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Verzweiflung

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Die Logik des Bösen ist listig: Sie stellt Liebe und Wahrheit mit dem Argument infrage, dass ja alle Menschen eigennützig und fehlbar seien – und somit also jeder Versuch, gut zu sein, bloß eine Heuchelei wäre.

(ROBERT GRAVES)

Zwar verstehen viele Menschen, dass der Klimawandel mehr verlangt als eine rein technische Lösung durch die Anwendung alternativer Technologien, aber nur wenige würden sagen, dass jemand, der sich für die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe einsetzt, Mitgefühl für Obdachlose hat oder sich um Autisten kümmert, etwas Entscheidendes zur Rettung unserer Art beiträgt. Aber das liegt daran, dass wir noch kaum verstehen, was Interbeing ist. Ich möchte behaupten, dass alles, was gegen die Geschichte von der Separation verstößt oder sie stört, jede einzelne Folge dieser Geschichte heilen kann. Das gilt auch für kleine, unsichtbare Handlungen, von denen unser rationales, durch und durch logisches Denken glaubt, sie könnten unmöglich etwas bewirken. Und das gilt auch für die Dinge, die den großen Weltrettungskampagnen zum Opfer fallen.

Kürzlich sprach ich mit Kalle Lasn, dem Gründer des radikalen Magazins »Adbusters«, einem Mann, der sein ganzes Leben dem Aktivismus in Theorie und Praxis gewidmet hat. Er erzählte mir, dass er nun schon seit einiger Zeit nicht viel für die Politik oder für sein Magazin getan habe, weil er gerade seine 95-jährige Schwiegermutter pflegte. Er sagte: »Dass ich mich um sie kümmere, ist für mich viel wichtiger als alles andere zusammen, was ich bisher getan habe.«

Kalle stimmte mir zu, als ich meinte: »Unsere Weltsicht muss sich erst darauf einstellen, wie wahr und wichtig das ist.« Meine liebe Leserin, mein lieber Leser, können Sie sich eine Realität vorstellen, in der wir unsere 95-jährige Schwiegermutter vernachlässigen müssen, um die Welt zu retten? In unserer Vorstellung vom Funktionieren unseres Universums muss es einen Platz für die intimen, nicht-kalkulierten, dienenden Handlungen geben, die ein so schöner Aspekt unserer Menschlichkeit sind.

Sollte Kalle seinem Gefühl trauen, dass er etwas Wesentliches leistet, wenn er diese alte Frau pflegt?

Wissen Sie nicht ganz tief in Ihrem Innern, dass jedes Glaubenssystem, das die Bedeutsamkeit dieser Entscheidung nicht anerkennt, Teil des Problems sein muss?

Könnten Sie es ertragen, in einer Welt zu leben, in der nicht zählt, was Kalle tut?

Wir können die Tätigkeiten, die die weltverschlingende Maschine am Laufen halten, nur dann weiter verrichten, wenn wir dieses Gefühl von Bedeutsamkeit unterdrücken.

Wir zwingen uns selbst, im Namen der Zweckmäßigkeit Dinge zu tun, die uns irgendeine abstrakte Überlegung vorgibt. Gelegentlich kann diese »Zweckmäßigkeit« bedeuten: »was das Ökosystem heilt, soziale Gerechtigkeit bringt und das Überleben der Menschheit fördert«, aber in den meisten Fällen und für die meisten Menschen hat Zweckmäßigkeit mit Geld zu tun oder mit anderen Mitteln für Sicherheit und Bequemlichkeit. Und Geld entsteht in unserem jetzigen System dadurch, dass wir uns an der Umwandlung von Natur in Waren, von Gemeinschaft in Märkte und von Beziehungen in Dienstleistungen beteiligen. Wenn Ihr Herz nicht für diese Dinge schlägt, werden Sie feststellen, dass Zweckmäßigkeit oft dem Drang des Herzens widerspricht.

Das Problem geht aber noch viel weiter als eine eigennützige Auffassung davon, was zweckmäßig ist. Es reicht hinunter bis zum Verständnis von Ursache und Wirkung, die ihm zugrunde liegt. Das Drängen des Herzens widerspricht möglicherweise nicht nur dem Diktat des Geldes, es widerspricht vielleicht auch der instrumentalistischen Logik überhaupt.

Das soll nicht heißen, dass wir das Denken und die Logik außer Acht lassen sollten, wenn wir versuchen, zweckmäßige Veränderungen in der Welt zu bewirken; genauso wenig sollten wir die Technik aufgeben oder die Literatur oder eine andere Frucht unserer jahrtausendelangen Reise in die Separation. Die Werkzeuge der Kontrolle, die Anwendung von Kraft und Vernunft haben gewiss ihren Platz. Die Menschheit ist keine Ausnahme von der Natur: Wie bei allen anderen Arten können auch unsere Fähigkeiten ein einzigartiger Beitrag für das Wohlergehen und die Entwicklung des Ganzen sein. Wir müssen nur unsere Fähigkeiten in diesem Geiste nutzen; stattdessen nutzten wir sie, um zu beherrschen und zu erobern; wir schwächten die Kraft von Gaia und all ihrer Geschöpfe und schwächten so auch uns selbst. Jetzt haben wir die Möglichkeit, unsere einzigartigen menschlichen Fähigkeiten zu transformieren: von Werkzeugen der Beherrschung in Werkzeuge des Dienens.

Wann genau sind denn die Methoden der »Zweckmäßigkeit« angebracht? Ganz einfach, sie sind angebracht, wenn wir wissen, wie man etwas im Rahmen unseres heutigen Verständnisses von Kausalität macht. Wenn Ihr Herd Feuer gefangen hat und Sie einen Feuerlöscher haben, dann verwenden Sie natürlich den Feuerlöscher. Sie werden nicht danebenstehen und um ein Wunder beten.

Aber genauso sollten Sie nicht in einer heroischen Geste mit dem Feuerlöscher auf ein Feuer losgehen, das Ihr Haus in ein flammendes Inferno verwandelt hat, während Sie genau wissen, dass Ihr mickriger Feuerlöscher für diese Aufgabe bei Weitem nicht geeignet ist.

Dieses Szenario ist eine gute Beschreibung unserer momentanen Lage. Ja, es ist wahr, unser Haus steht in Flammen. Was die Schwarzseher aus der Umweltbewegung sagen, ist wahr. Ich verwende den Begriff »Schwarzseher« nicht abschätzig. Die Lage ist wahrscheinlich sogar noch schlimmer, als sie es uns öffentlich wissen lassen (um nicht als Schwarzseher zu gelten). Aber was sollen wir dagegen tun? Oder präziser: Was sollten Sie dagegen tun? Was können Sie entsprechend den konventionellen Vorstellungen über kausale Zusammenhänge, die praktisch jeder in der modernen Gesellschaft tief verinnerlicht hat, tun, das zweckmäßig wäre? Nichts. Daher müssen wir lernen, uns nach einer anderen Art von Orientierungshilfe zu richten, nach einer, die uns dorthin leitet, wo uns mehr Möglichkeiten offen stehen.

Vielleicht denken Sie, es sei gefährlich, Verzweiflung zu säen, selbst wenn ich die Wahrheit sage. Aber die Verzweiflung ist da, ob ich sie säe oder nicht. Alle von mir befragten Aktivisten bestätigen, dass sie früher oder später genau mit dieser Verzweiflung konfrontiert waren, auf die ich hier anspiele. Wir versuchen, sie durch Gedankengänge wie den folgenden zu überspielen: »Klar wird es nichts bringen, wenn du der Einzige bist, der etwas ändert, aber wenn jeder es macht, dann wird sich die Welt verändern.« Richtig, aber liegt es in Ihrer Macht, alle dazu zu bringen? Nein. Was Sie tun, würde eine Rolle spielen, wenn es jeder täte; umgekehrt spielt dann das, was Sie tun, auch keine Rolle, wenn es nicht jeder andere auch tut. Mir ist es nie gelungen, einen Ausweg aus diesem Dilemma innerhalb seiner eigenen Logik zu finden. Es ist so solide wie seine Voraussetzungen: das getrennte Selbst in einer objektiven Welt. Schlimmer noch: Manche würden sagen, dass unsere individuellen Bemühungen, lokal zu kaufen oder Müll zu recyceln oder Rad zu fahren, sogar kontraproduktiv sind, weil sie uns fälschlicherweise selbstgefällig machen und dadurch effektivere revolutionäre Handlungen schwächen; und weil sie nichts daran ändern, dass die viel größeren Zerstörungsmechanismen weiter am Werk sind. Wie Derrick Jensen sagt, duschen Sie nicht kürzer.

Ich glaube, es ist besser, die Verzweiflung nicht zu verschleiern, weil die wirkliche Hoffnung erst auf der anderen Seite davon liegt. Die Verzweiflung ist Teil des Terrains, das wir durchqueren müssen. Bevor wir nicht die andere Seite erreichen, wiegt die Verzweiflung schwer in unseren Herzen, während wir weiterkämpfen und nie ganz davon überzeugt sind, dass wir wirklich etwas Gutes tun. So stark unser Geist auch ist, am Ende geraten unsere Bemühungen ins Taumeln; unsere Energie erlahmt, und wir geben auf. Vielleicht lässt uns persönlicher Ehrgeiz noch eine Weile weitermachen, wenn wir das Selbstbild aufrechterhalten wollen, dass wir ethisch und bewusst handeln und dass wir »Teil der Lösung« sind. Doch diese Motivation ist nicht stark genug, um uns den Mut, die Hingabe und den Glauben zu geben, den wir brauchen.

Wahrer Optimismus kommt erst, wenn man das Gelände der Verzweiflung durchquert und sich darauf eingelassen hat; wenn man sich des Ausmaßes der Krise und auch der Kräfte, die der Heilung im Wege stehen, bewusst ist. Bei meinen Vorträgen treten mir manchmal Menschen entgegen und belehren mich, dass die Machtelite mit ihrer Propagandamaschinerie die Finanzen und die Politik in ihrer Gewalt hat oder sogar über Technologien der Bewusstseinskontrolle verfügt. Sie glauben, ich wüsste nichts darüber oder ignorierte mutwillig, wie unser System in Wirklichkeit funktioniert. Oder sie sprechen von der Apathie der Massen, von der Gier und Ignoranz der Menschen, die es einfach nicht kapieren, und sagen, es sei unwahrscheinlich, dass man sie je ändern könnte. Das alles gehört zum Terrain der Verzweiflung, mit dem ich innig vertraut bin. Es ist nicht so, dass ich vor der blanken Wahrheit zurückgeschreckt bin, weil ich sie nicht ertragen kann. Der Optimismus liegt erst auf der andern Seite, und die Hoffnung ist sein Vorbote.

Innerhalb ihrer eigenen Begriffe ist die Logik der Verzweiflung unantastbar. Aber sie umfasst mehr als die Hoffnungslosigkeit über den Zustand des Planeten; sie gehört auch zur Mythologie, durch die wir uns definieren, die uns in ein fremdes Universum aus Kräften und Massen wirft. Es ist jener Mythos, der uns einerseits allein ins Universum stellt und uns zugleich die Macht abspricht, es entscheidend zu verändern (oder es überhaupt zu verändern, da ja dieselben Kräfte auch unsere eigenen Handlungen determinieren). Vielleicht wird deshalb die Hoffnungslosigkeit mit derselben emotionalen Energie verteidigt, mit der alternative wissenschaftliche Paradigmen bekämpft werden. Wer meine früheren Bücher gelesen hat, möge verzeihen, dass ich hier noch einmal eine Stelle aus »A Free Man’s Worship« von Bertrand Russell zitiere, einem der brillantesten Köpfe der Moderne:

Dass der Mensch ein Produkt der Ursachen ist, die keine Voraussicht auf das Ziel besaßen, das sie anstrebten; dass sein Ursprung, seine Entwicklung, seine Hoffnungen und Ängste, seine Liebe und sein Glauben nichts als das Ergebnis zufälliger Anordnungen von Atomen sind; dass kein Feuer, kein Heldenmut, keine Intensität von Gedanken oder Gefühl ein einzelnes Leben über das Grab hinaus bewahren kann; dass all die Mühen der Jahrhunderte, all die Hingabe, all die Inspiration, all die Momente des taghell strahlenden menschlichen Genies der Vernichtung durch den Tod des Sonnensystems geweiht sind und dass der ganze Tempel der menschlichen Errungenschaften unvermeidlich begraben werden muss unter dem Schutt eines Universums in Ruinen – all diese Dinge, wenn sie nicht überhaupt außer Frage stehen, sind doch zumindest annähernd so sicher, dass keine Philosophie, die sie zurückweist, Hoffnung auf Bestand hat. Nur im Gerüst dieser Wahrheiten, nur auf der festen Grundlage der unnachgiebigen Verzweiflung kann hinfort eine Heimstatt der Seele sicher gebaut werden.

Wie ich durchblicken ließ, ist die Geschichte, auf deren Basis Russell seine Schlüsse zieht, nicht mehr so sicher. Eine Philosophie, die sie zurückweist, kann nun tatsächlich hoffen, bestehen zu bleiben – auf der Grundlage miteinander verschränkter Quanten und ihrer Nicht-Determiniertheit, der Neigung nichtlinearer Systeme zur spontanen Organisation und Autopoiese, der Fähigkeit von Lebewesen und Außenwelten, DNA absichtsvoll umzustrukturieren, und der Anhäufung von Anomalien in der Wissenschaft, die in Zukunft weitere Paradigmenwechsel versprechen. Ohne zu versuchen, daraus ein striktes philosophisches Argument zu konstruieren, werde ich feststellen, dass sich all diese wissenschaftlichen Umbrüche zumindest metaphorisch für eine ganz andere Geschichte von der Welt anbieten.

Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich

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