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Wahnsinn

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Ich wurde verrückt, unterbrochen von langen Phasen unerträglicher Zurechnungsfähigkeit.

(EDGAR ALLEN POE)

Entgegen der Meinung der Zyniker ist die Geschichte des Interbeing (wie wir sehen werden) gar nicht weniger rational oder evidenzbasiert als die Geschichte von der Separation. Wir denken gerne, dass unsere Ansichten auf Beweisen basieren, aber viel öfter richten wir die Beweise so aus, dass sie zu unseren Ansichten passen.

Wir verdrehen das, was nicht passt, oder lassen es gleich weg; wir suchen Beweise, die passen, und umgeben uns mit Gleichgesinnten. Solange diese Ansichten uns zu einem Teil der Geschichte von den Menschen machen und solange finanzielles Eigeninteresse und soziale Akzeptanz an sie geknüpft sind, wird es umso schwieriger sein, irgendetwas zu akzeptieren, das fundamental davon abweicht.

So kommt es, dass ein Leben in der neuen Geschichte manchmal beschwerlich und einsam sein kann. Besonders das Geldsystem steht nicht im Einklang mit der Geschichte des Interbeing, es erzwingt stattdessen Konkurrenz, Knappheit, Zerfall der Gemeinschaft und die unaufhörliche, nicht-reziproke Ausbeutung des Planeten. Sofern Ihre Lebensarbeit nicht zur Umwandlung von Natur in Produkte und Beziehungen in Dienstleistungen beiträgt, werden Sie oft feststellen, dass damit nicht viel Geld zu machen ist.

Es gibt Ausnahmen – kleine Defekte im System oder auch ausdauernde Versuche wohlmeinender Menschen und Organisationen, einen Teil ihres Geldes im Geiste des Geschenks zu verwenden –, aber im Großen und Ganzen steht das Geld in seiner heutigen Form nicht im Einklang mit der schöneren Welt, von deren Möglichkeit unsere Herzen wissen.

Ebenso wenig stimmen unsere Vorstellungen von gesellschaftlichem Ansehen, das Bildungssystem oder die von den Medien gelieferten vorherrschenden Narrative damit überein. Allseitig umgeben von dem, was manche »Konsensrealität« nennen, muss man die eigene geistige Gesundheit in Zweifel ziehen, wenn man an die Prinzipien des Interbeing glaubt. Es ist uns erlaubt, sie als eine Art spirituelle Philosophie zu unterhalten, aber wenn wir anfangen, unsere Entscheidungen danach auszurichten, wenn wir auch nur in 10 Prozent der Fälle danach leben, beginnen die Leute, unsere Zurechnungsfähigkeit anzuzweifeln. Vielleicht zweifeln wir sogar selbst daran.

Mit den Selbstzweifeln kommt auch ein Gefühl der Abgehobenheit. Gerade heute Morgen hörte ich zehn Sekunden lang eine Nachrichtensequenz über eine Einwanderungsreform. In meinem Kopf überschlugen sich Bilder von riesigen Zäunen, Checkpoints, Ausweisen, Befragungen, Grenzen, Sicherheitszonen und vom offiziellen »Status«, und ich dachte: »Moment mal, ist es nicht offensichtlich, dass die Erde allen und keinem gehört und dass es keine Grenzen geben sollte? Ist es nicht verlogen, mancherorts durch ökonomische und politische Strategien das Leben fast unmöglich zu machen und die Menschen dann daran zu hindern, diese Orte zu verlassen?« Keine der beiden Seiten in der Debatte erwähnte auch nur diesen Standpunkt – so weit liegt er jenseits dessen, was man als zulässige Argumentation akzeptiert. Das Gleiche trifft praktisch auf alle öffentlichen Kontroversen zu. Ist es nicht verrückt, zu denken, dass ich recht habe und alle anderen sich irren?

In gewisser Weise ist es verrückt – insofern geistige Gesundheit ein soziales Konstrukt ist, das der Aufrechterhaltung der dominanten Narrative und Machtstrukturen dient. Wenn das stimmt, dann ist es höchste Zeit, gemeinsam verrückt zu sein! Es ist Zeit, die Konsensrealität zu missachten.

Menschen sind soziale Tiere, und es ist realitätsfern und gefährlich, sich allein eine eigene alternative Geschichte zu konstruieren. Lassen Sie uns hier eine kurze Pause einlegen für einen Augenblick der Bescheidenheit. Vor einigen Jahren machte ich die Bekanntschaft eines Mannes, den ich Frank nennen werde. Frank war hochgebildet, hatte mehr als nur oberflächliche Kenntnisse in mehreren Wissenschaftsbereichen, aber seine Lebensaufgabe, der er acht bis zehn Stunden pro Tag widmete, war es, Wörter aus Verpackungen und aus Magazinen herauszuschneiden. Von diesen Hinweisen schloss er auf eine riesige, alles umfassende Verschwörungstheorie. Er glaubte, er könne die Verschwörung unterbinden, indem er die Wörter mit Schere und Klebstoff neu zusammensetzte und so die Wirklichkeit für alle Lebewesen änderte.

Er brachte die faszinierendsten Verbindungen zutage. Auf der Vorderseite einer Cornflakespackung stand vielleicht »General Mills«. In »Mills« steckt »Mil«, eine Abkürzung für »Militär«, und siehe da, der Text auf der Rückseite der Schachtel bestand aus Sätzen mit je neunzehn und dreizehn Worten. Ergibt also 1913, das Jahr, in dem die Federal Reserve gegründet wurde. Aha! Das Muster beginnt sich zu zeigen. Dieses Beispiel skizziert nur annähernd, welche labyrinthähnliche Komplexität die Theorien von Frank kennzeichnete, für die er Verpackungen, Logos, Numerologie und anderes miteinander in Bezug setzte.

Jeder dachte, Frank sei verwirrt, aber ich fragte mich ernsthaft: »Inwiefern bin ich anders als er?« Das scheint eine triviale Frage zu sein, aber sie war fruchtbar. Wir beide glauben an eine Erklärung für den Lauf der Dinge, welche die Konsensrealität gravierend verletzt. Wir beide arrangieren Wörter neu, die wir aus einem bestehenden linguistischen und konzeptionellen Substrat beziehen, und wir hoffen, dadurch die Wirklichkeit zu verändern. Beide werden wir von vielen als Abweichler gesehen und müssen daher auf unbestimmte Zeit durchhalten, ohne große finanzielle Unterstützung oder soziale Anerkennung (damals war ich pleite und unbekannt wie er).

Manchmal reizt es mich, mir vorzustellen, dass dieser Typ, Frank, wirklich recht hatte; dass er das größte und tapferste Genie der Geschichte ist, wenn er mit seiner Arbeit auf der magischen Symbolebene die Welt rettet. Vielleicht könnte ich, wenn ich mir nur die Zeit nehmen würde, mich auf seine Arbeit einzulassen, die Dinge auch so sehen wie er.

Wünschen Sie sich nicht auch manchmal, dass sich Ihre Freunde und Verwandten bloß einmal die Zeit nehmen würden, ein bestimmtes Buch zu lesen oder diese eine Dokumentation anzusehen? Dass sie sich unvoreingenommen darauf einlassen und aufhören, Ihre Weltsicht kurzerhand abzuweisen? Wenn sie nur einmal hinsehen würden, dann begriffen sie es!

Ich blieb mit Frank nicht in Kontakt, aber ich zweifle nicht daran, dass er sein obskures Werk bis heute fortsetzt. Die wenigsten von uns haben so eine Beharrlichkeit. Wir sind soziale Tiere und brauchen zumindest ein klein wenig Bestätigung. Wir können nicht ganz allein mit einer abweichenden Geschichte leben; angesichts einer ganzen Gesellschaft, die uns in die Geschichte der Separation hineinzieht, brauchen wir Verbündete. Dieses Buch soll so ein Verbündeter sein. Ich hoffe, es wird in Ihnen die Auffassung wecken oder bestärken, dass Sie ganz und gar nicht verrückt sind; dass es im Gegenteil die Welt ist, die verrückt geworden ist.

Jetzt sagen Sie vielleicht, ich renne hier offene Türen ein, predige vor dem Kirchenchor. Ja. Aber ich selbst bin auch dankbar für all die wunderbaren Prediger, deren Worte meine eigene Tür offen hielten, die mich in meinem Glauben bestärkten. Ohne sie hätte ich vor langer Zeit aufgehört und einen Job angenommen, durch den ich jetzt selbst ein Zahnrad in der weltverschlingenden Maschine wäre. Eben deswegen sind Konferenzen, Retreats und Gemeinschaften für alternative Kultur so wichtig. Wir bestärken uns gegenseitig in der neuen Sichtweise. »Ja, ich sehe es auch so. Du bist nicht verrückt.« Wir, der Chor, versammeln uns und lernen, zusammen zu singen.

Wenn alles auseinanderfällt und diese Geschichte ihre Sklaven in den Raum zwischen den Geschichten entlässt, wird sie die schöne Musik unseres Chors locken, und sie werden näher kommen und einstimmen. Wir haben wichtige Arbeit geleistet, erst ganz allein, dann in kleinen Randgruppen. Die Zeit ist gekommen, dass die neue Geschichte von den Menschen ihren Brutkasten verlässt. Wenn alles auseinanderfällt, wird das scheinbar aussichtslos Radikale zur allgemein anerkannten Sichtweise.

Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich

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