Читать книгу Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius - Eduard Mühle - Страница 16
3. Inhalt und Anliegen
ОглавлениеWie die meisten mittelalterlichen historiographischen Werke wird die Chronica Polonorum mit einem Prolog eröffnet133, der das zentrale Anliegen des Chronisten gleich zu Beginn auf den Punkt bringt. Das Werk soll „der Beratung des heiligen Senats beistehen“ und „goldene Säulen des Vaterlandes, […] wahre Bilder der Väter aus dem Schoß des Vergessens […] herausschneiden“, um „in der königlichen Burg Lampen göttlichen Lichts aufzuhängen“ und „die großväterlichen Verdienste reichlich darzulegen“. Dass sich der Chronist als dieser Aufgabe kaum gewachsen ausgibt, entspricht ebenso der üblichen Bescheidenheitstopik wie seine an den Leser gerichtete Bitte, dies gebührend in Rechnung zu stellen und nicht allzu kritisch mit ihm zu sein.134 Schließlich habe er die Aufgabe, gleichsam „die Last des Atlas“ (onus Athlanteum), nur auf Geheiß des „tüchtigste[n] der Fürsten“ auf sich, die „Schulter eines Zwerges“ (humeris Pygmei), genommen.
Auf den Prolog folgen vier Bücher, von denen die ersten drei in Form eines Dialoges abgefasst sind. Die Partner dieses Dialoges führt Vincentius zu Beginn von Buch I selber ein, wobei er mit der Benennung ihres zentralen Gesprächsthemas gleich noch einmal das inhaltliche Anliegen seiner Chronik hervorhebt: „Es diskutierten nämlich Johannes und Matthäus […] über den Ursprung, den Fortschritt und die Vollendung“ des Gemeinwesens der Polen, eines Gemeinwesens, dem – wie der Chronist an gleicher Stelle beklagt – die Tugend abhanden gekommen sei. Prolog und Dialogeinführung machen das Anliegen des Werkes mithin hinreichend deutlich: Erzählt und erörtert werden soll die Geschichte der von den Piasten als den rechtmäßigen bzw. erblichen Fürsten („principes succedanei“) angeführten politischen Gemeinschaft der Polen, deren Verfassung und Tugend zugleich den Gegenstand einer besonderen politisch-moralischen Sorge bilden. Diesem Anliegen bleibt der Chronist auch in Buch IV treu, das er im Gegensatz zu den Büchern I–III als fortlaufende auktoriale Erzählung gestaltet hat.
Unabhängig von ihrer Form ergeben die vier unterschiedlich umfangreichen Bücher135 zusammen eine durchgängige chronologische Erzählung, die in der Antike einsetzt und bis in das Jahr 1202 führt. Dabei wird auch für die jüngeren historischen Ereignisse auf jede exakte Datierung und konkrete Jahresangabe verzichtet. Buch I erzählt die sagenhafte Vor- und Frühgeschichte der Polen, die bei Gallus Anonymus noch allein auf die Legende von Popiel und Piast beschränkt war. Vincentius erweitert diese großpolnische Sage um neue Geschichten, die zum größeren Teil seiner eigenen Erfindungsgabe zuzuschreiben, zu einem Teil aber auch auf ältere, in Kleinpolen und Krakau mündlich überlieferte Erzählungen zurückgegangen sein dürften.136 Die neun neuen Erzählmotive, mit denen die vorchristliche Zeit in der Chronica Polonorum gegenüber Gallus Anonymus zusätzlich ausgefüllt wird137, führen die Anfänge der polnischen Geschichte weit in die Antike zurück. Sie erzählen (1.) von der Macht und Größe einer „vor langer Zeit“ bestehenden polnischen Herrschaft, die sich selbst mit Dakern (Dänen), Galliern (Kelten) und Römern messen konnte und weite Teile Osteuropas umfasste; (2.) von Gracchus (Krak), dem ersten gewählten Herrscher, dessen Gesetzgebung das „Recht“ und damit das Gemeinwesen der Polen begründete138, (3.) von einem feuerspeienden Drachen, der im Krakauer Wawel-Felsen hauste und dessen Beseitigung die Gründung der Stadt Krakau zur Folge hatte139; (4.) von der Herrscherin Wanda, die mit ihrer Schönheit einen feindlichen alemannischen (deutschen) Tyrannen besiegte und nach der die Weichsel und die Polen ihre Zweitnamen „Wandalus“ bzw. „Wandalen“ erhielten140; (5.) vom Kampf der „Lechiten“ bzw. Polen gegen Alexander den Großen141; (6.) von dem Goldschmied Lestek, dessen List den Sieg über Alexander ermöglichte und der zum Lohn dafür als Herrscher eingesetzt wurde142; (7.) von einem zweiten Herrscher namens Lestek, der nach einer Phase innerer Unruhen an die Herrschaft gelangte, indem er ein Wettrennen gewann143; (8.) vom Sohn dieses zweiten Lestek, Lestek III., der über „Geten und Parther“ und die „Regionen jenseits der Parther“ herrschte, Julius Caesar besiegte und dessen Schwester Julia zur Frau nahm; schließlich (9.) von Pompilius, den Lestek III. als den ältesten seiner 20 Söhne „nach dem Recht der Primogenitur zum König über alle“ einsetzte und der „nicht nur die Monarchie der Slavia, sondern auch die Reiche der Nachbarn“ befehligte. Mit der Geschichte über dessen Sohn Pompilius II. schließt Vincentius gegen Ende von Buch I an die großpolnische Popiel-Sage an, die er gegenüber Gallus Anonymus, der sie nur in wenigen Zeilen ansprach144, allerdings erheblich ausbaut. Besonders ausführlich schildert Vincentius, wie sich Pompilius/Popiel angestachelt von seiner Ehefrau durch heimtückischen Mord seiner Konkurrenten entledigte, unter seiner Herrschaft „der ganze Ruhm der Polen zusammenbrach“ und der schamlose Herrscher schließlich sein schändliches Ende fand.
Buch II beginnt nach einem kurzen Wortwechsel, der wie ein weiterer, kleinerer Prolog erscheint, mit der aus Gallus Anonymus bekannten Piastenlegende, die die göttliche Berufung des Piastengeschlechts, indem sie sie vier Generationen vor dem seit 963 historisch bezeugten Mieszko I. ansetzt, ins 9. Jahrhundert datiert. Mit der Bekehrung Mieszkos I. und seines Landes tritt Buch II in die historische Zeit ein und schildert für die nachfolgenden rund 150 Jahre die herausragenden Taten der sich ablösenden piastischen Herrscher bis in die erste Hälfte der Herrschaft Bolesławs III. hinein, d.h. bis ca. 1112/1113. Dabei folgt Vincentius im Kern dem Faktengerüst der 80 bis 100 Jahre älteren Cronicae et gesta ducum sive principum Polonorum, der gegenüber er nur an einigen wenigen Stellen eine abweichende Deutung bietet. Die gewichtigeren Abweichungen betreffen insbesondere die Ereignisse um Kasimir I. den Erneuerer, vor allem aber den Tod des hl. Stanisław, von dem die Chronica Polonorum eine gänzliche andere Version bietet.145 Wie schon bei Gallus Anonymus nimmt auch bei Vincentius der Konflikt zwischen Władysław Herman und seinen Söhnen, Zbigniew und Bolesław III., bzw. zwischen den beiden Letzteren besonders breiten Raum ein, wobei Vincentius die entscheidende, von der Forschung in das Jahr 1112/1113 datierte Auseinandersetzung zwischen den Brüdern in ein fiktives Gerichtsverfahren münden lässt, mit dessen Urteilsspruch Buch II endet.
Buch III greift in seiner Schilderung der Kämpfe Bolesławs III. gegen die Pomoranen und Kaiser Heinrich V. gegenüber Buch II zeitlich zunächst wieder etwas zurück und setzt noch einmal im ersten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts ein, führt dann aber die Erzählung (ab der um 1120 anzusetzenden Entführung des rus’ischen Fürsten Wolodar durch Piotr Włostowic) auf der Grundlage unbekannter schriftlicher Vorlagen und/oder nur mündlicher Überlieferungen über das aus Gallus Bekannte hinaus. Geschildert wird in erster Linie die zweite Hälfte der Herrschaft Bolesławs III., dessen Tod (1138) und die damit in Kraft tretende Nachfolgeregelung bzw. Senioratsordnung. Knapper werden demgegenüber die Senioratsherrschaft Władysławs II. (ab 1138), die zu seiner Vertreibung (1146) führenden Auseinandersetzungen mit den jüngeren Brüdern Bolesław IV. und Mieszko III., die anschließende Senioratsherrschaft Bolesławs IV. und dessen Konflikt mit den Söhnen Władysławs II. behandelt. Der Tod des zweiten Seniors im Jahr 1173 bildet den Schlusspunkt von Buch III, das zugleich mit einer Metapher endet, die nach allgemeiner Deutung für den Tod der beiden Dialogpartner der Bücher I–III steht. Bischof Matthäus von Krakau war in der Tat bereits 1166, der Gnesener Erzbischof Johannes kurze Zeit später, in jedem Fall vor 1177 gestorben.
Vincentius hat den Dialog dieser beiden „berühmten Männer“146 so angelegt, dass Matthäus in einzelnen Episoden die Geschichte der Polen darlegt, Johannes diese Ausführungen aber mit Parallelen aus der antiken Geschichte sowie mit einschlägigen philosophisch-moralischen oder juristischen Reflexionen kommentiert.147 Insofern enthalten die Bücher I–III weit mehr als eine Darstellung polnischer Geschichte von ihren sagenhaften Ursprüngen bis 1173. Sie bieten vielmehr zusätzlich zahlreiche Geschichten und Anekdoten nichtpolnischer Herkunft, die Vincentius aus der Bibel sowie – direkt oder indirekt148 – aus antiken Geschichtswerken, Traktaten und Dichtungen geschöpft hat. Da beide Dialogpartner um die Mitte der 1170er Jahre bereits tot waren, musste Vincentius die Dialogform für die Fortsetzung seiner Chronik zwangsläufig aufgeben. So hat er Buch IV, das als das längste der vier Bücher den kürzesten Berichtszeitraum, knapp 30 Jahre, behandelt, in eine fortlaufende Narration gekleidet, aus der anfangs die zuvor verwendete Dialogform freilich noch erkennbar hervorscheint.149
Buch IV schildert eingehend die erste Senioratsherrschaft Mieszkos III. (1173–1177), die anschließende, im ‚Staatsstreich’ erlangte Krakauer Herrschaft Kasimirs II. (1174–1194), dessen und seiner Witwe Bemühungen, dem Sohn Leszek die Nachfolge zu sichern, die Verwicklungen und Interessen der Krakauer Großen, die letzten Herrschaftsjahre Mieszkos III. und dessen nochmalige Rückkehr auf den Krakauer Senioratsthron und schließlich die Lösung der Nachfolgefrage nach dessen Tod im Jahr 1202, mit der Buch IV abbricht. Als aufmerksamer Zeitgenosse, Angehöriger der kleinpolnischen Elite und herausgehobener Amtsträger konnte sich Vincentius bei seiner Darstellung der Entwicklungen der Jahre 1173 bis 1202 auf eigene Beobachtungen und unmittelbare Einblicke stützen. Dadurch sind die Ausführungen in Buch IV deutlich detaillierter, genauer und zuverlässiger ausgefallen als in den Büchern I–III, wenngleich auch in Buch IV noch vieles durch eine überbordende Rhetorik verschleiert bleibt.
Vincentius hat diese Rhetorik nicht zuletzt dazu genutzt, seinen eigenen Standpunkt in vielen Fällen zu tarnen und allzu offene, ungeschützte Äußerungen zu vermeiden, die ihm herzoglichen oder sonstigen Unmut hätten eintragen können. Er zog es vor, seine eigenen politischen und moralischen Ansichten den Dialogpartnern der Bücher I–III in den Mund zu legen, sie von verschiedenen Rednern vortragen zu lassen, in Exempla, Fabeln und Symbole zu kleiden oder in Sprichwörtern und Sentenzen zu verstecken. Die Bewertung und Deutung des so meist nur auf indirekte Weise Dargebotenen überließ er der Intelligenz seiner gebildeten Leser, die den realen Kern der Geschichten, ihre Subtexte und Anspielungen zweifellos verstanden und auf ihre Gegenwart zu beziehen wussten. Die entsprechenden Dechiffrierungsbemühungen haben sicher auch eine Art intellektuelle Unterhaltung („otium“) des Lesers – oder Zuhörers – dargestellt, worin Vincentius zweifellos einen gewollten Effekt seines Werkes gesehen hat.150
Auch mit seinen übrigen Intentionen hat der Chronist bei aller rhetorischen Verhüllung letztlich nicht hinter dem Berg gehalten. Er hat seine Chronik bewusst als eine ‚historische Abhandlung‘ über die Geschichte der Polen geschrieben. 151Diese sollte dem Leser im Sinne der zeitgenössischen gesta eine gezielte Auswahl denkwürdiger und nachahmenswerter Taten der Vorväter vor Augen führen und damit sowohl die Handlungen der aktuellen Herrscher legitimieren als auch das Gemeinschaftsbewusstsein der politischen Elite stärken. Doch schrieb er nicht nur als ein ‚Historiker‘, der mit historischen Einsichten ‚Geschichtspolitik‘ betreiben wollte.Dazu hat er seine Schilderung der historischen Geschehnisse zu oft anderen, nämlich moralischen Zielen angepasst. So formte er seinen Stoff zugleich als Moralist und Didaktiker, der das öffentliche Leben und die Sitten seines Landes mit ethischen Werten, rechtlichen Normen und christlichen Idealen zu erfüllen suchte. Auch in diesem Sinn konfrontierte er den Herzog mit den Kriterien einer idealen Herrschaft, bot mithin auch eine Art Fürstenspiegel.152 Zugleich hielt er seine Landsleute zur Vaterlandsliebe und Sorge um das öffentliche Wohl an.153 Beide zusammen – Herrscher und politische Elite – suchte er an Recht und Tugenden zu binden, ohne die aus seiner Sicht das Gemeinwesen, die „patria“ oder „res publica“ bzw. das „regnum Poloniae“, nicht gedeihen konnte.154 Vincentius’ Absicht zielte also nicht zuletzt darauf ab, zu erziehen und zu bilden, woraus mitunter gefolgert worden ist, dass seine Chronik von vornherein als ein für den Schulbedarf verfasstes Lehrbuch konzipiert worden sei.155 Allerdings dürfte die Chronica Polonorum für eine Verwendung im Trivium einer Domschule wohl doch zu komplex und schwer gewesen sein. Der Chronist selber hatte schließlich nur eine kleine, hochgebildete Leserschaft vor Augen, für die er als Schriftsteller nicht zuletzt auch bewusst ein kunstvolles literarisches Werk verfasste, dessen inhaltliche, intentionale und stilistische Vielschichtigkeit sich kaum auf einen einfachen Nenner bringen lässt.156