein; es schien, als seien sie in dünnere Luft emporgehoben. All die feinen Einflüsse der Stunde zitterten in ihren Adern und zogen sie zueinander hin, wie die losen Blätter zur Erde hingezogen wurden.

»Sie sind der Feigling«, wiederholte er und nahm ihre Hände in die seinen.

Sie lehnte sich für einen Moment an ihn, so als ob sie nun endlich ihren müden Flügeln Ruhe gönnen könnte; er hatte das Gefühl, als schlüge ihr Herz eher von der Anstrengung eines langen Fluges als von der Aufregung, welche die neuen Horizonte in ihr erregten. Dann trat sie mit einem kleinen Lächeln der Warnung zurück; »Ich werde scheußlich aussehen in billigen Kleidern, aber ich kann immerhin meine Hüte selbst machen«, erklärte sie.

Sie standen eine Weile schweigend da und lächelten einander an wie Kinder bei einem abenteuerlichen Ausflug, die auf eine verbotene Höhe geklettert sind, von der aus sie eine neue Welt entdecken. Die wirkliche Welt zu ihren Füßen wurde von der wachsenden Dunkelheit verschleiert, und über dem Tal ging der Mond im dunkleren Blau auf.

Plötzlich hörten sie von ferne einen Ton wie das Summen eines gigantischen Insekts, und etwas Schwarzes bewegte sich mit großer Geschwindigkeit in ihr Blickfeld, der Hauptstraße folgend, die sich weiß von dem sie umgebenden Zwielicht abhob.

Lily schreckte aus ihrer versunkenen Haltung auf, ihr Lächeln verschwand, und sie bewegte sich auf den Weg zu.

»Ich hatte keine Ahnung, dass es so spät ist! Wir werden erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück sein«, sagte sie schon beinahe ungeduldig.

Selden betrachtete sie überrascht; er brauchte eine Weile, um sie wieder mit denselben Augen wie früher zu sehen; dann sagte er, ohne den Sarkasmus aus seiner Stimme heraushalten zu können: »Das war keiner von unserer Gruppe, der Wagen fuhr in die andere Richtung.«

»Ich weiß – ich weiß –«, sie hielt inne, und er sah trotz der Dämmerung, wie sie rot wurde. »Aber ich habe ihnen gesagt, ich fühlte mich nicht gut, und dass ich nicht ausgehen wollte. Lassen Sie uns hinuntergehen!«, murmelte sie.

Selden betrachtete sie weiterhin, dann zog er sein Zigarettenetui aus der Tasche und zündete sich langsam eine Zigarette an. Es erschien ihm in diesem Moment notwendig, durch eine gewohnte Geste dieser Art zu zeigen, dass er wieder mit beiden Beinen auf dem Boden der wirklichen Welt stand; er hatte den geradezu kindlichen Wunsch, seine Begleiterin sehen zu lassen, dass, wo ihr Höhenflug nun einmal vorüber war, er wieder auf festem Boden gelandet war.

Sie wartete, während der Funke unter seiner gewölbten Hand aufsprang; dann bot er ihr die Zigaretten an.

Sie nahm eine mit unsteter Hand, steckte sie zwischen die Lippen und beugte sich vor, um sie an der seinen zu entzünden. In dem nachlassenden Licht beleuchtete der kleine rote Schein den unteren Teil ihres Gesichts, und er sah, wie ihr Mund ein zitterndes Lächeln versuchte.

»Haben Sie es ernst gemeint?«, fragte sie mit einem sonderbaren Anflug von Fröhlichkeit, so als hätte sie diesen in aller Eile ihrem Vorrat an gebräuchlichen Stimmvarianten entnommen, ohne Zeit genug gehabt zu haben, den richtigen Ton zu treffen.

Selden hatte seine Stimme besser unter Kontrolle. »Warum nicht?«, erwiderte er. »Sie sehen ja, ich bin kein Risiko dabei eingegangen.« Und als sie weiterhin vor ihm stand, ein wenig bleich nach der scharfen Entgegnung, fügte er schnell hinzu: »Gehen wir hinunter.«

Das Haus der Freude

Подняться наверх