Читать книгу Die Erbschaft - Elisa Scheer - Страница 5
Kapitel 4
ОглавлениеIch wachte auf, weil helles Licht durch das Fenster schien und es durchdringend nach Kaffee duftete. Wenigstens hatte ich nicht von Christian geträumt, sondern erstaunlich gut geschlafen, wenn man die Umstände bedachte. Ich räkelte mich wohlig und setzte mich langsam auf. Äh – Kopfweh. Das waren die drei Gläser purer Rum! Immerhin war mir nicht schlecht, es hämmerte nur in meinem Schädel. Ich erhob mich mühsam und schlurfte Richtung Bad, an der Küche vorbei. „Guten Morgen!“, rief Cora und reichte mir ein Glas, in dem es sprudelte und an der Oberfläche verdächtig seifigen Schaum bildete.
„Was ist das?“, fragte ich misstrauisch. „Grapefruitsaft mit Aspirin-Brause. Sag bloß, das brauchst du nicht?“
„Doch“, gab ich zu und leerte das Glas mit großen Schlucken. „Hab ich sehr lange geschlafen?“
„Ganz normal, es ist noch nicht einmal acht. Dein Exmacker hat jedenfalls noch nicht hinter dir her telefoniert.“
„Er weiß ja gar nicht, wo ich bin“, entschuldigte ich ihn schon wieder – wieso eigentlich?
„Sarah, Dummchen, das ist doch egal! Oder hat er deine Handynummer nicht?“
„Doch“, gab ich wieder zu, „aber das ist nicht an. Nach dem Duschen kann ich ja mal in die Mailbox gucken.“
Das heiße Wasser prasselte köstlich auf mich herunter, und Coras kratzige weiße Frotteehandtücher waren zehnmal so saugfähig wie die superweichgespülten Dinger bei Christian, die hauptsächlich gut aussahen, sich beim Abtrocknen aber schmierig anfühlten. Ich rubbelte mich kräftig ab – so war das Peeling gleich miterledigt! – und kämmte meine nassen Haare durch. Schon besser, und ich bildete mir auch ein, dass das Kopfweh allmählich nachließ. In langem Tweedrock und seidener Bluse erschien ich zum Frühstück. Cora blinzelte. „Ist das nicht leicht übertrieben? Jeans täten es heute wahrscheinlich auch.“
„So was hab ich nicht, Christian mag keine Jeans.“
„Christian! Wer fragt den denn noch? Wir kaufen dir heute eine. Oder leih dir eine von mir, wir haben doch eh die gleiche Größe, oder?“
„Gut, ich kauf mir nachher eine. Mensch, das hab ich seit Jahren nicht mehr gemacht! Und so ein Sweatshirt hätte ich auch gerne, für zu Hause“, gestand ich, über mich selbst überrascht. „Lieber zwei, man muss sie ja auch mal waschen. Übrigens, wenn du was zu waschen hast, die Maschine ist in der Küche.“ Cora schenkte Kaffee ein und schob mir Semmelkorb, Butter und Aufschnitt hin. Ich schmierte mir sorgfältig eine Schinkensemmel und kaute dann nachdenklich darauf herum. „Ich glaube, du siehst das Ganze als Chance für mich, oder?“
„Vielleicht.“ Cora rührte in ihrem Müsli herum. „Ich glaube, in dir steckt viel mehr als die brave Sklavin des eleganten Herrn. Christian sieht sich doch total als Mann von Welt, oder?“
„Stimmt, er hat immer sehr auf meine Manieren geachtet. Dabei bin ich ja auch nicht gerade im Slum groß geworden. Er hat aber gelegentliche Defizite festgestellt und mich dann liebevoll fortgebildet.“
„Unverschämtheit!“
Ich zuckte die Achseln. „Mir ist das gar nicht so aufgefallen. Weißt du, wenn du die Prämisse akzeptierst, dass sein Lebensstil der erstrebenswerte ist, dann wird alles andere völlig logisch und du kommst der Sache nicht mehr aus. Ich glaube, das ist das Allerschlimmste.“
„Was ist das Allerschlimmste?“, fragte Cora, den Mund voller Müsli.
„Dass mein ganzer Lebensplan in nichts zusammengefallen ist, weil die Prämisse eben völlig falsch war! Christian ist nicht der Mann von Welt, an dessen Seite ich ein schönes Leben führen werde, er ist ein ausbeuterischer Korinthenkacker, der mir eine andere, Stilvollere, vorgezogen hat. Und jetzt stehe ich mit völlig leeren Händen da.“ Ich begann auf meine Schinkensemmel zu heulen.
„Und jetzt merke ich erst, wie blöde ich war!“ Ich heulte noch mehr. „Ich hab mich total ausnutzen lassen.“
„Das holen wir alles zurück, versprochen“, sagte Cora finster und begann abzuräumen. Ich machte den matten Versuch, ihr zu helfen, aber sie drückte mich auf meinen Platz zurück. „Check lieber mal deine Mailbox!“
Na gut! Ich rief die Mailbox auf. Sie haben zwei neue Nachrichten. Vielleicht tat es ihm Leid, vielleicht war alles nur ein Irrtum? Erste Nachricht: Neue Klingeltöne verfügbar. Klasse, löschen. Zweite Nachricht: Abitreffen 18. Mai Susi. Wer um Himmels Willen war Susi? Ich durchforstete, kurzfristig von meinem Jammer abgelenkt, mein Gehirn. Susi ... Susi ... ach ja, diese brave kleine Maus in der ersten Reihe. Zehn Jahre Abitur, von mir aus, ich würde da bestimmt nicht hingehen. Und woher hatte die überhaupt meine Nummer? Ich schickte eine Antwort: WO? Sarah, damit ich da nicht aus Versehen reinplatzte, und legte das Handy beiseite. „Na, hat er sich gemeldet?“, fragte Cora, als ich neben ihr auftauchte und ihr half, die Spülmaschine einzuräumen.
„Natürlich nicht. Klingeltöne und Abitreffen, nur Scheiß.“
Mein Handy schrillte, und ich stürzte hin. Neue SMS. Ach, bloß von Susi. Die hatte ja anscheinend auch nichts Sinnvolles zu tun!
Wittelsbacher Hof 18.00
Kommst du? Susi.
Weiß noch nicht. Sarah.
Warum sollte er sich auch melden? Ich starrte verdrossen aus dem Fenster. Ob seine schwangere Edeltussi schon eingezogen war? Ob sie schon mit ihm zusammen arbeitete? Oder hatte er sich eine neue Buchhalterin von JobTime gesucht? Für Sekretariatsarbeiten und Buchhaltung war eine Diplombetriebswirtin sicher zu schade. Ob sie mit seinen Möbeln einverstanden war? Ich stellte mir vor, wie sie alles raus warf und die Einrichtung auf Louis Quinze im Stil des elterlichen Schlosses umstellte. Wäre Christian fasziniert oder bräche ihm das Herz? Und was ging mich das denn noch an? Mein Handy schrillte wieder. Ich rief die Nachricht auf. Wo ist der Vorgang Haberecker? C. Ich wollte gerade antworten, als Cora angeschossen kam und mir das Telefon aus der Hand riss. „Lass mich, dem werden wir es zeigen!“ Sie tippte etwas ein und zeigte mir dann das Display: Mt.7,7. Ich sah sie verblüfft an. „Was soll das denn bedeuten?“
„Hat er eine Bibel im Büro?“
„Seine Bibel sind 1001 Steuertricks, warum?“
„Da könnte er den Spruch nachschlagen, im Matthäus-Evangelium …“
„Und was steht da?“
„Suchet, so werdet ihr finden. Oder hast du den Vorgang versteckt?“
„Klar, steht unter H bei den unerledigten Vorgängen. Wenn er nicht völlig verblödet oder von seiner Charlotte erschöpft ist, müsste er das gerade noch selber finden. Aber wahrscheinlich ist er wirklich zu blöde dazu. Solche Sachen habe eben immer ich gemacht. Ob die Neue weiß, wie man seine kostbaren Hemden korrekt bügelt? Hoffentlich brennen sie ihr an!“
„So ist es recht!“ Cora schaltete mein Telefon aus. „Mehr Info kriegt er jetzt nicht. Komm, wir müssen auf den Kriegspfad!“
Wir begannen auf der Post, weil sie gleich um die Ecke lag. Ich füllte den Nachsendeantrag aus und gab Coras Adresse an. Es gab ein wenig Ärger, weil ich, damit der Auftrag sofort ausgeführt wurde, schon vor Wochen hätte wissen müssen, dass Christian mich gegen ein besseres Modell austauschen würde. Coras Gemurmel, dass man bei der Post eben keinen schnellen Service erwarten konnte, verbesserte die Stimmung der Schalterbeamtin nicht wirklich und ich griff schließlich ein und versicherte, ich wäre schon zufrieden, wenn der Service ab Mitte der nächsten Woche funktionieren würde. „Die Post, die ich zwischendurch bekomme, muss ich eben abschreiben, Exfreunde leiten doch nichts weiter.“
„Exfreunde?“, fragte die Frau im Glaskasten nach.
„Er hat mir erst gestern gesagt, dass er eine Neue hat, das konnte ich doch vorher nicht wissen! Und an meiner Stelle wären Sie sicher auch nicht länger in der Wohnung geblieben, oder? Man hat ja schließlich seinen Stolz.“
„So ein Saukerl“, murmelte sie. „Passen Sie auf, ich schreib das Datum vom Montag darauf und leg es selbst in den Verteiler, dann geht das schneller.“
„Toll, vielen Dank!“
Draußen meinte Cora: „Du appellierst also an die schwesterliche Solidarität? Die Methode scheint zu klappen, jedenfalls besser als meine. Ich wollte gerade sagen, wie froh ich bin, keine Postaktien mehr zu haben, aber das hätte der Tussi nie so Beine gemacht wie deine Jeremiade.“ Ich musste lachen. Cora fuhr fort: „Angeblich soll es aber auch helfen, wenn man sich stumm Notizen macht, sobald die ungefällig werden, und sich weigert, zu sagen, was man notiert hat. Dann denken sie, man kommt von der Oberpostdirektion und sie sind beim nächsten Stellenabbau dran.“
„So, als würde man in der Kneipe Restauranttester spielen?“
„Genau. Sollten wir mal probieren! Was jetzt?“
„Rathaus. Ohne Lohnsteuerkarte bin ich doch total hilflos.“
Im Rathaus gab es keine Probleme, eine Zweitschrift der gelben Karte wurde kommentarlos ausgedruckt, man wies mich lediglich darauf hin, dass ich dem Finanzamt beide Karten einreichen musste. Ach was! Auf dem Weg zu JobTime, der schrägen, aber ziemlich erfolgreichen Zeitarbeitsagentur, bei der fast jeder während des Studiums schon mal in den Akten gestanden war, kamen wir an meiner Bank vorbei. Der junge Mann hinter dem Tresen schaute etwas verwirrt, als ich meine Daueraufträge mit sofortiger Wirkung stoppte und die Buchungen für diesen Monat zurückziehen ließ. „Ich glaube, das geht nicht.“
„Das geht“, antwortete ich geduldig, „aber ich warte gerne, während Sie Ihren Filialleiter fragen.“
Er trabte nach hinten, rührend in seinem Erwachsenenanzug, der in den Schultern noch zu weit war. „Der soll nicht so albern sein“, murmelte ich Cora zu, „ich hab so etwas fürs Büro schon öfter gemacht. Dass es sich mal gegen Christian richten würde, hätte ich allerdings auch nicht gedacht.“
Cora tätschelte mir mitfühlend den Arm. Das Bürschlein kam zurück. Daran, dass die Bankangestellten aussahen wie die Kinder, erkannte man als erstes, wie man selbst älter wurde! „Gut, es geht. Also, wir buchen die Beträge zurück. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
Ich bat um Papier und Stift und rechnete den exakten Nebenkostenanteil bis einschließlich gestern Morgen aus, dann überwies ich diesen Anteil zurück, mit präziser Erklärung in der Rubrik Verwendungszweck. Jetzt war er völlig verwirrt; seine Restakne rötete sich hektisch. „Aber das ist doch die gleiche Kontonummer!“
„Aber ein geringerer Betrag“, erklärte ich.
„Ja, wollen Sie dann einen Dauerauftrag über den neuen Betrag einrichten?“
„Nein, will ich nicht. Das war die absolute Restzahlung. Jetzt gucken Sie nicht so, sollte der Empfänger sich beschweren, tut er das bei mir.“
„Und das traut er sich nie“, fügte Cora finster hinzu. Ich schenkte dem Schalterbeamten noch ein strahlendes Lächeln, obwohl mir eher nach Heulen zumute war, und wir schwebten wieder hinaus. Äh, jetzt musste ich bei JobTime zu Kreuze kriechen! Ich schilderte mein Problem so neutral wie möglich, und die Mitarbeiterin, Frau Daffek (laut Ansteckschildchen), seufzte kummervoll. „Kein Zeugnis? Das ist schlecht. Wissen Sie, Buchhaltung ist ein Vertrauensposten, da möchte ein Arbeitgeber auch bei einer Zeitkraft doch wissen, wie sie vorher gearbeitet hat.“
„Das Zeugnis kriege ich schon noch. Aber ich habe jetzt vier Jahre für meinen Lebensgefährten gearbeitet, und gestern hat er Schluss gemacht. Wenn er kapiert hat, dass er mich nicht privat abservieren und gleichzeitig erwarten kann, dass ich weiterhin sein Vorzimmer in Ordnung halte, wird er mit dem Zeugnis schon rüberkommen.“
„Und mit dem Hinweis auf die große Liebe hat er am Gehalt gespart, stimmt´s?“
„Woher wissen Sie das?“, fragte ich verblüfft.
„Ach, die Kerle sind doch alle gleich. Glauben Sie, ich habe immer hier gearbeitet?“
Ich lachte verächtlich. „Lange kommen die mit so etwas nicht mehr durch.“
„Noch scheint es aber zu funktionieren“, murmelte sie, den Blick auf ihren Bildschirm gerichtet. „Bei Buchhaltung hab ich eh nur eine Anfrage, gerade reingekommen. Das Steuerbüro Lichting sucht eine versierte - “
Sie brach ab, weil Cora und ich hysterisch kicherten. „Ach, ist er das?“
Wir nickten und wischten uns die Augen. „Soll ich hingehen?“
„Der kapiert den Witz nie! Er wird höchstens sagen, schön, dass du vernünftig geworden bist.“
„Stimmt. Nein, da gehe ich nicht hin.“
„Würden Sie auch Ablage und so was machen? Ich weiß, dafür sind Sie überqualifiziert, aber ohne Zeugnis...“
„Klar, mache ich. Wo und wann?“
„Ab dem zweiten April, bei Gerheim, dem Kosmetikgroßhandel, über denen ist die Ablage zusammengebrochen. Sie rechnen mit vier Wochen Aufräumarbeiten. Netto etwa zehn Euro die Stunde, also neun für Sie und einen für uns, wie immer. In Ordnung?“
„Wo ist das?“
„In Selling, Kölner Straße 43. Finden Sie das?“
„Logisch.“
Ich unterschrieb einen Zeitarbeitsvertrag, notierte mir die Daten und was ich an Vorkenntnissen mitbringen sollte – offenbar reichte es, wenn ich des Alphabets mächtig und nicht farbenblind war – und war mit diesem Vormittag zunächst sehr zufrieden.
Cora und ich klatschten draußen unsere Hände gegeneinander. „Das sind doch immerhin siebzig Euro am Tag, gar nicht so übel!“, fand Cora. „Und wenn du was Festes hast, kannst du dir eine Wohnung suchen, solange bleibst du bei mir. Ich finde es lustig, eine Mitbewohnerin zu haben, das ist wie im Studium. Und für neue Klamotten hast du damit auch genug Geld, komm, wir gehen ins Horizont hinter der Uni, da gibt es alles, was du brauchst!“
Ich folgte ihr brav. „Gehst du denn in Jeans und T-Shirt zur Arbeit?“
„Klar, in den meisten Betrieben wird das nicht so eng gesehen. Schau, du kannst ja auch deine Seidenblusen mit Jeans kombinieren, und deine Kostüme musst du schließlich nicht wegschmeißen, aber täglich in diesem unbequemen Kram... Was hat ein solches Kostüm eigentlich gekostet?“
„Um die dreihundert Euro herum. Diese Bluse war schon etwa mit hundertzwanzig dabei.“
„Wahnsinn!“, staunte Cora, „für den Preis der Bluse kleiden wir dich dort komplett ein. Oder wolltest du Designerjeans?“
„Christian hat welche, für Freizeitevents“, antwortete ich nachdenklich. „Ach, und wieso du nicht?“
„Bei diesen Events war ich meistens nicht dabei. Und wenn, dann als Assistentin, Köfferchen tragend und mitschreibend, dann war ein Kostüm gar nicht so daneben. Freizeit heißt für Christian, künftige Mandanten zu treffen, da bringt man doch seine Freundin nicht mit. Und außerdem schätzt er es nicht, wenn Frauen Hosen tragen. Das dunkle Leinenkleid war für lässigere Anlässe reserviert.“
„Leinen! Hast du dich nicht tot gebügelt?“
„Nein. Ich weiß, wie man Leinen richtig bügelt, Christian hat genug leinene Tischwäsche.“ Die Hausfrau aus den fünfziger Jahren! Wahrscheinlich konnte ich mir einen Job in der Bügeleisenwerbung schnappen oder beim Extreme Ironing mitmachen, darüber hatte ich heute Morgen einen spöttischen Radiobericht gehört. Wie das mit dem Bügeln unter Wasser funktionieren sollte, hatte ich allerdings nicht kapiert. „Wenn du eine Wohnung und einen festen Job hast, brauchst du als nächstes ein Auto“, wechselte Cora das Thema.
„Au ja! Das hätte ich schrecklich gerne wieder. Christian findet ja, zwei Autos in der Stadt sind Unsinn, aber seins durfte ich fast nie benutzen.“
„Du hast diesen Monsterhaushalt ohne Auto versorgt? Was für ein Arschloch!“
„Scheiße, ja!“ Ich blieb stehen. So viel wie in den letzten fünfzehn Stunden hatte ich seit Jahren nicht mehr geflucht (Das große Buch der feinen Lebensart). „Gestern erst! Ich schleppe den Mineralwasserkasten zu Fuß nach Hause, weil ich denke, dass er den Wagen braucht, um bei einem potentiellen Mandanten Eindruck zu schinden, und dabei fährt er damit bloß zu seiner Edeltussi, um mit ihr zu vögeln!“
„So hast du aber bei Christian auch nicht geredet, oder?“
„Nein“, gab ich zu, „aber ich bin so was von stinksauer!“
„Wäre ich auch. Wollen wir ihm was antun?“
„Was denn? Der feine Herr ist doch unangreifbar!“
„Sag das nicht... Er ist doch sehr von seinem guten Ruf in Finanzkreisen abhängig, oder? Über Freddy könnten wir da durchaus Gerüchte streuen. Freddy macht das, wenn wir ihn überzeugen.“
„Nein, das ist mies!“
„Klar, deshalb passt es doch so gut zu deinem feinen Herrn.“
„Das machen wir nicht“, lehnte ich energisch ab. „Schade, ich wollte immer schon mal richtig rattenmäßig jemanden fertigmachen“, seufzte Cora. „Ich könnte mich auch in seine Webseite schmuggeln und da ein bisschen was verändern... Oder ihm einen Virus schicken.“ Nun musste ich doch lachen. „Okay, aber erst, wenn er kein Zeugnis rausrückt oder auf meiner Lohnsteuerkarte sitzen bleibt. Vorher nicht!“
„Wir könnten auch der stilvollen Tussi ein bisschen Ärger machen“, bot Cora begeistert an, „da gibt es sicher schöne Möglichkeiten. Glaubst du, wenn sie so fein ist, wissen ihre Eltern, dass sie sich hat anbumsen lassen? Wir könnten Warenproben von Alete und so verschicken, an die Adresse ihrer Eltern. Stell dir bloß vor, wie so eine ältliche Gräfin oder so Pampersproben aus dem Briefkasten fischt und dumm schaut!"
Geniale Idee, aber nein. Ich behauptete schnell, den Namen meiner Nachfolgerin nicht zu kennen, um Coras Eifer zu bremsen, und ließ mich von ihr ins Horizont zerren. Regale über Regale, blau gefüllt. „Gibt es Jeans mittlerweile nur noch in Blau?“, flüsterte ich. Cora schüttelte den Kopf und deutete in die hinteren Regionen. Ja, dort war alles etwas bunter. Ein junges Mädchen näherte sich. „Kann ich euch helfen?“
„Äh, ja – ich bräuchte Jeans“, antwortete ich etwas unbeholfen. Sie musterte mich von der Seidenbluse über den Tweedrock bis zu den Pumps. „Ich sehe es... welche Größe?“
„Keine Ahnung. Vierzig, denke ich.“
Sie keuchte erschrocken. „Vierzig? Niemals! Das ist sogar den meisten breitärschigen Amis zu groß.“
Ich kapierte gar nichts mehr. Vierzig war seit Jahren meine Größe gewesen, von der achtunddreißig hatte ich mich schon kurz nach dem Abitur verabschieden müssen. Aber ich war ohne Schuhe immerhin einen Meter vierundsiebzig groß, also fand ich mich meistens nicht zu dick. Trotzdem – einen Reistag sollte ich vielleicht doch mal wieder... Frühjahrskur und so...
Ein Maßband wurde mir locker um die Hüften geschlungen. „Einunddreißig“, murmelte das Mädchen und kniete sich hin, um die Seitenlänge abzumessen. „Und zweiunddreißig“.
Vage erinnerte ich mich an die einzige „echte“ Jeans, die ich in meiner Schulzeit im Western-Store gekauft hatte, 30/34. Stimmte ja, die wurden in Zoll gemessen. „Stonewashed?“, fragte die Verkäuferin über die Schulter, die Hand schon in einem Regal.
Was? „Stonewashed“, bestätigte Cora bestimmt. „Und vielleicht dunkelgrau, black moon oder so.“
Mir wurden zwei Paar gefaltete Jeans in die Hand gedrückt. „Kabinen sind dort hinten.“
In der engen Kabine schälte ich mich aus dem Rock und schlüpfte in die grauen Jeans. Nicht schlecht, fand ich und betrachtete mich im Spiegel. Sie saßen richtig – aber war ich wirklich derartig blass? Hatte ich wirklich solche Schatten unter den Augen? Alt sah ich aus – aber einen knackigen Hintern hatte ich offensichtlich doch noch, stellte ich mit einem Blick über die Schulter fest.
Cora zog den Vorhang auf. „Die ist zu weit!“
„Quatsch“, widersprach ich, „die ist total bequem.“
„Und wenn du sie eine Stunde anhast, ist sie ausgeleiert. Können wir die gleiche in dreißig haben?“, rief sie nach vorne. Seufzend zwängte ich mich in das engere Exemplar und brachte nur mit Mühe den Reißverschluss zu. „Furchtbar, ich kriege ja gar keine Luft mehr! Wie soll ich mich denn so hinsetzen?“
„Daran gewöhnst du dich.“ Cora holte die hellblauen Jeans ebenfalls in dreißig und ich strampelte mich schwitzend aus der einen hinaus und in die andere hinein. Mussten diese Dinger so quälend eng sein? Mein letztes Exemplar war eine Karotte mit Bundfalten gewesen, aber das sagte ich Cora lieber nicht, wahrscheinlich war das uncool.
„In Ordnung“, beschloss Cora schließlich, „die beiden nimmst du.“
Ich stöhnte gequält auf. „Kann ich mir wenigstens bei den Sweatshirts eine humane Größe aussuchen?"
Sie wies auf einen Drehständer. „Bedien dich. Und ein paar T-Shirts könnten auch nichts schaden, vor allem in weiß.“
Während ich die Sweatshirts durchsah – mussten die alle so alberne Aufdrucke haben? Und die scheußlichen Farben erst! – eilte die Verkäuferin mit einem günstigen Dreierpack T-Shirts herbei, die mir nicht gefielen, ich stand mehr auf V-Ausschnitte. Sie wieselte wieder davon, und ich zog das teuerste aller Sweatshirts vom Bügel – hellgrau, mit geripptem Polokragen, dezent aufgesticktem Logo und – das Allerwichtigste – einem Waschzettel, der 60° erlaubte.
„Wieso willst du das so heiß waschen?“
„Will ich gar nicht. Aber das ist ein Zeichen, dass es sich um erstklassige Baumwolle handelt. Das Ding soll ja nicht gleich wieder im Flusensieb das Zeitliche segnen, oder?“ Die Verkäuferin eilte wieder zu uns. Geeignete T-Shirts hatte sie nicht mehr, nur noch ein einzelnes von einer bekannten Jeansmarke, in Blassrosa. Ich nahm es und fragte nach weiteren Sweatshirts von guter Qualität. „Die kosten aber fast vierzig Euro“, gab sie zu bedenken.
„Ja, das kann ich mir schon denken. Ich möchte sie trotzdem sehen, geht das?“
Sie zuckte die Achseln und räumte ein Regalfach aus. Ich sah den Stapel flüchtig durch. Ein lavendelblaues Sweatshirt war genauso schön wie das hellgraue. Trotzdem – an der Kasse zahlte ich unter zweihundert Euro, kaum mehr als für eine wirklich schöne Seidenbluse, und so hatte ich doch ein brauchbares Outfit für die Freizeit und vielleicht auch für die Arbeit. Zufrieden griff ich nach der großen Papiertüte.
Auf dem Weg nach Hause kamen wir noch bei Polo´s vorbei, wo die Ware teurer, aber auch besser war, und ich entdeckte noch ein drittes Sweatshirt in hellem Gelb und außerdem zwei recht ordentliche Polohemden in dunkelblau und weiß. Noch mal rund hundert Euro. Jetzt war aber Schluss, die von Cora dringend empfohlenen Sneakers gab es erst nach dem nächsten Gehalt! Vergnügt pfeifend schichtete ich meine Neuerwerbungen in den Schrank im Gästezimmer, aber dann überfielen mich wieder Gewissensbisse. „Ich bin so doof, Cora!“
„Warum?“ Sie hantierte gerade mit einer Saftpackung und zwei Gläsern herum. „Hast du was vergessen?“
„Nein – aber ich hätte nicht so viel Geld ausgeben sollen! Wenn ich mir eine Wohnung suche, wird es mir bloß fehlen.“
„Das mit der Wohnung hat doch wirklich Zeit, ich freue mich, wenn du hier bleibst.“
„So etwas Schönes wie diese Wohnung hier werde ich mir ohnehin nie leisten können.“
„Na, für zwei Zimmer wird es schon reichen, oder? Ein bisschen weiter draußen kannst du so was schon für fünfhundert Euro kriegen. Und wenn wir mal hochrechnen, was du für diesen Rumpelstilzchen-Job kriegst – das sind doch schon über dreihundert in der Woche, oder? Mehr als dein blöder Christian dir gezahlt hat. Du musst keine Kostüme oder Abendkleider mehr kaufen, was du hast, reicht noch ewig, und die Nebenkosten sind auch nicht so hoch. Wahrscheinlich hat diese Ratte dich auch noch an den Kreditzinsen beteiligt, was?“
„Das glaube ich nicht“, murmelte ich, „aber ich weiß mittlerweile nicht mehr, was ich von ihm glauben soll.“
„Guck doch mal, ob er schon wieder einen Hilfeschrei losgelassen hat!“
Gehorsam schaltete ich mein Handy ein und rief die SMS ab. Ja, eine, und tatsächlich von ihm. Lass die Albernheiten, C. Das musste man keiner Antwort würdigen, fand ich und warf das Handy wieder in meine Tasche.
„Scheiße!“
„Was denn jetzt wieder?“, fragte Cora verblüfft.
„Ich bin dreißig Jahre alt und das bisschen Kram in deinem Gästezimmer ist alles, was ich jemals zustande gebracht habe! Kein Uniabschluss, kein Freund, nicht einmal ein Dach über den Kopf, kein Job. Ich dachte, ich hätte es geschafft, als ich mit Christian zusammen war – Job, gemeinsame Zukunft, vielleicht mal Kinder – und jetzt stehe ich wieder mit total leeren Händen da.“ Ich begann wieder zu heulen. Cora seufzte. Die Einkäufe hatten also doch nicht als hinreichend aufbauend erwiesen? Sie rutschte neben mich und legte den Arm um meine Schulter. „Wein dich ruhig aus. Aber so schlimm ist das alles doch auch nicht!“
„Doch!“, jaulte ich. „Ich hab gar nichts! Überhaupt keine Zukunft!“
„Was für ein Blödsinn. Du hast doch schon wieder einen Job! Und ich kenne haufenweise Leute, die über JobTime etwas Festes gefunden haben. Das gelingt dir auch, pass nur auf.“
„Wen denn?“, jammerte ich und schneuzte mich in ein Kleenex.
„Na, Hannah zum Beispiel, die hat jetzt was Festes als Büroleiterin und ist total glücklich.“
„Und wen noch? Du hast gesagt haufenweise!“
Cora lehnte sich zurück. „Hm... Hannah, und - ach komm, Hannah reicht ja wohl als Beispiel, oder? Die anderen arbeiten doch schon so lange nicht mehr bei JobTime. Glaub mir, du findest schon was!“
„Aber ich will nicht mein Leben lang die Ablage machen!“, schluchzte ich, „das ist doch der totale Stumpfsinn!“
„Jetzt steigere dich da nicht rein. Christian schreibt dir ein ordentliches Zeugnis, sonst mache ich ihn so fertig, dass er nicht mehr weiß, ob er Männlein oder Weiblein ist, und dann kannst du wieder als Buchhalterin arbeiten.“
„Ich weiß gar nicht, ob ich das will“, murrte ich und schniefte in das nächste Kleenex, „das war doch auch bloß, um mit Christian zusammenarbeiten zu können.“
„Man soll sich nicht wegen eines Kerls für einen Job entscheiden“, stellte Cora fest und reichte mir ein frisches Taschentuch. Der Tisch vor dem Sofa sah schon ziemlich unappetitlich aus; ich schneuzte mich wieder und warf den Knäuel zu den anderen. „Wieder so eine Fehlleistung von mir, was?“ Ich seufzte zittrig. „Was soll ich denn jetzt bloß machen?“
„Gar nichts“, urteilte Cora, „du jobbst jetzt mal eine Zeitlang und guckst dich um. Und dann sehen wir weiter. Hat dein doofer Christian eigentlich Sozialabgaben für dich gezahlt?“
„Doch, schon. Ich hab die Buchungen ja gemacht. Er hat zwar gejammert, wie teuer das alles ist, aber da war ich hart. Und irgendwie war ihm auch klar, dass es schlecht kommt, wenn ein seriöser Steuerberater den Staat so offensichtlich bescheißt. Das nützt mir doch jetzt auch nichts, ALU krieg ich doch nicht, wenn ich selbst gekündigt habe!“
„Ich dachte ja bloß an den Rentenanspruch. Pass auf, du nimmst dir ein Jahr Zeit, und nach diesem Jahr hast du einen tollen Job, eine Wohnung für dich alleine, die du einrichten kannst, wie du willst, einen vernünftigen Kerl, dem du aber nichts glaubst – nur einen Betthasen – und ein ganz irres Leben. Wetten?“
„Nein... in einem Jahr pussele ich immer noch mit Hilfsjobs herum und hause in einem möblierten Zimmer. Und von Männern hab ich jetzt echt die Schnauze voll, mir kommt keiner mehr durch die Tür. Mensch, Cora – ich kann mir ja nicht einmal eine Wohnung zulegen, ich hab kein einziges Möbelstück, alles hab ich für Christian und seinen Scheißelitegeschmack aufgegeben.“
Mir stiegen schon wieder die Tränen in die Augen. Wie feuerrot meine fleißig laufende Nase mittlerweile war, wollte ich gar nicht erst wissen. Ich zerrte das nächste Kleenex aus der Box. Mist, das letzte – hatte ich wirklich seit gestern Abend einen Hunderterpack verheult? Sah ganz so aus. „Du kannst deine Klappstühle wieder haben, wenn du sie brauchen kannst. Und ein im Moment deaktiviertes Billy hab ich auch noch im Keller. Noch ´ne Matratze und ein paar Kleiderhaken, das reicht doch erstmal.“
„Ich hab nicht mal Bettwäsche!“, weinte ich. Allmählich verstrickte ich mich ganz schön in Details, aber das alles war eben so typisch, so symptomatisch für meine Situation: Ich hatte überhaupt nichts und Christian hatte alles.
„Worin hast du eigentlich bei Christian geschlafen?“
„Er hat neues Bettzeug gekauft, weil mein alter Kram unhygienisch wäre, hat er gesagt. Also hab ich damals den alten Kram weggeworfen. Und meine Bettwäsche fand er scheußlich. Naja, das war sie auch, so bunter Frottee. Aber jetzt wäre ich wieder froh drum.“
„Unhygienisch?“
„Ja, er sagte, Polyesterfüllung ist besser, wegen Hausstaub und Milben und so. Meine uralte Daunendecke war echt nichts mehr, da kamen schon überall die Federn raus. Und Bettbezüge mussten bei ihm in edlen Farben und aus Makosatin sein. Das ist wirklich schön weich, aber reichlich teuer. Na, jetzt schläft seine Edeltussi in der Polyesterdecke.“
„Sarah, das kann man bei Gelegenheit doch alles kaufen! Und solange du noch hier wohnst, brauchst du das alles doch überhaupt nicht. Regst du dich jetzt nicht künstlich auf?“
„Nein!“, jammerte ich. „Das ist doch alles ein Zeichen!“
„Zeichen wofür?“
„Dafür, dass ich total versagt habe! Dreißig Jahre – und nichts erreicht, alles, was ich hatte, war bloße Einbildung! Eine gottverdammte Illusion!“
„Ach, und das ist alleine deine Schuld? Gut, ich fand Christian nicht so wahnsinnig beeindruckend, weil er ein blöder Schleimer ist, aber das hätte ich doch bei ihm auch nicht vermutet. Wieso bist du die Versagerin, wenn er sich als Schweinebacke entpuppt?“
„Darum geht´s doch nicht“, zeterte ich, „ich habe einfach nichts Wirkliches auf die Beine gestellt!“
„Was wäre denn etwas Wirkliches?“, erkundigte sich Cora, etwas ratlos, wie mir schien.
„Weiß ich auch nicht. Eine Wohnung für mich, ein Job, der nicht davon abhängt, ob mein Chef sich in eine Bessere verliebt, eigenes Geld... all so was, denke ich.“
„Kommt alles, irgendwann. Du bist noch keine vierundzwanzig Stunden solo und hast schon wieder ein Dach über dem Kopf und einen Job in Aussicht. Und Christian kann dich nicht länger abzocken. Ich finde das eine ziemlich gute Tagesleistung, du nicht?“
„Ja, vielleicht. Warum war er so eine Ratte? Ich hab doch alles für ihn gemacht, und er geht hin und vergafft sich in eine andere!“ Ich schluchzte wieder los und griff mechanisch nach der Kleenexbox. Mist, die war ja leer! Aber in meiner Handtasche mussten noch Tempos sein... Ich wühlte darin herum und zog mit der Tempopackung einen zerknitterten Brief heraus. Nach dem Schnäuzen betrachtete ich ihn verblüfft, dann fiel es mir wieder ein. „Ach, der Scheiß! Den kann ich auch wegwerfen, sicher bloß ´ne Art Werbung, Rechtsschutzversicherung oder so.“
Ich fegte ihn vom Tisch und Cora hob ihn wieder auf. „Nein, das ist keine Werbung. Der ist korrekt adressiert, ohne Aufkleber, und Anwaltsbüros verschicken keine Werbung für irgendwelche Versicherungen. Mit Christian kann das eigentlich nichts zu tun haben, oder?“