Читать книгу Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius - Eduard Mühle - Страница 11
1. Herkunft und Ausbildung
ОглавлениеÜber den so als Magister, Propst und Bischof fassbaren Chronisten wissen die zeitgenössischen Quellen ansonsten nur wenig mehr zu berichten. Jüngere Quellen, vor allem der Bischofskatalog des Jan Długosz, haben die dürren Fakten später um manches Detail erweitert; doch lässt sich kaum sagen, was davon auf andernorts nicht überlieferte Tatsachen, was auf spätere Ausschmückungen und Erfindungen zurückgeht.13 So bleibt die Forschung bei der Rekonstruktion des Lebenslaufs des Chronisten auf indirekte Schlussfolgerungen und Spekulationen verwiesen.
Die Versuche, sein Geburtsjahr zu bestimmen, stützen sich auf eine Kombination von drei Beobachtungen. Erstens fand der Name Vincentius im piastischen Polen erst seit der zweiten Hälfte der 1140er Jahre Verbreitung, nachdem am 6. Juni 1145 feierlich die Reliquien des hl. Vincentius aus Magdeburg nach Breslau überführt worden waren.14 Zweitens könnte Vincentius, wie bestimmte Stellen seiner Chronik anzudeuten scheinen, als Knabe oder junger Mann Zeuge von Gesprächen zwischen dem 1166 gestorbenen Krakauer Bischof Matthäus und dem wenige Jahre später verstorbenen Gnesener Erzbischof Johannes gewesen sein.15 Drittens wird angenommen, dass eine Person, die 1189 „magister“ genannt wird, nicht mehr jung gewesen bzw. kaum nach 1160 zur Welt gekommen sein kann. Gelegentlich wird zudem auf einen Zeugen namens Vincentius verwiesen, der in einer Urkunde von 1167 (oder 1168) begegnet und der – weil Zeuge – zu diesem Zeitpunkt volljährig, also mindestens zwölf Jahre alt gewesen sein muss16; doch ist zweifelhaft, ob dieser Vincentius („Stephanus et filii eius Stephanus et Vincentius“17) mit dem Chronisten tatsächlich identisch war. Auf der Basis dieser vagen Hinweise lässt sich kaum mehr sagen, als dass der Chronist Vincentius mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zwischen 1150 und 1160 geboren wurde. In den Akten seiner 1764 abgeschlossenen Seligsprechung wird das Geburtsjahr mit 1160/61 angegeben.18
Auch bezüglich des Geburtsortes geben historische Überlieferung wie moderne Forschung keine sichere Auskunft. Nach den in den 1430er bis 1450er Jahren redigierten Krakauer Bischofskatalogen wurde Vincentius in Kargów bei Stopnica (ca. 20 km östlich von Busko-Zdrój) geboren19, während Jan Długosz in seinem 1451 verfassten Bischofskatalog als Geburtsort Karwów bei Opatów (ca. 20 km nordwestlich von Sandomir) angab.20 Der Autorität Długoszs folgte die jüngere historische Überlieferung ebenso wie ein großer Teil der Forschung. Der Herausgeber der aktuellen kritischen Edition allerdings ging von einem Abschreibfehler Długoszs aus, hielt die Lesart der geringfügig älteren Redaktionen der Krakauer Bischofskataloge für zutreffender und führte zudem als einen weiteren Beleg für Kargów eine Urkunde von 1228 an21, in der ein Sulisław von Kargów begegnet, den er mit dem 1212 bezeugten gleichnamigen Neffen des Vincentius identifizierte.22 Für Karwów sind hingegen wiederholt Argumente aus der Stiftungstätigkeit des Vincentius abgeleitet worden.23 Diese betraf die Dörfer Czerników/Okalina, Gojców und Niekisałka, die alle in der Umgebung von Karwów lagen und von Vincentius aus seinem Vatererbe den Klöstern Sulejów und Koprzywnica übertragen wurden.24 Teile seines eigenen bzw. des Besitzes seiner Familie lagen mithin im Sandomirer Land, ihr Kern vielleicht um Karwów (siehe Karte S. 37). Die Dörfer Okalina und Gojców wurden 1470 vom Kloster Sulejów wieder veräußert, und zwar ausgerechnet an Jan Długosz, der sie für das Sandomirer Kollegiatstift erwarb. Der spätmittelalterliche Geschichtsschreiber mag auf diese Weise vielleicht Einblick in die älteren Stiftungsurkunden und damit nähere Kenntnis von den seinerzeitigen Schenkungen des Vincentius erhalten haben. Möglicherweise hat er auf dieser Grundlage bewusst das Kargów der älteren Bischofskataloge in das ihm richtiger erscheinende – und vielleicht tatsächlich richtigere – Karwów ‚verbessert‘.25 Allerdings bieten selbst einzelne Handschriften des Długosz-Katalogs statt Karwów auch die Variante Kargów26, so dass angesichts der Nähe der beiden Namen wohl auch Abschreibfehler zur Konfusion beigetragen haben, die sich heute kaum noch sicher auflösen lässt.
Sicher nicht gefolgt werden kann der Information, die Długosz zur Familienherkunft des Vincentius bietet. Das Geschlecht der Różice, als deren Spross er den Chronisten sah („de domo et familia Rose“)27, war in der Gegend der „villa Carwow prope Opathow“ erst nach der Mitte des 15. Jahrhunderts begütert.28 Długosz wollte mit dieser Ergänzung, der auch die jüngere Wiślica-Redaktion des Bischofskataloges folgte29, offenbar dem Verdacht einer niedrigen Herkunft des Vincentius entgegenwirken.30 Eine solche schien dessen Beiname „Kadłubek“ zu suggerieren, was möglicherweise die Verfasser der älteren Bischofskataloge dazu veranlasste, die adlige Herkunft des Vincentius in Zweifel zu ziehen („de eius nobilitate dubitetur“).31
Die ältesten Versionen des Beinamens sind aus Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert, dürften aber älteren Ursprungs sein.32 Schon die Großpolnische Chronik und die Chronik des Dzierzwa (deren älteste Handschriften allerdings ebenfalls erst aus dem 15. Jahrhundert stammen) haben die Selbstaussage des Chronisten im 14. Jahrhundert entsprechend ergänzt: „[…] quem vidit Vincencius Kadlubonis […], qui scribsit hec.“33 Es ist nicht eindeutig geklärt, worauf der seither in unterschiedlichen Schreibungen überlieferte Beiname zurückging. Er mag auf den Namen des Vaters (Vincentius, Sohn des Kadłub) verwiesen haben, also als Patronym verwendet worden sein. So jedenfalls verstand ihn Długosz, der von „Vincentius Cadlvbkonis“ bzw. „Vincentius Kadlub(k)onis“ schrieb. „Kadłubek“ könnte aber auch von einem Spitznamen herrühren („kadłub“ = Rumpf, Stumpf; „dłubać“ = ausbohren, herumstochern, popeln), den der Vater erhalten haben könnte und der anschließend im Diminutiv (Kadłubek = Rümpfchen, kleiner Stumpf) auf den Sohn übergegangen oder dem Sohn gleich zugeschrieben worden sein könnte.34 Schließlich könnte ihm auch ein Ortsname zugrunde gelegen haben, der später als Patronym oder Spitzname missverstanden wurde.
Die Deutung des Beinamens im Sinne eines eher gewöhnlichen, volksnahen Patronyms oder eines wenig schmeichelhaften Spitznamens hatte augenscheinlich zur Folge, dass die älteren Bischofskataloge Vincentius eine Abkunft aus einer Großenfamilie absprechen wollten. Dem ist gelegentlich ein Teil der Forschung gefolgt und hat in ihm eher den Sohn einer kleinen Ritter- bzw. Ministerialenfamilie gesehen.35 Doch geht die Forschung heute mehrheitlich davon aus, dass Vincentius aus einer der zu seiner Zeit führenden kleinpolnischen Großenfamilien stammte. Dafür sprechen in der Tat seine Stiftungsaktivitäten36, sein Bischofsamt, das vor ihm nur Vertreter der Großen bekleidet haben37, sowie seine Gelehrsamkeit bzw. die finanziellen Mittel, die er für deren Erwerb zweifellos hatte aufbringen müssen. Uneinig ist sich die Forschung nur darüber, welchem Adelsgeschlecht er denn zugeschrieben werden soll.38 Zur Diskussion gestellt worden sind die Różyce39, die Lubowlitów-Ogniwów40, die Lis41, die Nagodzice42 oder die Labędź43. Die Kontroverse hierüber entbehrt freilich insofern einer Grundlage, als sich die fraglichen Adelsgeschlechter erst seit dem 13. Jahrhundert als solche zu formieren begannen und für die Zeit des Vincentius kaum mehr als ein retrospektives Konstrukt der polnischen Forschung darstellen, für die die Frage nach den Ursprüngen des Adels stets von besonderer Bedeutung war.44
Erwägenswert erscheinen allerdings Überlegungen, die Vincentius mit der Familie des 1151/53 gestorbenen Großen Piotr Włostowic in Verbindung bringen, ebenjenes herausragenden piastischen Amtsträgers, der 1145 die Reliquien des hl. Vincentius aus Magdeburg in das von ihm gestiftete Breslauer Benediktinerkloster überführen ließ.45 Piotrs Bruder trug den gleichen Namen wie – schenken wir Długosz Glauben – der Vater des Vincentius: Bogusław. Nach einer von Vincentius als Bischof am 24. Mai 1212 ausgestellten Urkunde hieß so auch einer seiner Neffen („… filiis fratris nostri scilicet Boguzlauo et Sulizlauo“).46 Der Name mag also Bestandteil der Familientradition gewesen sein und die Verbindung zu Piotr Włostowic bzw. mit dem von ihm begründeten Breslauer Vincentius-Kult die Taufe des Vincentius auf ebendiesen in Polen neuen Namen nahegelegt haben. Auch andere Indizien – u.a. der nahe Karwów gelegene Ort „Włostów“, eine besondere Aufmerksamkeit der Chronica Polonorum für die Włostowicen (Piotr Włostowic, seine Söhne Wszebór und Świętosław sowie sein Schwiegersohn Jaxa) und Schlesien – könnten vielleicht die interessante These untermauern.47 Doch bleibt sie letztlich Spekulation und nicht belegbar.
So lässt sich verlässlich nur sagen, dass Vincentius mit großer Wahrscheinlichkeit einer hochgestellten Familie entstammte, die ihrem – wohl früh für eine geistliche Laufbahn bestimmten – Spross alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere zu bieten vermochte. Die Familie wird ihre Verbindungen genutzt haben, um dem Sohn eine entsprechende Schulbildung zu ermöglichen. Er selbst scheint in seiner Chronik anzudeuten, dass er vor 1166 Augenzeuge von Gesprächen zwischen dem Krakauer Bischof Matthäus und dem Gnesener Erzbischof Johannes war.48 Dieser Hinweis muss keineswegs bloße Rhetorik gewesen sein, könnte vielmehr dafür sprechen, dass der Knabe oder Jugendliche in den 1160er Jahren an der Krakauer Domschule lernte bzw. im Umfeld des Krakauer Bischofs erzogen wurde. Als Bischof Matthäus 1166 starb, könnte er dort unter der Obhut von dessen Nachfolger, Gedko, die Ausbildung fortgesetzt haben. Vincentius scheint mit Bischof Gedko jedenfalls eine besondere Beziehung verbunden zu haben, lobt er diesen in seiner Chronik doch als eloquenten und leidenschaftlichen Anwalt der politischen Gegner Mieszkos III. bzw. der Anhänger Herzog Kasimirs II. in besonders hohen Tönen.49
Ob sich an den Besuch der heimischen Domschule ein Studienaufenthalt im Ausland angeschlossen hat, kann nicht mit Sicherheit entschieden werden. Der Titel „magister“, mit dem Vincentius 1189 in Erscheinung trat, belegt jedenfalls allein noch nicht, dass er über einen damals nur in Frankreich oder Italien zu erwerbenden akademisch-wissenschaftlichen Abschluss verfügte.50 Denn als wissenschaftlicher Titel kam die Bezeichnung „magister“ erst im Laufe der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Umlauf, bezeichnete ansonsten aber einfach den Lehrer, vor allem den Scholastiker bzw. Leiter einer Dom- oder Kollegiatschule.51
Der Scholastiker Vincentius muss also nicht unbedingt im Ausland studiert haben. Tatsächlich ist gelegentlich die Ansicht vertreten worden, dass der Chronist im Grunde über eine provinzielle, einheimische Bildung, die höchstens das Trivium umfasst haben könne, nicht hinausgelangt sei.52 Für andere lässt seine Chronik wiederum einen Grad an Bildung erkennen, der die Möglichkeiten der damaligen polnischen Bildungsstrukturen bei weitem überstiegen haben muss.53 Die Antworten auf die Frage, ob Vincentius im Ausland studiert hat, und wenn ja, wo und was, hängen mithin in hohem Maße von der Einschätzung des intellektuellen Niveaus bzw. der literarischen Qualität seines Werkes ab, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird.
Die überwiegende Mehrzahl der Forscher geht freilich davon aus, dass Vincentius tatsächlich zu weiteren Studien ins Ausland gegangen ist. Uneins ist man sich allerdings darüber, wo er studierte.54 Dass er in Chartres oder Paris lediglich das Trivium einer Kathedralschule absolvierte55, ist wenig wahrscheinlich, da er diese Ausbildungsstufe auch in Krakau durchlaufen konnte bzw. wohl tatsächlich durchlaufen hat. Naheliegender ist, dass er eine der Universitäten in Paris oder Bologna besucht hat. Gelegentlich wird auch nicht ausgeschlossen, dass er an beiden Orten Vorlesungen gehört hat.56 Die Anhänger eines Studienaufenthalts in Bologna heben dabei die in der Chronica Polonorum artikulierte gute Kenntnis des römischen und kanonischen Rechtes hervor, die Vincentius am ehesten in der italienischen Wiege der Legisten erworben haben könne. Zudem wird auf eine kurze Beschreibung Polens in den Otia imperialia des Gervasius von Tilbury verwiesen, bei der sich dieser nach eigenen Worten auf einen polnischen Gewährsmann stützte.57 Da Gervasius in Bologna nicht nur Recht studierte, sondern dort um 1183 auch selbst Vorlesungen gehalten haben soll und die fragliche Stelle seines Traktates auffällige Ähnlichkeiten zu entsprechenden Passagen der Chronica Polonorum aufweist58, ist die Vermutung geäußert worden, dass es sich bei dem polnischen Gewährsmann, den Gervasius in Bologna getroffen haben könnte, um niemanden anderen als Vincentius gehandelt habe.59 Für Paris als Studienort ist hingegen die auffällige Präsenz antiker Autoren in der Chronica Polonorum ins Feld geführt worden, die im Kontext der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ vor allem in Paris, Orléans und Chartres gelesen worden seien. Auch soll die spezifische Misch-Rezeption sowohl antiker Autoren als auch des römischen und kanonischen Rechts bzw. die Auseinandersetzung mit ganz verschiedenen Wissensbereichen – Literatur, Philosophie, Recht – eher für das Pariser Studium Generale sprechen.60