Читать книгу Der Tod des Houke Nowa - Eike Stern - Страница 4

2. Kapitel

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Bis zum Morgen wälzte er sich unruhig hin und her. Der Schlaf, den er fand war oberflächlich und wenig erholsam, doch niemanden interessierte das. In aller Frühe brach Houke auf zu den Anlegern. Schweren Herzens hatte er darauf verzichtet, seinen Hamster mitzunehmen, und das tiefbraune Brackwasser im Hafenbecken stank nach frischem Fisch, fauligem Tank, Schweiß von tausend Männern und teerigen Tauen. Ein Hauch von Farbe auf trockenem Holz mischte sich darunter und der scharfe Dunst rostiger nasser Eisenteile – er sog alles in sich auf, auch das süßliche Aroma aus einem Lagerschuppen, in dem eine Kiste Obst vergammelte. Er schmollte mit sich und dem ihm aufgebürdeten Schicksal, und verschwendete keinen Gedanken daran, wie es seinem treuen Begleiter schmeckte. Sein Vater hatte Schnotto freigelassen, und er hatte sich, dem Gesetz getreu, täglich bei seinem Patron zu melden und blieb auch danach sein Freund. Houke behandelte ihn eher wie einen Hörigen. Er genoss es wie ein Geschenk der Götter, zu einer kleinen Oberschicht zu zählen, die auf ihre Sklaven baute und keinen Handschlag selber verrichtete. Schon ein Handwerk auszuüben, hieß der arbeitenden Schicht anzugehören, und der beste Meister wurde nur geringschätzig geduldet in seinen Kreisen. Reichtum galt als höchste Tugend.

Ein betrunkener Hafenarbeiter rülpste Wein aus und Houke wandte sich angeekelt ab. Am Südende der Marktstraße rasselte die zweiteilige Brücke herunter; Karren rollten über die Hafeneinfahrt. Drüben begann die Welt der Werften, Werkstätten, Lagerhallen und Schuppen. Im kühlen Schatten der Säulen am Kai saßen Kaufherren und rechneten, und ihre Schreiber prüften die Schiffslisten, schrieben Briefe und Wechsel und statteten von hier die Schiffe aus. Gewöhnlich mied er die Stelle am Kai, wo ihre Holka vor sich hindümpelte. Braungebrannte Arbeiter im roten Schurz turnten auf dem Deck herum und verstauten schon die Elefantenzähne im Laderaum. Eigentlich hatte er die alte Holka größer in Erinnerung. Selbst eine egyptische Feluke maß zwei Schritt mehr vom Kiel bis zur Heckflosse.

Die Aufsicht führte Larban, gekleidet in einen rubinroten Leibrock im Hammerschlagmuster. Ein schmieriges Lächeln umspielte seine dünnen Lippen.

„Wir müssen darüber reden, wohin überhaupt“, ging ihn Houke großspurig an.

„Müssen wir nicht“, belehrte ihn Larban. „Es geht nach Pi-Ramesse, zum Markt der Handwerker. Ich weiß um einen Elfenbeinschnitzer, und den treiben wir auf.“

Houke ballte die Fäuste, da sein Gegenüber offensichtlich besser über alles im Bild war als er. Der bärenstarke Mann mit dem Walrossbart war um die breite Brust stark behaart. Er bediente nicht nur seit über elf Jahren die Ruderpinne, sondern gehörte schon halb zur Familie. Aus skeptisch zusammengekniffenen Augen musterte er ihn. „Damit eines klar ist. Du und dein Lakai, ihr seid Decksleute wie alle und werdet euch krumm machen wie alle!“

Als Houke die Augen schloss und im Geiste bis fünf zählte, richtete sich Larban schnaufend zu voller Größe auf und ließ kopfschüttelnd seinen Unmut heraus. „Ach Junge, ich habe deinen Vater schon über dein störrisches Verhalten weinen gesehen. Erzähle mir nichts! Du willst mit? Na gut. Wir laufen gleich aus.“

Dieser Mann verachtete ihn. Das wusste jeder. Er hatte gelernt damit umzugehen, aber es einfach auszublenden gelang ihm nicht. Der Vorsatz, die Reise trotzdem als eine willkommene Abwechslung zu betrachten, zerstob in bedrückender Ernüchterung. Ärgerlich winkte er den Freund zum Brettsteg, um sich schleunigst unter Deck zu verdrücken.

Niemand folgte, und die beiden richteten sich die für sie reservierte Kabine her und saßen anschließend beisammen im spärlichen Licht einer Tranfunzel. Houke sah seinem Freund Schnotto an, dem brannte einiges auf der Zunge, und ihm widerstrebte, darüber zu reden. Mit dem Daumen rieb er zärtlich einen walnussgroßen Jadestein und hing geistesabwesend trüben Gedanken nach.

„Von wem?“, fragte Houke kurz angebunden.

Und es folgte eine weitere Ernüchterung. „Alda sagt, er hat ihr Glück gebracht“, entgegnete der Freund treuherzig. Einzusehen, dass Alda einen Freigelassenen seines Vaters ihm vorzog war niederschmetternd, aber er wusste seine Enttäuschung zu überspielen. „Glück?“, wiederholte er und schlug sich belustigt auf den Schenkel. „Wir brauchen kein Glück, sondern opfern Zeit, für die ich bessere Verwendung hätte. Das stört mich, sonst nichts.“

Wie in sein Schneckenhaus zurückgejagt kräuselte Schnotto die Lippen und ließ resignierend die Schultern sacken. Meist merkte Houke das gar nicht, diesmal durchaus.

„Du hast Angst?“, fragte er leise. „Und wenn schon. Nur Prahler und Dummköpfe kennen keine Angst, aber lass dir sagen, Larban bleibt auf seinen Fahrten stets in Küstennähe. Das gab mir mein Vater auf den Weg.“

„Mir ist elend“, hielt sein Freund mit wachsbleichen Zügen dagegen. „Ich möchte nicht wissen, wie es sich anfühlt, wenn es windig wird und wir sind richtig auf See.“

„Solange man noch einen Strich vom Festland sieht, kann man den Schutz der Küste suchen“, beruhigte ihn Houke.

Schnotto blickte bedeutungsvoll auf das schmucke Specksteinstück, das Houke vom Hals baumelte. „Du trägst ja selber einen Talisman.“

„Das ist der Siegelzylinder meines Vaters“, belehrte ihn Houke und erhob sich. „Komm, dem Seegang nach sind wir schon weit draußen auf dem Meer. Überzeugen wir uns doch, ob man die Küste noch im Auge hat.“

Als er sich daraufhin genauer an Bord umschaute, schaukelte der Boden unter seinen Sandalen, aber er fing sich und lernte, sich an Bord fortzubewegen, während ihm eine feuchte Briese um die Ohren wehte, die in den Augen brannte wie Salz.

So begann für Houke das Abenteuer seines Lebens - und alles verlief anders als sein Vater oder er es sich ausgemalt hatten. Noch war durchaus ein dünner Strich vom Festland in Sicht, doch gegen Nachmittag passierten sie einige, dem Festland vorgelagerte Felsinseln, und hinter denen rückte ein dunkles Segel auf den Horizont. Der starke Mann an der Ruderpinne erblasste, als hätte ihn die Seekrankheit gepackt. „Die segeln ohne Flagge“, hauchte er tonlos.

Houke wunderte sich, wie gut er mit dem schwankenden Boden klar kam, wenn er sich am Mast aufhielt. „Und das bedeutet?“

„Dass es Schwertfischer sind.“

Houke schluckte. „Seeräuber? Haben wir eine Chance, ihnen davon zu segeln?“

Finster schüttelte Larban den Kopf.

„Dann müssen wir uns verteidigen. Gib Waffen aus!“

„Wenn du welche hast, immer her damit“, erwiderte der Glatzkopf trocken. „Ich wünschte, ich hätte wenigstens selbst ein Enterbeil.“

Langsam wurde der Takthammer der Bireme hörbar, und sie zog in scharfem Rudergang mit ihnen gleich. Wilde Gestalten sammelten sich um den Kielbogen, mit Messern im Mund und der Enteraxt in der Faust, und in Houkes Magen rumorte die Angst. Jeder wusste, sie legten vermutlich wenig Wert auf Gefangene, und suchte hitzig nach irgendetwas, das sich eignete, damit zuzuschlagen. Houke hatte das bronzene Kurzschwert seines Vaters zur Hand, sein Freund Schnotto ein weniger schlagkräftiges. Andere waren auf ihr Messer angewiesen, von denen Larban noch rasch ein Dutzend verteilt hatte. Schon schwangen sich die ersten Enterer aufs Schiff, und ein drahtiger Seemann drang mit einem Sichelschwert auf sie ein. Houke fing den Hieb auf, dass es klirrte und er erbebte. Aber sein Gegner drehte ihm routiniert den Arm nach hinten, bis er die Klinge fallen ließ. Als er aufschaute, wälzte sich sein Freund mit aufgeschlitzter Kehle am Boden und spie zuckend Blut. Für diese rauen Gesellen fand sich außer Larban kein einziger ernsthafter Gegner, und obwohl ein Großteil bald kapitulierte, machte man die meisten mit exakt plazierten Stößen oder Streichen einfach nieder. Auch Larban zwangen sie schließlich die Hände auf den Rücken, das entschied den Kampf. Nur Houke und ihn ließ man am Leben, wohl weil sie auffällig kräftig gebaut waren. Den Grund für die einkehrende Totenstille lieferte ein blondbärtiger Hüne in einem vom Wind geblähten, weißen Mantel und blanker Phrygermütze, bei dessen Erscheinen alle anderen die Waffen senkten. „Ich bin Suteman“, brüllte er. „Und ich stelle euch, die ihr auf diesem Kahn gearbeitet habt, vor die Wahl: Schließt euch uns an, oder geht mir aus den Augen.“

Es bedeutete den Sprung ins Meer, und Houke konnte froh sein, dass man ihn für einen gewöhnlichen Decksmann hielt. Doch er rang um Atem. Ihm bibberten die Knie in seiner Todesangst, und er wählte den Weg der Schande, stellte sich geschwind zu Larban.

Ein eigentümlich entspanntes Lächeln umspielte den Mund des Piratenhäuptlings und verlieh ihm einen grausamen Zug. Prüfend blickte er Houke in die Augen und fuhr ihn kehlig an. „Du willst es bei uns versuchen? Na dann, beim Zerberus, zeigt mal, was in euch steckt!"

Er schaute vielsagend am Mastbaum empor. „Holt das Segel runter. Mal sehen, wie ihr euch anstellt."

So kam es, dass Houke hinter Larban die Strickleiter am Mastbaum erklomm, und er bat ausgerechnet ihn, den er vor einer Stunde noch hasste: „Im Namen meines Vaters, der dich zu dem machte, was du bist - bitte hilf mir. Was muss ich tun?“

Larban hatte sich vom Decksmann hochgearbeitet und wies ihm die Riemen, die das Segel an der Rahe hielten. „Einfach den Knoten lösen, und wenn du ihn durchbeißt.“

Das rettete Houke sein Leben. Das Tuch schlug flatternd auf Deck, und er konnte mit klopfendem Herzen hinabturnen. Da, wo sein Freund verblutet war, blieb eine glitschige Lache vor der Reling zurück. Man hatte Schnotto, ebenso wie die anderen Toten, einfach über Bord geschmissen. Es kostete Überwindung, dem ehemaligen Schiffsführer „danke“ zuzuflüstern, und er kam sich charakterlos vor und schämte sich seiner Schwäche. Aber danach war alles anders. Die um den Mast verstreuten Seeleute nickten ihnen anerkennend zu, und er konnte aufatmen. Inzwischen gingen einige Leute dazu über, die erbeuteten Stoßzähne aus dem Laderaum zu ziehen. Andere reichten sie denen zu, die auf der Galeere verblieben, und auch das Segel nahm diesen Weg. Houke sah ohnmächtig zu, da klopfte ihm ein Bursche mit auffällig starker Nase und jugendlichen Zügen freudig die Schulter. „Ich bin Joktan, bis eben der Jüngste in der Mannschaft." Er hatte die unergründlichen Augen eines Puniers. „Du hast mich aus meiner Rolle erlöst“, fügte er hinzu und grinste diebisch.

Houke fühlte sich schwindelig. Alle Hoffnungen, die sein Vater in ihn setzte, platzten wie eine Seifenblase, sein Leben hatte jeden Sinn verloren. Er fühlte sich hilflos wie ein verwöhnter Junge, den das Schicksal ins kalte Wasser beförderte, und so war es ja auch. Keiner musste ihm sagen, dass er für das Leben auf einem Segler ohne Flagge nicht taugte. Betrachtete er sein bisheriges, unbeschwertes Dasein, überkam ihn Wehmut, denn nun gehörte ihm bloß noch, was er am Leib trug. So schlug er in die gereichte Hand ein. Als das brennende Schiff seines Vaters in der Dämmerung entschwand, saß Houke mit Joktan am Mastbaum eines anderen Schiffes, wo haufenweise aufgerollte Seile lagen.

„Vor knapp einem Vierteljahr“, erinnerte sich Joktan, „trat ich eine Seereise an. Ich wollte nach Sardes, in der vorderen Westsee. Vor dem Mündungsdelta des Nils kreuzten wir den Weg dieses Schiffes, und im Vertrauen, ich reckte gleich die Hände hoch, zum Zeichen der Aufgabe. Dafür schäme ich mich nicht, wäre schließlich tot sonst. Fiel mir schwer, in dieses Leben hineinzufinden, aber man lernt zu kämpfen und setzt alles dran, irgendwie zu überleben. Keiner zwingt dich, die härtesten Gegner anzugreifen. Du musst dir beim Entern einen ausgucken, der schwächer ist. Dafür kriegst du einen Blick, wirst schon sehen.“

Er zwinkerte wie mit allen Schlichen vertraut, und Houke verstand. „Eigentlich ist das feige, aber nicht unklug.“

„Du musst, bricht der Spektakel los, den Überblick bewahren“, riet ihm Joktan.

Houke überdachte den Rat und fand das vernünftig. Aber ehe der nächste Tag anbrach, sollte er eines Besseren belehrt werden. Der Vollmond badete alles auf Deck in Silber, für Mitternacht war es seltsam hell. Houke lag zusammengekrümmt am Mast und versuchte vergeblich, innerlich zur Ruhe zu kommen - ohne sich bewusst zu sein, dass er unter allen, die an Deck schlafen mussten, den besten Platz belegte. Am Mastbaum spürte man den Seegang kaum, und er wäre bald eingenickt, da stellte sich ein nackter Fuß an die Seile, und er schaute an Joktans behaarten Beinen hoch. Hasdrubal aus Tyros leistete ihm Gesellschaft; einer von denen, die seit Jahren zur Mannschaft gehörten. Sein Kinnbart duftete stark nach frischer Salbe. Von der Kleidung her hätte Houke ihn für einen vornehmen Menschen gehalten, was leider trügte.

Auch ein junger Armenier, den er der Nase nach für einen Hebräer gehalten hätte und der aus Karkemisch stammte, gesellte sich mit einem angenehmen Lächeln hinzu, sowie ein weißhaariger Greis mit Tränensäcken unter den Augen, dem die Verschlagenheit in den Augen lauerte. Es war kein Zufall, wenn sie hier am Mast zusammenfanden. Für diese vier gab es in der Nacht nach einer Kaperfahrt ein traditionelles Spiel. Hasdrubal zog geschwind einen Kreidestrich aufs Deck, und sie versuchten von einem bestimmten Punkt einen Gegenstand, der ihnen teuer war, über die Linie zu werfen. Wer am dichtesten an der Linie blieb, konnte die Gegenstände, die weiter entfernt landeten, gelassen einsäckeln. Mit wertlosem Plunder aufzuwarten hätte niemand auch nur zu denken gewagt, und Hasdrubal versuchte es mit einem polierten Stück Bernstein. „Hier“, bemerkte er lachend, „ein Andenken an Sardes.“

Ein verächtliches Lächeln ging um, und die kleine Gemme aus Obsidian, die der Armenier warf, rutschte dichter an den Strich, keine Fingerkuppe hätte noch dazwischen gepasst. Houke überlegte, was er entbehren könnte, da kullerte ein walnussgroßes Jadestück zur Linie. Houke starrte Joktan offenen Mundes an. Sein Freund Schnotto hing an diesem Stein, und er musste unwillkürlich an eine gemeinsame Freundin mit rabenschwarzem Haar denken, um die er den Freund heimlich beneidete. Leise fragte er: „Hast du den, dem das Jadestück gehörte, selber getötet?“

„Sonst hätte es ein anderer getan“, schnarrte Joktan über die Zähne. Und Houke musste sich bezähmen, ihm nicht vor die Füße zu spucken. Es hingegen wortlos zu schlucken hätte ihn den letzten Rest Selbstachtung gekostet. „Jetzt begreife ich, was du vorhin meintest“, fuhr er ihn an. „Du wusstest genau, du hast leichtes Spiel bei ihm und warst Schnotto überlegen wie ein Schakal dem Hasen. Mann, er ist mein Freund gewesen, und dich kann man nur einen erbärmlichen Feigling nennen!"

Der Beschuldigte lächelte böse und erklärte den Umstehenden kaltschnäuzig: „Man sollte ihm den Mund zunähen!“

Houke musste erkennen, wie beliebt Joktan an Bord war. Die unbefangene Sympathie, die jedem Neuen anfangs zuflog, wurde bei diesem Wortwechsel zu Asche. Die heimliche Zuversicht, früher oder später würde er sich eingewöhnen, gefror auf seinen Lippen. Er stahl sich aus ihren Augen, kauerte sich in eine Nische, vollgestopft mit Segeltuch, den Kopf in die Hände vergraben, sehnte sich nach seiner Mutter und drei liebenswerten Schwestern und dachte an die geborgene Behaglichkeit, die allein bei Lampenlicht im Kreis der Familie aufkommt. Sein putziger Hamster fiel ihm ein und Alda. Kaum jedoch umfing ihn gnädiges Vergessen, flackerte die Erinnerung an einen schlimmen Tag der Kindheit durch sein Denken. Er erinnerte sich lebhaft einer Nacht, in der fanatisch johlende Scharen mit Knüppel und Sichel die Gärten durchkämmten und über die zahllosen Katzen von Aschkelon herfielen. In versteckten Schlupfwinkeln der Hafenschuppen und Hinterhöfe vermehrten sich die streunenden Tiere über Jahre ungestört, um in einem barbarischen Befreiungsschlag auf ein erträgliches Minimum reduziert zu werden. Ein scheußliches Bild spukte Houke da im Kopf herum, und seine älteste Schwester vertraute ihm damals etwas an, das ihn für länger erschütterte als der Katzenjammer. Ihm fielen die namenlosen Geschwister ein, die es auszubaden hatten, nach ihm geboren zu sein, und die von daher das Los traf, als Säugling im Rinnstein zu landen. Sollten sie nicht erfroren sein oder verhungert, könnte sich ein barmherziger Nachbar ihrer angenommen haben… Es blieb ein sorgsam gewahrtes Geheimnis zwischen ihm und seiner ältesten Schwester Marissa, und er betrachtete seinen Vater nach dieser Neuigkeit eine Weile mit entsetztem Argwohn. Später sah er ein, alle handhabten das so, um die Vermögen zusammenzuhalten - oder aus Armut. So allmählich würde sein Vater in Erwägung ziehen, ihm könnte etwas zugestoßen sein. Sollte unter den Ausgesetzen ein Junge gewesen sein, dürfte ihn das bitter gereuen. Bei der Vorstellung fühlte sich Houke irgendwie um seine Zukunft betrogen, und die Aussichten auf Erfolg bei einer Flucht stufte er verschwindend gering ein. Obendrein fehlte jede Gelegenheit, so lange keine Möwe Festland ankündigte. Dachte er darüber nach, unter Umständen jämmerlich dabei ertrinken zu können, schnürte sich ihm bedrückend das Herz zusammen. Wenn es aber wirklich Götter gab, was er heimlich bezweifelte, blieb schleierhaft, weshalb sie ihn bestraften und auf dieses verfluchte Schiff verbannten.

Zur Mannschaft gehörten vierundzwanzig Leute, und er hielt sie alle für Schlächter. So blieb er einsam und für sich, obwohl er nicht allein an Bord war. Es schien niemanden zu geben, dem daran lag, sich mit ihm zu unterhalten. Falls er nichts unternahm, konnte er nachts, wenn alle an Deck schliefen, kein Auge mehr zutun. Die Gefahr, bei Nacht dem Meer übergeben zu werden, würde ihn künftig um den Schlaf bringen. „Mann über Bord“, würde jemand rufen – doch niemand würde ihn retten wollen. War er mit seinen Gedanken allein, sagte er sich, gegen die wüsten Gesellen, die sonst die Mannschaft ausmachten, war Joktan noch harmlos und im Grunde ein armer Tropf wie er. Aber er hatte eiskalt Schnotto umgebracht. Schon am zweiten Abend war Houke dem Verzweifeln nahe und fand wieder keinen Schlaf. Als die Sterne am Nachthimmel funkelten und er allein auf seinem Polster aus Segeltuch hockte, wuchs die Erkenntnis, es gab in dieser Mannschaft niemanden, der dazu im Stande war, sich in seine Lage zu versetzen, geschweige denn befähigt, Mitleid zu empfinden. Doch tat er einem Mann auf diesem Schiff bitter unrecht. Plötzlich baute sich einer der älteren Decksleute bei ihm am Mast auf. „Wer ein so hochmütiges Gesicht zieht“, hielt er Houke vor, „den sollte es nicht wundern, wenn keiner mit ihm reden will.“

Houke fuhr hoch und wunderte sich, jemand, den er für einen unverbesserlichen Seeräuber hielt, so freundlich schmunzeln zu sehen. Seine Augen waren klar und offen, wie die eines Menschen mit einem eisernen Willen. „Wie heißt du?“, fragte Houke aus trockener Kehle.

„Pollugs“, entgegnete jener. „Du meinst, es gibt unter den Flaggenlosen nur Mordbuben? Du irrst dich. Fast alle hier wünschten, sie könnten im nächsten Hafen an Land, und die Zeit bei den Schwertfischern hätte es nie gegeben. Das kannst du mir glauben oder nicht."

Houkes Wangen brannten vor Zorn, und er schwieg bockig. „Du bist ein verhätscheltes Knäblein ohne Grundsätze oder Ehrgefühl“, machte ihm Pollugs klar. „Aber es liegt an dir, ob das so bleibt. Du musst lernen, was du dir zutrauen kannst und dir selber Einhalt gebieten, wenn du spürst, dass du eine Grenze übertrittst, mit der du schwerlich leben kannst. Also, richte keinen hin, nur um Suteman zu gefallen oder damit in der Gunst der Mannschaft zu steigen. Das lohnt sich nicht.“

Ohne seine Antwort abzuwarten ließ sich der Mann mit dem zerzausten Vollbart bei ihm am Mast nieder und besann sich, wie es war, als er selbst ein allerersts Mal zur See fuhr – nämlich als Blinder Passagier. Auch von Nawbis, einer legendären Piratenstadt vor der Hethiterküste, erfuhr Houke durch ihn, und ausgerechnet hinter dem, den er anfangs für einen hartgesottenen Seeräuber einstufte, verbarg sich ein durch und durch gutmütiger Kerl, von dem man einiges lernen konnte. Er brachte Houke bei, wuchtig ein Enterbeil zu schmettern und zeigte ihm manchen Knoten. Und er genoss Ansehen unter den Schwertfischern, durch ihn wuchs Houke allmählich in die Horde der Freibeuter hinein.

Die meisten dieser Bruderschaft waren so wie Joktan, bis auf die Kittelschürze und ein paar Ketten oder eine Seidenschärpe nackt, aber Pollugs wies ihm jene, die zum Urgestein der Bruderschaft zählten und ein eitler Wahn ritt. Zum Beispiel Suteman. Sein bis auf die Knöchel fallender Mantel aus schneeweißem Leinen glich dem eines Karwan-Baschis, war über und über bestickt mit Goldschnörkeln und anrüchigen Symbolen. Würde er einem in einem Hafen über den Weg laufen, man hielte ihn für einen Stadtfürsten. Jeris der Hebräer, der genau genommen Jeremias hieß und einem mit der Peitsche einen Strohhalm aus der Hand zu schlagen vermochte, trug ein faltig fallendes Batikgewand, hauchdünn und reich bestückt mit zierlichen Silberschellen, wodurch ihn ein leises Klirren auf jedem Schritt begleitete. Bedun, eine Ausgeburt des Kaukasus, stach durch ein Bärenfell und seinen struppigen braunen Vollbart hervor. Houke mied ihn sorgsam, weil er häufig andere anpöbelte und den geringsten Anlass für eine Schlägerei leidenschaftlich nutzte.

Auch vor einem verschlagenen Syrer warnte ihn Pollugs ausdrücklich. Hiram trug einen nadeldünnen Ohrring mit dem Ausmaß eines Armreifs; seine ausgemergelten Wangen und der versteckte Husten, mit dem er dann und wann herausplatzte, sorgte für das Gerücht, er müsse Lungenkrank sein. Er mochte vierzig sein, wirkte allerdings weit älter und war Sutemans rechte Hand. Meistens zeigte er sich in seiner nachtblauen Samtjacke, doch er war eitel wie ein Paradiesvogel und putzte sich vielseitig heraus. Auch in dieser Hinsicht hob sich Pollugs von den anderen ab. Seine Kleidung bestand praktisch aus einem rotgefärbten Antilopenlederschurz und einem schlichten Schultergurt, an dem seine Doppelaxt baumelte und ein kurzes Bronzeschwert.

Die besinnlichen Momente, in denen sich Houke seines zahmen Hamsters erinnerte oder an Alda denken musste, oder sich vorstellte, was er zu seinem Vater sagen würde, wenn er ihm eines Tages wieder unter die Augen treten musste, die wurden nun seltener. Houke fing an, sich an den Alltag auf einem Schiff zu gewöhnen, fügte sich in das ihm abverlangte und orientierte sich an Pollugs. Kräftig gebaut war er schon als Knabe, aber die Einsätze auf der Ruderbank bewirkten, dass er auf einmal die Muskeln in seinen Oberarmen spürte. Mitunter geriet er leider aus dem Takt, und böse Stimmen erhoben sich, dann konnte er nicht beleidigt von der Bank hochspringen. Da galt es, die Zähne zusammen beißen und in den Rhythmus der rudernden Mannschaft zurückfinden. Nach einem rüden Schlag in den Nacken sah er das ein und gab sich Mühe. Und das zählte bei den Leuten. Was unerträglich zunahm, war die heimliche Angst vor der Stunde, in der er beim Entern dabei sein würde.

Der Tod des Houke Nowa

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