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Musca domestica

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Eines Morgens flog sie plötzlich auf die weiße Serviette neben meinem Frühstücksteller. Sie war klein, wahrscheinlich männlich. Sie kam aus dem Nichts. Natürlich hatte sie, ihrem Geruchsinn folgend, entdeckt, was alles auf dem Tisch war. Margarine, Emmentaler Käse, drei Sorten Marmelade, drei Sorten Brot.

Ich nehme an, sie erkundete auf der Serviette mit ihren Füßen und dem Rüssel die Umgebung, um auch später zu wissen, was sich im Umkreis alles befindet, sozusagen eine Ortung.

Nach einem blitzartigen Abflug, mit unseren Augen im Einzelnen nicht zu verfolgen, landete sie zuerst auf dem Rand des Marmeladenglases und probierte mit ihrem Rüssel eine unsichtbare Menge. Unwillkürlich, sie verbreitet ja sicher allerlei uns nicht Zuträgliches, wollte ich sie mit einer Handbewegung vertreiben. Ehe meine Hand in ihre Nähe kam, wurde sie unsichtbar, sie war verschwunden. Es tat mir leid, denn ich dachte, wir hatten einen reichhaltigen Frühstückstisch und wollten davon nicht einmal eine winzig kleine Menge abgeben.

Sie hatte wohl eine Runde nach Fliegerart gedreht, als sie zu meiner Befriedigung auf dem Emmentaler landete. Sie trippelte mit ihren Füßchen ein wenig herum, wahrscheinlich, um zu probieren, ob es ein echter oder der aus dem Allgäu war. Er schien ihr nicht echt und sie flog davon.

Ich war gespannt, wo sie landen würde. Es war die Lehne des Stuhles, der gerade von der Sonne beschienen war. Mit ihren vorderen Beinchen putzte sie ihren Rüssel, um den lästigen Rest von Marmelade zu beseitigen.

Dort konnte ich sie eingehend betrachten. Es war eine Musca domestica. Nicht eine der Aufdringlichen, die mit lautem Gebrumm scheinbar ohne Ziel herumsausen und immer wieder versuchen, ihr Draußen zu erreichen, indem sie gegen das Fensterglas stoßen. Öffnet man ein Fenster, so scheint es, wollen sie gar nicht hinaus.

In Wikipedia machte ich mich über ihre Zugehörigkeit, Gewohnheiten, Gefährlichkeit und Entwicklung kundig. Das aber, was ich gern gewusst hätte, war nicht beschrieben. Die Schärfe und Reichweite zum Beispiel ihrer Facettenaugen, die Steuerung ihrer blitzartigen Reaktion durch die Struktur ihres wohl winzigen Gehirns, die Übertragung auf ihre Beine, deren Beteiligung beim Start, der synchron mit den Flügeln erfolgt, wir nicht sehen können. Hat sie ein Großhirn und andere Hirnteile? Jedenfalls muss sie nicht erst überlegen zu flüchten, wenn eine Gefahr droht.

Ich bekam auch heraus, wie lange sie lebt, sechs bis zweiundvierzig Tage, eine recht ungenaue Zahl. Die Lebensdauer soll von der Temperatur abhängig sein, vielleicht saß sie deshalb in der Sonne.

Man kann sagen, sie liegt in der Sonne, denn ihre Beine sind ausgestreckt, der Bauch liegt auf der warmen Unterlage. Sie richtet sich auf und mit einer nicht erwarteten Geschicklichkeit streicht sie mit ihren hinteren Beinen, aus welchem Grund ist nicht zu erfahren, über ihre Flügel. Man sieht mit Erstaunen, wie sie auch die Oberfläche der Flügel erreicht. Sie spreizt sie auch wie Tragflächen eines Deltajets.

Ich liege im Wintergarten in der Sonne. Sie kommt zu mir auf die Hosenbeine und sonnt sich.

Ich gehe in den Keller, sie folgt mir, auch als ich wieder hinaufgehe.

Wenn ich für sie offensichtlich nicht da bin, folgt sie meiner Frau, wohin diese auch geht, natürlich auch in die Küche.

Ich nehme an, sie hat uns mit ihrem Geruch- und Tastsinn identifiziert.

Das Eigenartige ist, wenn sie nicht sichtbar ist, suche ich sie und habe Angst, sie könne nicht mehr da sein. Es sind vierzehn Tage, in denen sie uns lieb geworden ist.

Heute, am 13. Mai 2014, ist das Wetter wechselhaft, Sonne, Wolken und Regen ziehen regelmäßig über unseren Wintergarten hinweg, das Dach besteht aus einer großen Glasfläche, die jeden Sonnenstrahl durchlässt.

Die Musca, die erst auf meinem Hosenbein Platz genommen hatte, wechselte, als ich aufstand, auf den Sessel. Als ich später wieder erschien, saß sie auf dem Stoff der senkrechten Lehne des Sessels und wartete weiter auf Sonnenstrahlen, die aber nicht mehr kamen.

Warum schreibe ich dies? Ich bewunderte schon immer, wie für uns so unauffällige Wesen, mit meist ganz kurzem Leben, überhaupt existieren können. Selbst ihre Zukunft ist viele Male unsicherer als unsere. Bemerken sie eigentlich ihre Existenz?

Eine Fliege wie sie wird doch, sobald einer sieht, wo sie sich niederlässt, erschlagen.

Heute Morgen, 14. Mai. Ich suchte sie, fand sie aber nicht sofort. Sie saß auf einem Stuhl. Ich wollte sehen, wie schnell sie wegflog, ich hatte den Eindruck, sie war nicht mehr so flink. Noch mehr staunte ich, als sie nichts vom Frühstückstisch essen wollte. Wie alte Menschen, die nicht mehr weiterleben wollen, hatte sie keinen Hunger. Vielleicht habe ich sie zum letzten Mal gesehen.

Über diese Wesen macht sich kaum einer Gedanken. Ich selbst kann mir nicht erklären, woher mein Mitgefühl kommt, dass ich mir Gedanken über die verschiedensten Tiere mache und ihre Zukunft und ihr Schicksal mich interessiert.

Ich habe sie nicht mehr entdeckt, wahrscheinlich ist ihr kurzes Leben zu Ende. 15-5-2014.

19-5-2014. Ich habe sie gefunden, sie lag auf dem Rücken im Wintergarten am Boden. Ihre Flügel in Deltaform. Eigenartig, wir hatten sie vermisst, jetzt kennen wir ihr Leben und ihr Ende.

Vorsicht: Unartige Notizen

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