Читать книгу Starke Kinder - Erik Medhus, Elisa Medhus - Страница 8
Worum es in diesem Buch geht
ОглавлениеGleicht Elternschaft nicht oft einer gefährlichen Gratwanderung? Ich finde schon. Denn als Eltern versuchen wir unseren Kindern beizubringen, sich sowohl vor äußeren Gefahren in Acht zu nehmen, wie Drogen- und Alkoholkonsum, Bandentum, Gewalttätigkeit und Selbstmord, als auch innere Fallen zu vermeiden, wie Zynismus, Essstörungen, Verantwortungslosigkeit und Unbeherrschtheit. Probleme zuhauf! Da erscheint die Zukunft unserer Kinder manchmal geradezu trostlos. Wie dem auch sein mag, unsere Aufgabe ist es, sie zu erfolgreichen, kompetenten, selbstbewussten und selbständigen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen.
Als Ärztin habe ich oft Gelegenheit, Einblicke in Lebensverhältnisse zu bekommen, die einem normalerweise verwehrt bleiben. Patienten vertrauen mir ihre geheimen Sorgen und familiären Probleme an, und es ist schon erstaunlich, was ich im Lauf der Jahre zu hören bekam. Auf der einen Seite gab es Patienten, die offenbar „alles“ hatten, zumindest, was ihren Sozialstatus betraf. Und doch waren sie nicht selten unzufrieden, frustriert und depressiv; klagten über die Inhaltslosigkeit ihres Lebens. Ich erinnere mich besonders an einen Familienvater, der mehrere Autos, eine große Yacht, wertvolle Grundstücke und in einer exklusiven Wohngegend ein Haus mit 700 m2 Wohnfläche besaß. Er konnte die teuerste Designerkleidung für seine Familie bezahlen und seine Kinder in die besten Eliteschulen schicken. Trotz all dieser Annehmlichkeiten war er völlig am Ende. Zwei seiner Kinder hatten nichts Besseres zu tun, als sich mit Drogen die Langeweile zu vertreiben, und sein drittes war bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Unterstützung in der Ehe fand der Ärmste so gut wie keine, weil ihn mit seiner Frau wenig bis gar nichts verband, denn oft stritten die beiden miteinander. Kurz, dieser Mann hatte einen materiellen Status erreicht, der in unserer Gesellschaft mit persönlichem Glück gleichgesetzt wird. Aber dieses Glücksversprechen hatte sich als hohl erwiesen. Im Gegenteil, dass dieser Mann sich an äußere Wertmaßstäbe gehalten hatte, statt sich ernsthaft zu fragen, was gut für ihn wäre, hatte zu seinem Unglück geführt.
Andererseits erinnere ich mich an einen Patienten mit einer wunderbaren Frau und sechs Kindern, die in einem alten Wohnwagen von der Hand in den Mund lebten. Er war ungelernter Arbeiter in einer Firma, die Bohrtürme herstellte. Alles drehte sich bei ihm um das Wohl der Familie und nicht um sein Image oder darum, es nur möglichst bald besser zu haben. Was für einen Schwung die Familie mitbrachte, wenn sie in meine Praxis kam, und wie aufrichtig sie sich freuen konnten! Unter ihnen herrschte ein Zusammenhalt und eine Liebe, die sich von keinen Äußerlichkeiten blenden ließ. Ihnen waren Guess Jeans, Sketchers Boots oder andere Markenkulte egal. Den Eltern war es recht, dass die Kinder die öffentliche Schule besuchten, da sie ihre erzieherische Verantwortung ernst nahmen, sich auch in der Schule engagierten und darauf achteten, dass die Hausaufgaben gemacht wurden. Und der Weiher hinter dem Wohnwagen hatte den Kindern mehr an Spaß zu bieten als es eine Yacht mit einem Motor von eineinhalb Meter Durchmesser auf dem Lake Travis gekonnt hätte. Dieser Mann war glücklich, weil er nach vernünftigen Grundsätzen handelte. Er orientierte sich an Werten, die er selbst eingesehen hatte, statt blind den Anforderungen einer Außenwelt zu genügen, die keinerlei Rücksicht auf seine innere Befindlichkeit nahm.
Obwohl ich diese Beobachtungen interessant fand, dauerte es noch eine ganze Weile, bis ich sie im Zusammenhang mit den Problemen unserer Zeit sah. Ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln, wenn mir bei meiner morgendlichen Zeitungslektüre Horrornachrichten begegneten, dass Kinder ihre Eltern oder Geschwister umbrachten, Gangmitglieder Mordlisten führten, Mütter ihre Kinder im Keller anketteten und in ihren eigenen Exkrementen wälzen ließen. Mir war die Verrohung und Depersonalisierung hinter diesen Taten ein Rätsel, dass man so leichtfertig das Leben anderer aufs Spiel setzen konnte, an dem mir als Ärztin so sehr gelegen war.
Eines Tages las ich dann eine Nachricht, die entschieden zu viel war. Eine junge Mutter hatte ihren zweijährigen Sohn wegen eines trivialen Ärgernisses umgebracht, in Stücke geschnitten, in einer Kasserolle gebraten und an ihre Hunde verfüttert. In diesem Augenblick stand für mich fest, dass ich etwas gegen diesen Wahnsinn unternehmen würde. Ich wollte für eine Welt aktiv werden, der ich so viel verdankte und in der meine Kinder leben müssten.
Ich begann mich mit Pädagogik auseinander zu setzen und betrieb Feldstudien. Ich interviewte Hunderte von Lehrern, Eltern und Kindern in Texas und Kalifornien, und selbst im fernen Norwegen. Die meisten Kinder wurden während der Mittagszeit oder während der Pause befragt, mit Erlaubnis der Eltern und Schulleiter. Andere wurden telefonisch interviewt. Und in diesem Buch wird auf dieses Material immer wieder zurückgegriffen werden.
Ich begann, mich für die großen Zusammenhänge der gesellschaftlichen Missstände zu interessieren. Denn mir war bei den Gesprächen aufgefallen, dass man die sozialen Probleme gewöhnlich oberflächlich zu lösen versuchte, statt sie bei der Wurzel zu packen. Es wurden bestenfalls Symptome gelindert, aber keine Krankheiten geheilt. Zum Beispiel stecken wir in die Gangbekämpfung, in Sozialreformen und in Aufklärungskampagnen gegen Drogen- und Alkholkonsum jede Menge Geld. Wir ziehen gegen Drogenhändler und Kriminelle zu Felde. Und all das geschieht, ohne dass wir uns jemals die eine entscheidende Frage stellen – Warum haben wir überhaupt all diese Probleme?
Meine Antwort: wir haben diese Probleme, weil wir unsere Kinder mehr zur Anpassung erziehen als zur Eigenverantwortung. In anderen Worten, wir bringen ihnen bei, sich im Leben mehr um das Lob und die Anerkennung anderer zu bemühen, statt um das eigene Nachdenken. Das ist die große Gefahrenquelle, dass wir den eigenen Verstand verraten, der uns vor allen anderen Lebewesen auszeichnet.
Selbstbewusste Kinder hingegen entwickeln einen scharfen Verstand, mit dem sie sich einen Weg durch den Dschungel äußerer Einflüsse bahnen: sie durchdenken alle möglichen Konsequenzen ihres Tuns, verlassen sich auf ihre innere Kontrollinstanz. Selbstbewusste Kinder tun das, was sie für richtig halten, und nicht das, was ihnen größeres Ansehen brächte. Es ist dieses selbständige Nachdenken, dieser innere Dialog, der verantwortliches Handeln auszeichnet. Und wir sollten unsere Kinder so früh wie möglich zu dieser Eigenverantwortung erziehen.