Читать книгу Ausstieg / Glücksspieler / Gefährliche Erben - Drei Romane in einem Band - Elfi Hartenstein - Страница 14
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ОглавлениеEs war früher Nachmittag, als Lou Feldmann neben dem vergitterten Fenster des Besucherraums im Moabiter Frauengefängnis lehnte, Rücken zur Wand, Gesicht zur Tür, und sich zwang ruhig zu atmen. In den ersten Jahren seiner Tätigkeit hatte er bei Knastbesuchen immer regelrechte Anflüge von Klaustrophobie und Panik gehabt, wenn ein Vollzugsbeamter hinter ihm die Tür abschloss. Dieses Gefühl kannte er heute noch.
Eine kleine, dicke, wendige, nicht mehr ganz junge Vollzugsbeamtin führte Remy Straub herein. Straub trug Gefängniskleidung, ihr Haar war strähnig und ungepflegt.
„Lassen Sie uns allein“, sagte Feldmann. „Bitte.“
Die Vollzugsbeamtin sah ihn an, schätzte ihn ab, nahm Remy Straub in den Blick, zuckte die Schulter. „Ihr Risiko.“ Sie verließ den Raum, die Tür wurde hinter ihr abgeschlossen.
Feldmann und die Gefangene musterten sich gegenseitig.
„Sie sind in U-Haft“, sagte er schließlich. „Warum die Uniform?“
„Meine Zivilklamotten sind kaputtgegangen, als ich die Gitter und die Türen sah.“ Remy Straub lachte auf. Ein bitteres Lachen.
Lou Feldmann wollte nicht weiter darauf eingehen. „Sagen Sie mir, warum Sie nicht abgehauen sind, bevor die Polizei kam?“, fragte er stattdessen ruhig.
„Ich konnte nicht weg. Das war mein Freund. Der Einzige, auf den ich mich je verlassen konnte.“
„Ist mir neu, dass man sich auf einen Junkie verlassen kann.“
„Es war meine Schuld, dass er an die Nadel kam“, sagte Remy Straub leise. Dann nahm sie sich einen der beiden Stühle, die nebeneinander am Tisch standen – andere Möbel gab es nicht im Raum – setzte sich, legte die Füße auf den Tisch und schaute hinüber zum vergitterten Fenster. „Diese Geschichte geht Sie nichts an.“
Lou Feldmann lehnte noch immer mit dem Rücken an der Wand. Die Frau, wie sie dasaß, wie sie sprach, machte ihn neugierig. Sein Blick ließ sie nicht los. „Man hat mir gesagt, dass Sie mit mir reden wollen.“
„Ich habe gesagt, wenn ich mit jemandem rede, dann mit Ihnen. Aber ich weiß nicht, ob ich überhaupt reden will.“
Feldmann nickte. „Verstehe. Aber warum mit mir?“
Sie antwortete, ohne ihn anzusehen. „Wissen Sie, ich habe acht Jahre auf der Straße gelebt. Da lernt man sehen, ob jemand ein Mensch ist und wem man trauen kann und wem nicht.“
„Wie kommen Sie auf die Idee, Sie könnten mir trauen? Ich stehe doch auf der anderen Seite.“
Remy Straub überlegte einen Moment, entschloss sich dann, nicht weiter auf diese Feststellung einzugehen und sagte stattdessen: „Ihre Kollegen wollen von mir eine Lebensbeichte.“
„Und ich rate Ihnen, die Klappe zu halten, bis Sie einen Anwalt haben.“
Jetzt löste Remy Straub ihren Blick vom vergitterten Fenster und lächelte Feldmann an. „Auch bei Ihnen?“
Feldmann nickte. „Auch bei mir. Selbstverständlich.“
Sie lachte kurz und trocken auf. „Ein Bulle mit Gewissen. Okay. Ich werde Sie nicht anlügen. Ich werde Ihnen einfach nichts sagen.“
„Das ist gut.“
Als die Vollzugsbeamtin Remy Straub wieder abholte, drehte sie sich an der Tür noch einmal kurz um. „Die haben mir übrigens gestern tatsächlich schon einen Anwalt vorbeigeschickt“, sagte sie. „Mit so einem Schleimer kann ich nur leider nichts anfangen. Vielleicht verhelfen Sie mir ja zu einem anderen?“
Ohne seine Antwort abzuwarten, ließ sie sich nach draußen führen.
Eine Viertelstunde später saß Lou Feldmann im Auto vor einer Ampel, merkte nicht, dass sie längst auf Grün geschaltet hatte, hörte nicht, dass hinter ihm gehupt wurde, und schreckte erst auf, als ein anderer Wagen ihn überholte. Der Fahrer sah zu ihm herüber und tippte sich dabei mehrmals an die Stirn. Er ließ seinen Motor aufheulen, als er davonbrauste. Feldmann biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, als wollte er sich selbst zur Ordnung rufen. Dann bog er in die nächste Straße ein, zwängte das Auto in eine Parklücke und ging zu Fuß hinüber zum Spree-Ufer. Gerade als er sich auf eine Bank gesetzt hatte, klingelte sein Handy. Lou schaute auf das Display, bevor er die Gesprächstaste drückte. „Manu? Hallo. Es geht leider gerade nicht. Hab zu tun. Ich ruf dich an.“ Jeden anderen hätte er wortlos weggedrückt. Aber Manu war seit jeher eine Ausnahme. Auch wenn er längst aus dem Alter raus war, wo er wirklich einen Ersatzvater brauchte, fühlte Lou sich noch immer für ihn verantwortlich. Wusste, dass sich das wohl kaum je ändern würde. Er hatte es sich ja selbst ausgesucht, damals, vor über zwanzig Jahren, als er eingesprungen war, um zu verhindern, dass das Kind ins Heim kam. Weil der Vater, Lous Bruder, bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und ein paar Tage später auch die schwer verletzte Mutter verstarb. Sie war gerade noch so lange am Leben geblieben, um ihm, Lou, das Versprechen abnehmen zu können, dass er sich um Manu kümmern würde. Plötzlich hatte Lou, selbst noch keine dreißig und ziemlich am Anfang seiner Polizistenkarriere, einen Zehnjährigen am Hals und noch an mehr zu denken als nur an seinen aufregenden Job.
Er steckte das Handy wieder ein, starrte vor sich hin. Momentan ging es nicht um Manu, momentan brannte es anderswo. Ein Witz, dachte er, ein Wortwitz, es brennt mir unter den Nägeln, es brennt mir auf der Zunge, es brennt mir in den Augen. Er holte den Haftbefehl für Andersen aus der Jacke, faltete ihn auseinander, zündete ihn mit seinem Feuerzeug an, stand auf und ließ das brennende Papier in den Kanal segeln. Es brennt mir vor den Augen. Er lachte. Ihm war, als fiele gleichzeitig mit den zu Asche gewordenen Papierresten ein tonnenschwerer Felsen von seinen Schultern ins Wasser. Er wunderte sich, dass es nicht hoch aufspritzte. Er starrte noch sekundenlang ins Wasser, bevor er sich entschlossen umwandte und zu seinem Wagen ging. Es gab noch mehr, was lieber heute als morgen erledigt werden sollte.