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Außengesteuertheit versus Eigenverantwortung

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Wir wollen nun etwas genauer betrachten, was Außengesteuertheit gegenüber Eigenverantwortung bedeutet. Dazu müssen wir bei der frühkindlichen Ich-Entwicklung beginnen. Wir werden sehen, wie in den verschiedenen Phasen, in denen sich der Verstand ausbildet, verschiedene Entscheidungen fallen. Sie bewirken ab einem bestimmten (Ich-Findungs-) Punkt, dass entweder die Urteilskraft nachlässt und die Anpassung an die äußeren Faktoren überwiegt, oder dass das eigene Tun und Lassen dem individuellen Richtigkeitsempfinden entspringt. Ersteres ist der Weg der Außengesteuertheit bzw. Fremdbestimmtheit, letzteres derjenige der Eigenverantwortung.

Neugeborenenstatus

Bei der Geburt haben Kinder kein konkretes Selbstbild. Wie sollten sie auch, da sie sich ihrer Möglichkeiten und Grenzen noch völlig unbewusst sind? Schließlich entwickelt sich kein Selbstbild aus dem Nichts. Kinder brauchen zwischenmenschliche Begegnungen, damit sie durch diese individuellen Auseinander-Setzungen einen Begriff davon bekommen, wer sie sind. Es ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg ihrer Selbstfindung. In diesem Stadium sollten die Eltern sich auf die Gewahrwerdung ihrer innigen Verbundenheit mit dem Kind konzentrieren (natürlich neben der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse). Kinder brauchen das Gefühl bedingungsloser Liebe und Fürsorge, damit sie später auf dem harten Weg der Selbsterkenntnis auch einen Rat von uns annehmen können. Bedingungslose Liebe gibt dem Kind zu verstehen, dass es so von uns angenommen wird, wie es ist, ganz gleich „was“ einmal aus ihm wird.

Kleinkindstadium

In diesem Stadium beginnen die Kinder, sich gezielt mit der Umgebung auseinander zu setzen und Gesetzmäßigkeiten ausfindig zu machen. Sie merken rasch, dass Aktionen Reaktionen bedingen, und verfolgen ganz genau, was womit zusammenhängt. Wenn Johnny schwarze Bohnensuppe vertropft, macht es „platsch“ und Mutti eilt herbei und jammert unbegreiflicherweise, während sie den schönen Klecks aufwischt. Oder wenn Rachel zum ersten Mal aus einer Tasse nippt, erlebt sie, wie man in ihrer Familie vor Freude jauchzt, auf und ab springt und sich überhaupt wie ein Haufen Verrückter aufführt. Die Beispiele zeigen uns, wie sich das kindliche Selbstverständnis in diesem Stadium anhand zunehmender Körperbeherrschung entfaltet und zwar in engem Zusammenhang mit äußeren Reaktionen darauf.

Vorschulkinder und jüngere Grundschüler

In dieser Phase sind Kinder erstmals massiv auf Beurteilungen anderer angewiesen. Nicht nur sind sie jetzt mehr Menschen ausgesetzt (wie LehrerInnen, MitschülerInnen, FreundInnen und NachbarInnen), sondern sie erkennen auch langsam, dass sie nicht von allen bedingungslos geliebt und anerkannt werden. Weiter sind die Kinder nun in dem Alter, wo sie verschiedene Fähigkeiten entwickeln, die kontrollierbar und kritisierbar sind, – wie schnell sie ihre Schuhe binden, wie gut sie lesen, ob sie den Ball weiter als einen Meter schießen können, und ob sie zugeben, Barney Videos geguckt zu haben. Dieses laufende Geprüft- und Gelobt- und Getadeltwerden spielt bei der Ausformung eines abstrakteren, äußerlichen Selbstverständnisses eine wichtige Rolle.

Ältere Grundschüler und weitere

Bereits ab der dritten Klasse vergleichen Kinder das eigene Selbstverständnis laufend mit den Bewertungen anderer. Sie sind sich schmerzlich bewusst, dass alles an ihnen von ihrer Umgebung beurteilt wird, Grundeinstellung, soziale Fähigkeiten, Persönlichkeit, intellektuelle Kompetenz, körperliche Erscheinung, Sportlichkeit und so weiter. In dieser Phase entscheidet sich gewöhnlich, ob sie ihr Selbstwertgefühl auf Fels oder auf Sand bauen – da die Kinder dazu übergehen, sich entweder hauptsächlich an äußeren Vorgaben zu orientieren, um in der Welt zurecht zu kommen, oder an eigenen Überlegungen. Wir werden später noch genauer auf die ausschlaggebenden Faktoren eingehen.

Selbstbestimmte Kinder lassen sich von ihrem Verstand leiten, indem sie äußere Einflüsse beobachten und einordnen. Durch dieses Nachdenken gelangen sie zu einer objektiven Selbsteinschätzung – statt sich Selbstbeschönigungen hinzugeben. Sie bedenken die Folgen ihres Tuns im voraus und handeln entsprechend. Ihr Tun ist eher ein Antworten als ein Reagieren. Diese Kinder sind aus sich selbst motiviert – voll eigener Gedanken und Ideen.

Außengeleitete Kinder passen sich hingegen jeder äußeren Anforderung an, ohne das eigene Urteilsvermögen zu bemühen. Ihr ungestilltes Anerkennungsbedürfnis verhindert eigenständige Entscheidungen. Es kommt lediglich zu einer „indirekten Selbstbestimmung“ und damit zu einer sozialen Maske – jener „So wie es sich gehört“-Fassade, die sich für die Selbstverwirklichung so hinderlich erweist. Und das Schlimme daran ist, dass das Selbstvertrauen um so mehr nachlässt, je besser die Fassade funktioniert.

Ein weiterer Nachteil mangelnder Eigenständigkeit ist, dass außengesteuerte Kinder nicht lernen, sich in der Kunst des Selbstgesprächs und der Selbstbeobachtung zu üben. Ohne diese Fertigkeiten ist keine Selbstbeherrschung möglich und deshalb sind diese Kinder so unberechenbar. Sie reagieren stets nur. Sie sind getrieben. Wir werden im Folgenden immer wieder fragen, warum Kinder den einen oder anderen Weg gehen. Dabei werden vor allem praktische Tipps gegeben, die die Entwicklung in Richtung Eigenverantwortung fördern.

Sollten Sie bei der Lektüre dieses Buches erschrocken feststellen, dass Sie Ihre Kinder bisher eher außengesteuert erzogen haben, im festen Glauben, alles richtig zu machen, geraten Sie nicht in Panik. Schließlich gehören Sie zu den wenigen Müttern oder Vätern, die sich um eine möglichst gute Erziehung ihrer Kinder bemühen. Ich versichere Ihnen, dass Ihre Kinder, sofern Sie die Ratschläge in diesem Buch beherzigen, bald eigenverantwortlich werden. Und es wäre kein Wunder, wenn auch Sie auf diesem Weg Fortschritte machen! Ich jedenfalls hatte vierzehn Jahre einen ziemlich außengerichteten Erziehungsstil gepflegt, bevor ich schließlich Erziehungsmethoden entdeckte, die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördern. Und es zeigten sich bald dramatische Effekte bei meinen Kindern (und mir). Man lernt außengesteuertes und selbstbestimmtes Verhalten grundsätzlich besser auseinander zu halten, sei dies nun an sich selbst, an seinen Kindern oder an anderen Menschen. Und je mehr Sicherheit man dabei gewinnt, desto leichter fällt der neue Erziehungsstil.

Stellen Sie sich vor, es gäbe nur selbstbestimmte Kinder auf der Welt! Wir wären dann eine Gesellschaft, in der wir in Kenntnis unserer wahren Stärken sinnvolle Rollen spielten und einander weiterbrächten. Wir würden unser Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten statt denjenigen anderer. Vergleichen wir das mit einer außengesteuerten Welt, in der die Menschen versuchen, einander den Rang abzulaufen, und auf der Jagd nach Spitzenpositionen sich selbst und andere verraten. Gehen wir noch einen Schritt weiter, und vergegenwärtigen wir uns, dass wir als Eltern es in der Hand haben, welchen dieser Wege die Menschheit gehen wird! Wir können mit unseren Erziehungsgrundsätzen an einer selbstbestimmten Welt mitwirken. Ich sage nicht, dass dies ein leichtes Unterfangen ist, ganz und gar nicht, denn die Menschheit hat Jahrhunderte außengesteuertes Verhalten auf dem Buckel, das sich über Meinungsbildung und gesellschaftliche Normen in den Einzelnen fortpflanzt. Und da diese Fremdbestimmung die Erziehung so allgemein betrifft, lauert überall der böse Wolf. Aber er kann in jedem von uns gezähmt werden. Wenden wir uns nun den sieben Erziehungsgrundsätzen zu, durch die dieser erstrebenswerte Wandel herbeigeführt werden kann.

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