Читать книгу Der Tod des Houke Nowa - Eike Stern - Страница 8
6. Kapitel
ОглавлениеSeit drei Tagen verrichtete Larban wieder das, was er ehedem für das Haus Nowa tat. Er war der neue Steuermann und durch seine Idee mit dem Fischernetz zu Ansehen in der Bruderschaft gelangt. Die Landschaft des Nils wandelte sich ständig und doch nicht wirklich. Immer wieder heranreifende Felder und Kanäle, immer wieder Siedlungen aus Lehmbauten – dann zahllos Fischerhütten und Pfahlstege, und bei den Sandbänken nahe am Schilfdickicht ein halbes Dutzend Krokodile, die sich, von Fliegen umschwirrt, wie morsches Holz in der braunen Suppe ausnahmen.
Houkes Truhe blieb vorläufig unter der Kielflosse des Heckteils, wo auch die Standarte mit dem Wolfskopf ihren Platz hatte, die zur »Zerberus« gehörte wie der Mastbaum und die Tonne an deren Spitze. Joktan kletterte in den Ausguck, im Bordjagon das Möwennest. Wenn er damit Archaz ablöste, bedeutete es nicht, dass der sich nun zu Houke und Semiris gesellte. „Was hat Archi so verdreht“, fragte Semiris leise.
Houke zuckte mit den Schultern. „Er schneidet mich wie einen Leprakranken. Ich überlege, ob ich ihn gekränkt habe.“
Er merkte Semiris an, sie war bedrückt, ihr Atem klang gestresst. „Da ist etwas im Busch“, stellte sie fest und seufzte gedehnt.
„Ja, beunruhigend, die Stimmung. Ob es ist, weil ich mich zweimal beteiligt habe, beim Wurf auf den Strich? Sie könnten es falsch verstanden haben.“
„Du hast es mit geilen Böcken zu tun, hielt sie ihm vor Augen. „Mit tumben Holzköpfen, ohne jedes Schuldbewusstsein.“
Houke schüttelte den Kopf, denn verhielt sich seine jüngste Schwester Melis so, pflegte seine Mutter zu sagen - lass sie, die trotzt. „Sich zu schämen, bedarf es Anstand und einer gewissen Reife.“
„Möglich, aber sie sind sich einig, und mir gefällt nicht, wie hämisch der Assyrer grinst, sobald ich ihn zufällig ansehe.“
Ihre Augen suchten Ablenkung auf einem Dreschplatz am Nilufer. Schemenhaft hoben sich in golden flitternden Schleiern etliche Feldarbeiter ab, die durchgedroschenes Korn hochwarfen. „Was treiben die?“
Um eine Auskunft war Houke nicht verlegen. „Der Wind trennt Spreu und Weizen.“
Zögernd nickte sie. Vor dem fernen, hellblau verklärten Bergkamm trat der Urwald ans Ufer und bildete eine lebhaft umstrudelte Halbinsel im Strom.
Als sie die ins Wasser hängenden Büsche streiften, erhob sich eine Wolke blauschwarzer Schmetterlinge. Dahinter bahnte sich eine Lichtung an. Zahllose spindeldürre Holzarbeiter in ärmlichen Kilts hackten das Geäst von einem jüngst gefallenen Urwaldriesen oder waren darin vertieft, mit Bronzeklingen die Rinde abzuschälen.
„Es wurmt mich“, stellte Semiris ernst fest, „andauernd weiter stromauf zu segeln. Ja wohin denn? Wollen die denn zur Quelle des Nils?“
Houke schmunzelte breit. Noch bewahrte sie sich offenbar einen Rest Humor. Doch je näher der Abend rückte, desto deutlicher merkte er ihr an, sie fürchtete sich davor, dann wieder von Hiram als Ruhekissen für die Nacht angepriesen zu werden wie Sauerteig,. Die Blicke, die alle ihr nachwarfen, waren lüstern, und man spürte, welchen Hoffnungen sich der Sarde hingab, wenn er ihr dann und wann auf das Gesäß glotzte. Houke konnte nachvollziehen, wie ihr bei dem Gedanken an Kirsa das Herz schlug. Immerhin wurde sie vor der anwesenden Mannschaft vergewaltigt vom Assyrer. Volle vier Tage waren verstrichen, seit sie die Kapitänskabine unter Deck verschluckte, die ihm Hiram vermutlich für einen Ring zur Verfügung stellte.
„Warum kann ich nicht mit einem Schwert umgehen wie Pollugs“, seufzte er. Da kam einer von der Mannschaft zu ihnen, als gäbe es etwas, dass auch er wissen müsste.
Der Berber verlor kein Wort zuviel. „Du bist dran mit Wache schieben.“
Houke atmete dumpf aus. „Kommst du mit?“, fragte er tonlos, und sie nickte. „Meinst du, ich bleibe allein oben?
Er überließ Semiris den Korbsessel und hockte sich neben die Tür. „Ich bin wieder da“, begrüßte er den Gefangenen.
„Oh“, sagte die vertraute Stimme überrascht, „mein junger Freund?“
„Ja“, hauchte Houke und sprach ohne Umschweife aus, wie es ihnen inzwischen erging. „Wir waren zu viert. Jetzt sind wir nur noch zwei. Und du könntest uns helfen.“
„Ich dachte, du wolltest mir helfen“, erinnerte ihn der Atlanter.
„Ja, wenn es sich ergibt, kannst du auf mich rechnen. Dabei wäre alles leichter, wenn du so tust, als wärst du bereit, bei der Bruderschaft mitzumachen.“
„Mein Freund, glaubst du, mir wäre das nicht ebenso in den Sinn gekommen? Das ist eine Sache des Ehrgefühls und eine Charakterprobe. Mache ich mit, bin ich selbst nicht besser, und man könnte es mir später vorwerfen. Deshalb nicht.“
„Keiner würde davon erfahren. Warum also?“
„Es geht um Wahrhaftigkeit. Ich weigere mich, einfach alle Grundsätze über Bord zu werfen, bloß weil das bequemer wäre. Wer anders denkt, ist ein bigotter Heuchler und wertlos wie ein Blatt im Wind.“
Houke konnte es nicht nachvollziehen. Für Momente hing er wieder seinem Problem mit den anderen an Bord nach und versuchte, sich von den bösen Träumereien zu befreien, indem er sich ablenkte. „Wie heißt du?“, fragte er.
„Decgalor“, entgegnete der Atlanter. „Die Leute hier an Bord würden Desgalor sagen, aber das «S« wird nur ganz kurz und scharf berührt. Im Gegensatz zum Punischen verfügt unsere Sprache nämlich über einen Buchstaben mehr, wie du hörst, wenn du meinen Namen richtig aussprichst.“
„Und du bist ein Prinz?“
„Das will ich meinen. Der Sohn des Phöbos. Meine rechte Hand möge mir verdorren, sollte ich lügen. Aber da dich mein Wohl zu interessieren scheint, könntest du mir etwas zu essen besorgen? Sie lassen mich fasten, damit ich einer von ihnen werde.“
„Jetzt?“
„Ich habe Hunger“, drängte Decgalor – und Houke beeilte sich.
Kaleb war nicht allein der Schmied und der, der Zähne ziehen konnte, er war zudem der Koch. Unwille zuckte um seinen Mundwinkel, als sei es ihm peinlich, mit Houke zu reden. „Du hast deine Schüssel mit Saubohnen bekommen.“
„Du versäumtest, mir ein Stück Brot zu geben.“
„Die Stücke waren abgezählt“, fuhr der alte Vollbart ihn barsch an, aber gab ihm doch ein kleines Fladenbrot.
Als Houke die Tür spaltbreit öffnete, schob sie der Atlanter weiter auf, und Houke ließ ihn gewähren. „Keine Angst mein Freund, ich verschwinde gleich wieder in meinem Huck. Ich möchte dich nur einen Moment als Menschen vor mir sehen.“
Decgalor musterte ihn und sagte, „du siehst nicht schwach aus, und du hast ein großes Herz. Ich werde mich einmal an dich erinnern.“
Dann biss er in den Fladen, kaute in Ruhe aus und nickte ihm freundschaftlich zu. „Ich habe drei gute Freunde in meiner Heimat, und du sollst auch dazugehören.“
„Wer sind deine Freunde?“
„Fyfatrus ist einer mit einem Auge für das Wesentliche, ein wenig schwermütig manchmal, aber scharfsinnig. Und er pflegt seinen Kinnbart wie Frauen ihr Haar, alle drei Tage stutzt er ihn. Mit ihm und Feïgistos habe ich oft im Garten des Poseidon Äpfel vom heiligen Baum gestohlen.“
Langsam fing der Fremde an, Houke sympathisch zu werden, denn er war so offen, und es schien ihm ernst zu sein, mit seinem Streben nach Wahrhaftigkeit.
„Der andere heißt Fimago, ein entfernter Verwandter und der Künstler in unserem Quartett. Gib ihm den Meißel und einen Block Porpyr, und er treibt ein Gesicht heraus, lebensecht, als wäre jemand versteinert.“
„Und zu welcher Rasse würdest du dich und deine Freunde zählen?“
„Wir stammen letztlich von Siedlern aus Sidon ab. Sidonische Seefahrer gründeten Tartessos an der Küste der Westsee, und Atlantis war ursprünglich eine Tochterstadt von Tartessos, ehe es selbst zu einer Metropole wurde.“
„Sidon liegt unter der Hethiterküste“, fiel Houke ein. Und sie unterhielten sich über Stunden, während Semiris im Korbsessel ihren Schlaf nachholte. Als der Sarde eintraf, die Wache zu übernehmen, kündigten gerade einige Erschütterungen von der Decke her an, eben gingen die ersten am Mast vor dem Strich in Wurfstellung. Semiris schlief. Ungern weckte sie Houke, doch es musste sein. Andernfalls hätte man sie gleich geholt, und an seiner Hand traute sie sich dann an Deck. Nach den Blicken des Assyrers war Houke nicht gern gesehen, sie aber willkommen, und Houke spürte, sie war eben noch der Inhalt des Gesprächs, das alle verband. Eigentlich wollte er sie fragen, ob sie seine Frau werden wollte und sie vielleicht in Abu Simbel fliehen könnten, doch das lag in weiter Ferne. Alles stand zum Abend wieder auf Messers Schneide, denn der gesunde Menschenverstand sagte ihm, er würde nicht jedes Mal besser abschneiden als alle anderen beim Wurf nach der Linie. Sie verzogen sich zunächst zu Larban, an den gewohnten schattigen Fleck unter der Heckflosse, am Ruder, da Sanherib noch auf sich warten ließ. Archaz wich seinem Blick aus, dachte Houke, und fand es schwer, mannhaft aufzutreten. Wenigstens hatte in ihrer Abwesenheit niemand Hand an die Truhe gelegt, wie er sich sogleich vergewisserte. Die Seidentücher lagen noch unberührt und gefaltet unter dem Bärenfell, ebenso die Kette, die er Semiris schenken wollte, wenn sie irgendwann einmal allein wären. Plötzlich ertönte wehmütiger Gesang aus dem Bauch der Bireme, und es war unverkennbar Kirsas eigenartige Stimme. Semiris rang um Atem. Es bedeutete das langersehnte Lebenszeichen, auf das sie heimlich gelauert hatte.
„Das ist sie“, hauchte sie und stieß Houke triumphierend den Finger an die Brust. „Ich sags doch, sie lebt.“
Die Augen geschlossen lauschte Houke bewegt, da erstickte Kirsas Stimme. Ein klägliches Aufheulen wurde laut und verebbte wimmernd. Beengt stöhnte Houke auf, und ihm zitterten die Hände, als er sich leicht verspätet wie alle am Blutstrich einfand. Semiris schmiegte sich vor der hämisch gaffenen Menge schutzsuchend an ihn, aber diesmal hatte er Pech: Sanherib gewann Semiris für die nächsten fünf Tage und Nächte und erschien umgehend unter der Heckflosse, um seinen Gewinn abzuholen.
Houke zog durch die Zähne tief Atem ein, denn er wusste: Er und kein anderer musste einschreiten. „Sanherib“, sprach er den Assyrer beherzt an. „Ich biete dir die Truhe samt Inhalt, falls du sie mir lässt, bis wir wieder hier zusammenkommen.“
Es war ihm spontan über die Zunge gerutscht, doch der grimmige Mann im Schuppenhemd kratzte sich die Adlernase und willigte ein. „Viel Spaß, aber danach macht sie für mich die Beine breit.“
Houke hätte ihn anspucken mögen, doch so dumm wäre er vielleicht mal gewesen, er war es nicht mehr. „Fünf Tage haben wir gewonnen“, erlöste er Semiris und berichtete von dem kleinen Handel, von dem Sanherib den anderen kaum jemals etwas verraten würde.
An den abweisen Gesichtern und der Art, wie er bei allem, was er sagte, kurz abgefertigt wurde und vor allem an Archaz‘ Verhalten erkannte er, es musste zu einer Absprache unter der Mannschaft gekommen sein, zumal man ihn geschlossen wie einen Unwerten behandelte. Es erschwerte das Leben, unter diesen Umständen sich selber treu zu bleiben. Er fragte sich ernsthaft, wo Kirsa blieb, selbst wenn Sanherib sie verprügelt haben mochte, und schaute beunruhigt in den Sonnenuntergang. Semiris nickte ihm zu. Auch ihre Gedanken drehten sich einzig um die Freundin. „Warum“, fragte sie sich resignierend, „springen wir nicht einfach ins Wasser und schwimmen zum Fischerdorf hinüber?“
Houke blies schnaufend die Schweißperlen von dem Bart, den er sich neuerdings auf der Oberlippe wachsen ließ. „Möglich, dass Kirsa das auch erwog.“ Er wies ihr an einer übersonnten Sandkerbe im Schilfstrich zahlreiche knorrige Erhöhungen im Wasser, und zwischen jeder einzelnen funkelten kleine, wachsame Augen. „Die Krokodile würden sich freuen“, sagte er tonlos
„Nein, sie lebt noch“, warf sie ihm gereizt zu.
Sein Mund zuckte und verzog sich erbittert, und er überwand sich ehrlich zu sein. „Warum hat keiner nach ihr gefragt, vorhin am Blutstrich?“, entgegnete er vorsichtig.
Nicht lange, und sie fragte ihn erneut: „Und wenn wir jetzt springen? Du weißt, du hast mir etwas versprochen. In ein oder zwei Tagen wären wir zurück zu der Siedlung von eben. Von dort könnten wir uns leicht zur Küste durchschlagen. Es gibt Lastkähne und Ochsengespanne. Zur Not gehe ich zu Fuß.“
„Das ist Sumpfland hier, das Revier der Krokodile und Nilpferde, aber wir werden auch wieder in bewohnte Gebiete kommen. Ich habe Bedun von Abydos reden hören. Gegen Nachmittag sind wir da, meinte er zum Sarden.“
„Verstehe mich nicht falsch“, eröffnete ihm Semiris. „Ich sage dir, ich springe dort ins Hafenbecken und versuche abzuhauen.“
In ihren dunklen Augen war wieder ein Hoffnungsschimmer. „Und? Kommst du mit?“
Nur eines ließ ihn zögern: Auch Decgalor hatte er etwas versprochen. Er hatte sich vorgenommen, ihm zu helfen, und er erwog dieses Ehrenwort in Abydos zu halten.
Semiris weckte ihn aus seinen Überlegungen. „Weißt du, ich war mein Leben lang eine Sklavin. Als kleines Mädchen habe ich das nicht einmal besonders schlimm gefunden. Erst als ich mich körperlich zur Frau entwickelte, begriff ich, worin das Leid der Sklavinnen wirklich besteht. Dabei hatte ich mit einem Tattergreis wie Nikia noch Glück. Ich musste ihm zu Willen sein – sicherlich, aber er achtete mich doch. Und was sich kürzlich auf diesem Schiff abgespielt hat, flößt mir Angst ein. Dieser verlotterten Meute ist alles zuzutrauen und ich möchte nicht durchmachen, was Kirsa mit Sanherib widerfuhr. Eher sterbe ich. Wo ist Kirsa? Ich weiß, sie lässt mich nicht alleine fliehen.“
Es vermittelte Houke das unbestimmte Gefühl, ob er mitkam war für sie eher unerheblich. „Wir müssen mit allem rechnen“, versuchte er sie auf das Schlimmstmögliche einzustimmen.
„Was meinst du?“ Semiris Gesichtsfarbe wurde fahl.
„Ganz einfach, ich frage mich, warum Sanherib zwar wieder bei den anderen mitmischt, aber kein Sterbenswörtchen über sie oder ihren Verbleib verliert? Hiram findet es nicht der Rede Wert und schweigt sich mir gegenüber aus. Außerdem kränkt es mich, von dir zu hören, du würdest auch ohne mich die Flucht wagen.“
Es ärgerte Houke sogar mehr als er zugab, und Semiris sah es ihm an.
„Woher sprichst du ihre Sprache?“, fragte er zerknirscht.
„Sie gelangte über eine der Karawanenstraßen in unsere Welt und wir wohnten zwei Jahre unter dem selben Dach“, lautete ihre plausible Antwort. „Nikia ersteigerte sie am gleichen Tag wie mich, und zwar als Gespielin für seine halbwüchsige Tochter. Diese verzogene Göre fand schnell heraus, dass Kirsa ihr ausschließliches Eigentum war. Es machte ihr Spaß, konnte sie ihrem Eigentum am Haar ziehen oder mit ihren scharfen Nägeln ins Bein kneifen. Den größten Spaß bereitete es ihr, sich rittlings auf ihrem Nacken tragen zu lassen. Sie ist ein dickliches Kind, und Kirsa musste dann auf den Wegen rund um die Blumenbeete herumwandern, immer wieder rundherum. Blieb sie stehen, brüllte ihre Herrin das ganze Haus zusammen. Es war für keinen im Schlafhaus ein Geheimnis, dass sie in einem unserer stattlichsten Sklaven, der aber eher ein wenig beschränkt war, einen Verehrer hatte, und der fuhr dazwischen, als die böse Blage sie wieder einmal quälte. Man kreuzigte ihn dafür, ein Kind angefallen zu haben, und Kirsa hielt seitdem unsere Latrine sauber.“
Gegen Nachmittag fand sich wider Erwarten Archaz noch einmal am Heck ein, aber er enttäuschte sie. „Bedun, du und ich“, weihte er Houke ein, „sollen uns mit der Wache für den Gefangenen ablösen.“
„Du bist jetzt dran?“, fragte Houke. „Dann lass uns tauschen.“
So kehrte er nach sechs Stunden zurück zu der von früher vertrauten Kammer. Als er dem Atlanter ihre Fluchtpläne verriet, wurde der hellhörig.
„Ich habe nachgedacht über deinen Rat. Ich denke, ich werde mich einsichtig zeigen und für eine Weile der Bruderschaft beitreten. Aber jetzt noch nicht. Erst will ich diesen Unterschlupf für Räuber und Beutelschneider gesehen haben. Wo ich war, dahin finde ich zurück. Mein Strafgericht wird über diesen Ort kommen, so wahr ich die Macht dazu habe. Die Hand soll mir verdorren, sollte mir von den Leuten dieses Schiffes einer entwischen.“
„Warum willst du dich so lange von Brot und Wasser ernähren?“, fragte Houke erstaunt. „Du könntest leben wie ein König, wenn du ihnen sagst, du willst ein Schwertfischer werden.“
„Ich will mehr sehen, dessen ich sie anklagen kann“, gab ihm der Atlanter im Flüsterton zu verstehen. „Und keiner wird mir hinterher nachsagen, ich hätte selber mit Leib und Seele bei ihren Kaperfahrten mitgewirkt.“
Entgegen dem Gerücht legten sie nicht in Abydos an, und in Theben auch nicht. Beim nächsten Mannschaftstreffen am Mast gewann der Sarde. Houke opferte den Siegelring des Hebräers und sein gesamtes Silber, damit der bittere Kelch nochmal an Semiris vorüber wanderte.
In Ombos warfen sie zwar den Anker aus, doch zogen Hasdrubal und Hiram allein los. Sie nahmen den für umfangreiche Besorgungen vorgesehenen Handwagen mit und trieben zu den beiden Säcken voll Gerste, die als Nahrungsgrundlage dienten, einen Korb voll Feigen auf, Fladenbrot und Dörrfisch. Die ganze Zeit über hoffte Houke, Kirsa wiederzusehen, aber sie tauchte nicht auf. Semiris zog den Schluss: „Und wenn der Assyrer Kirsa umgebracht hat?“
Da Houke ihr die Antwort schuldig blieb, stieß sie ihn an und wollte zum Anleger schwimmen, doch Houke fasste nach ihrem Arm und drehte sie zu sich um. „Und wenn sie doch noch lebt“, fragte er leise, obwohl er in der Hinsicht so wenig Hoffnung hegte wie sie.
Später, als der Tag zur Neige ging, hielt er wieder Wache vor Hasdrubal’s Kammer, und die Gelegenheit war vorüber. Semiris, die gleich matt in den Korbsessel sank, atmete bald gleichmäßig wie ein Säugling in der Wiege. Die letzte Nacht unter offenem Himmel war sie über ein kurzes Einnicken nicht hinausgekommen. Jetzt schlief sie endlich.
Houke betrachtete ihr friedliches Gesicht mit der neckischen Spitznase. Je länger er sie um sich hatte, desto mehr fühlte er für sie. Zu wissen: sie würde die Flucht auch mit Kirsa versuchen, zehrte an seiner Eitelkeit. An Mut hätte es ihm nicht gemangelt, aber das Dasein unter dem Stern der Besitzlosen hatte ihn geformt und in einen Mann mit Prinzipien verwandelt.
Der Atlanter nahm es leicht, als er erfuhr, sie hätten nun auch Ombos hinter sich gelassen.
„Ombos?“, wiederholte er fragend. „Da liegt doch irgendwo die Kurkur-Oase. Mein Freund, wärst du dort geflohen, hättest du den Steinbauch vor dir gehabt – eine Wüste, die keiner lebend durchquert, der nicht dort geboren ist. Du musst Geduld haben. Auf seine Rache sollte man sich freuen, dann kommt auch der Tag dafür.“
Houke dachte sich seinen Teil und gab nicht auf, erzählte ihm, warum sie Kirsa seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekamen. „Der Assyrer hat sie vor allen Leuten mit Gewalt genommen, und ich bin machtlos gewesen. Wie soll ich ihr jemals wieder in die Augen schauen?“
Er räusperte sich, weil seine Stimme so heiser klang. „Meiner armen Semiris steht dasselbe bevor“, beteuerte er. „Sanherib und der Sarde sind die Besten im Wurf nach dem Strich. Keiner von beiden lässt sich noch einmal vertrösten, das ist gewiss. Die Mannschaft hat die Schacherei mitbekommen und wird nicht zulassen, dass ich noch einen Aufschub heraushole. Dann geht es Semiris schlecht. Nehmen die sie mir weg, kann ich ihr so wenig helfen wie Kirsa.“
Er holte tief Luft, ehe er hinzufügte, „und du sagst, du bist mein Freund. Du könntest es verhindern! Was ist denn daran falsch, wenn du diesem Mörderpack etwas vorspielst? Das ist doch lediglich eine Sache des Ehrgefühls. Andere Menschen verschwenden keine Gedanken an so etwas. Eine Frau, der man Gewalt antut, leidet ganz anders, und Semiris sagt, sie möchte lieber sterben, wenn es sich wirklich nicht abwenden lässt.“
All das sprudelte aus ihm heraus, und es wurde still hinter der Tür. Dann sagte Decgalor: „Ruf mir euren Anführer und melde ihm, ich will mit ihm reden.“
Houke begab sich mit Semiris an Deck und übermittelte die Neuigkeit, dann stellten sie sich zu Archaz, der mit verschränkten Armen unter der Heckflosse stand. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ließ sie der Freund aus früheren Tagen allein. Doch Houke hatte nichts anderes erwartet. Die Abendsonne glich heute einem Feuerball und war dabei, hinter den indigoblauen Konturen des Gebirges zu versinken. Sie tauchte die Dünenketten der davor liegenden Wüste in ein unheimliches Rotlicht, bei dem Abergläubige eine Nacht der Dämonen witterten und mancher nahendes Unheil ahnte.