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Kapitel 7

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Die nächsten Tage brauchte ich dringend, um zu verarbeiten, was ich am Montag erfahren hatte. Immer wieder las ich mir alles durch, was nun in einem zauberhaften, rundherum mit einer tropischen Strandszenerie bedruckten Ordner steckte – meine Kopie des Testaments, die Dokumente, die ich bei Antrack unterschrieben hatte, den Zettel mit dem Notartermin am Donnerstagnachmittag. Gründonnerstag – grün ist die Hoffnung – vielleicht wurde ja doch alles wieder gut? Alberne Assoziationskette, schalt ich mich selbst, aber tatsächlich fühlte ich mich langsam ein wenig besser. Ich war zwar immer noch wütend auf Christian, der mich genau genommen ja nur verarscht hatte, und auf mich selbst, weil ich so ein Schaf gewesen war, aber meine Existenz war nun doch nicht mehr ganz so zu Staub zerfallen wie noch am Freitagmorgen – ich hatte bald wieder eine Wohnung, egal, wie sie aussah, und außerdem einen Job in Aussicht. Natürlich war Ablage der höhere Stumpfsinn, aber sie zahlten so schlecht nicht.

Für den Anfang konnte ich also ganz zufrieden sein. Diese entspannte Stimmung hielt bis Mittwochnachmittag vor.

Am Vormittag war die Post gekommen und ich hatte sie routinemäßig sortiert – alles für Cora, bis auf einen braunen DIN-A-5-Umschlag, der an mich adressiert war. Ich hatte ihn sofort geöffnet – eine Postkarte meiner Cousine: Frohe Ostern! Die Abbildung zeigte ihre vier festlich gewandeten Kinder, jedes mit einem Schokohasen in der Hand. Nett, ich sollte ihr auch noch schnell eine Osterkarte schicken. Außerdem fand ich in dem Umschlag meine Lohnsteuerkarte, Gehalt und Abzüge waren akribisch bis zum 21. März inklusive ausgerechnet, und ein Zeugnis, das mir recht gut klang. Ich hatte doch gewusst, dass er keine derartige Ratte sein konnte!

Den Umschlag drehte und wendete ich, aber ich fand keine persönliche Bemerkung, nichts Handschriftliches oder wenigstens gute Wünsche für die Zukunft, von einer Entschuldigung oder Das ist alles blöd gelaufen ganz zu schweigen. Völlig kommentarlos, aber immerhin hatte ich meine Lohnsteuerkarte und mein Zeugnis. Ich heftete alles ordentlich ab und ging dann eine Osterkarte für Irma kaufen. Hatte das Wetter eigentlich nicht schöner werden sollen? Viel merkte man nicht, der Himmel war immer noch dicht bezogen. Ich kaufte mir als zu allererst einen Schirm, sicherheitshalber. Ein quietschgelbes Stück für fünf Euro im Drogeriemarkt. Mein alter war schöner gewesen, englischer, aber das war jetzt auch schon egal. Unter einem sonnig gelben Schirm hatte man doch gleich viel bessere Laune! Im Uni-Lädle ging es furchtbar zu. Ich drängte mich zu den Osterkarten durch und fand eine wirklich nette, ein ganz putziges und kindgerechtes Hasenfoto, das man hinterher in Puzzleteile zerlegen konnte. Da hatten die Kinder doch gleich etwas zu spielen, während Irma den Lammbraten begoss oder was immer eine vierfache Mutter an Ostern zu tun hatte!

Zufrieden reihte ich mich in die Schlange ein und nahm im Vorübergehen gleich noch einen geeigneten Filzschreiber mit. Die anderen Kunden sahen furchtbar jung aus – lauter Erstsemester? Ich merkte schnell, dass sie sich um Scheinformulare und das Heftchen anstellten, mit denen das Historische und das Literaturwissenschaftliche Institut ihre Veranstaltungen für das Sommersemester ankündigten. Außerdem gingen Schnellhefter sehr gut, also waren offenbar viele Seminararbeiten in Entstehung begriffen.

Ich überlegte, was ich auf die Puzzlekarte schreiben sollte – einfach Frohe Ostern für Irma, Wolfgang, Niko, Tanja, Susi und Tommy? Warum nicht, Irma hatte sicher nicht damit gerechnet, dass ich noch alle Namen im Kopf hatte. Und auf den Umschlag konnte ich hinten meine neue Adresse schreiben! Zum ersten Mal! Sophienstraße 12 – das klang gut. Nicht unbedingt besser als Philippinengasse 26 – oder doch? Es klang nach alter Villa, Gasse dagegen hörte sich nach windschiefer Altstadt und lichtloser enger Straße an. Irma war nicht hier aufgewachsen und konnte nicht wissen, wie elegant unsere Altstadtgassen renoviert worden waren.

Ich zahlte und drängte mich zwischen Witzpostkartenständern wieder nach draußen. Bei Horizont hatten sie bunte Jeans im Fenster. Sollte ich? So arm war ich doch gar nicht, oder? Entschlossen stieß ich die Tür auf und ließ mir lässig gelbe und feuerrote Jeans in Dreißig heraussuchen.

In der Kabine kämpfte ich ein bisschen, aber beide passten gut und waren echte Sonderangebote, nur neununddreißig Euro. Da konnte ich mir auch noch diesen Drehständer mit Blazern anschauen... Der dunkelblaue und der graumelierte mit den Lederknöpfen sahen gut aus und waren mit fünfzig Euro auch nicht teuer. Ich schlug zu; mit einem Blazer sahen auch Jeans ziemlich ordentlich aus, also hatte ich nun genügend anständige Arbeitskleidung. In Tweedkostüm und Pumps die Ablage zu machen, erschien mir dann doch leicht übertrieben, so etwas fand außer Christian bestimmt niemand gut. Mit meiner großen Tüte schaute ich dann doch noch einmal bei meiner künftigen Wohnung vorbei. Die Fenster müsste man mal putzen, stellte ich fest und betrachtete die hübsch gegliederte Fassade, aber die Fensterrahmen sahen neu aus. Kunststoff in Holzoptik? Oder wirkliches Holz? Holz war authentischer, aber es musste eben immer wieder mal gestrichen werden.

Sechs Zimmer – wie sollte ich jemals sechs Zimmer bewohnen? Na gut, fünf, eines hatte ja dieser Untermieter. Seit Jahren hatte ich überhaupt kein eigenes Zimmer mehr gehabt; Cora hatte ganz recht, ich war Aschenputtel, das seinen Laptop scheu nach dem Kochen und Abspülen in der Küche aufklappte und peinlich genau darauf achtete, nicht mehr als ein Schrankabteil zu belegen, damit die schicken Anzüge des hohen Herrn nicht verknitterten. Schön blöd!

Ein Mann trat aus der Tür zum Treppenhaus und trug zwei volle Plastiktüten in Richtung Hinterhaus. Dort standen wohl die Müllcontainer? Ich studierte das Klingelschild, um festzustellen, wie viele Parteien überhaupt in diesem Haus wohnten. Im Vorderhaus offenbar acht, je zwei pro Etage. Im zweiten Stock ein Rechtsanwalt, der die Wohnung neben seiner als Kanzlei nutzte, im dritten Stock eine WG und ein Professor, im vierten Stück links ein Paar, den beiden Namen nach, und rechts jemand namens Krzywalski. Ob das der Typ von eben war?

Jetzt kam er wieder, eine finstere Gestalt, ganz in schwarz, groß, schmal, wirre Haare und ein schwarzer Vollbart. Ich hasste Vollbärte, damit sahen die Männer so waldschratmäßig aus und man konnte ihr Mienenspiel nicht erkennen. Und durch das schwarze Gestrüpp im Gesicht sah der Kerl noch bedrohlicher aus – dem wollte ich nicht so gerne nachts auf der Straße begegnen. Mein Gesicht musste meine Gefühle wohl allzu deutlich ausgedrückt haben, jedenfalls kam der Finsterling auf mich zu. „Kann ich Ihnen helfen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ich hatte gequiekt! Räuspern, noch mal! „Nein, danke. Ich habe mir nur das Haus angeschaut. Es ist sehr schön.“

„Ja.“ Was sollte er auch groß sagen? Er betrachtete mich einen Moment lang unschlüssig, dann schloss er die Haustür auf, passierte sie und zog sie hinter sich demonstrativ ins Schloss. Für Trickdiebinnen und andere verdächtige Frauenzimmer ist hier kein Platz! Deutlicher hätte er es nicht machen können. Und diese tiefe Stimme – das musste ein Bass sein. Aber singen konnte der bestimmt nicht, die Stimme hatte reichlich rau geklungen. Vielleicht war er erkältet? Und vielleicht verblödete ich jetzt restlos, warum machte ich mir Sorgen um die Gesundheit von Krzywalski oder wie immer der hieß?

Im ersten Stock stand Ulitz/Waldmann. Äh, das klang ja auch wie ein Pärchen! Egal. Die Miete zu kassieren war sicher nicht schlecht. Und daneben CRS Design. Büros waren gut als Nachbarn, sie heizten ordentlich und waren nachts nicht da, um Krach zu machen oder sich über anderer Leute Krach zu beschweren. In diesem Haus konnte man es sicher aushalten, mal abgesehen von dieser finsteren Gestalt, aber der wohnte schließlich im vierten Stock. Sportlich – in den vierten Stock zu Fuß?

Ich kehrte in Coras Wohnung zurück und putzte die Küche, um mich wenigstens irgendwie für die Gastfreundschaft zu revanchieren. Cora ließ immer noch nicht erkennen, dass ich ihr auf die Nerven ging, und wenn ich im Gästezimmer blieb, um ihr nicht dauernd auf der Pelle zu sitzen, dann kam sie mich holen. Nur, wenn Freddy da war, schien sie nicht allzu traurig zu sein, wenn ich mit einem ihrer zahlreichen Frau–rächt–sich-an-bösem–Exfreund-Schmöker auf dem Bett lag und fasziniert verfolgte, wie andere Frauen einen Kerl so richtig elegant fertigmachten. So was konnte ich leider nicht, ich konnte Christian ja nicht einmal nachspionieren, um einen Blick auf meine so viel stilvollere Nachfolgerin zu werfen. Viel zu peinlich! Wenn er es merkte, würde er nur glauben, ich sei von ihm besessen. Entweder alarmierte er dann die Nervenklinik oder er musterte sich stolz im Spiegel: Wie schön ich doch bin, die Weiber laufen mir in Scharen nach, egal wie schlecht ich sie behandle. Wirklich nicht!

Die Küche funkelte geradezu, als Cora aus der Arbeit kam. Etwas zu kochen, hatte ich mich nicht getraut, denn ich wusste nicht, worauf sie Appetit hatte. Sie lachte, als ich sie fragte. „Wir kochen später zusammen, ja? Im Moment hab ich noch gar keinen Hunger, Sybille hat Canapés und Prosecco ausgegeben, weil sie befördert worden ist. Ich hab direkt einen sitzen!“ Sie schleuderte ihre Schuhe von sich und ließ sich auf eins der Sofas fallen. „Magst du etwas trinken?“, fragte ich besorgt.

„Och.. ja, ein Cola. Haben wir noch welches?“

„Klar!“ Ich hatte am Morgen ein bisschen eingekauft, schließlich wohnte ich hier ja umsonst. Cora trank ihr Glas mit wenigen großen Schlucken leer und ließ sich wieder zurückfallen. Dann öffnete sie ein Auge. „Und? War irgendwas Spannendes?“ Ich zeigte ihr meine Neuerwerbungen und die Karte von meiner Cousine.

„Wie bist du an die gekommen?“, fragte sie. „Die Adresse ist doch noch die alte, oder?“

„Ach ja, Christian hat sie weitergeleitet, samt Lohnsteuerkarte und Zeugnis. Alles in Ordnung.“

„Zeig mir mal das Zeugnis! Ich weiß, worauf man da achten muss.“

Ich gab es ihr. „Klingt doch ganz freundlich, oder?“

Cora las und schnaufte. „Ganz freundlich? Das Zeugnis ist eine einzige Unverschämtheit. So kann das nicht bleiben! Damit kriegst du nie wieder einen Job.“

„Wieso?“

„Pass auf, du wirst es gleich sehen!“

Sie tippte die Nummer aus dem Briefkopf ein und wartete. Ich lauschte neugierig.

„Ja, hier ist Cora. Dieses Zeugnis ist doch wohl nicht dein Ernst, oder?

- Weil das das mieseste Zeugnis ist, das ich jemals gesehen habe!

- Freundchen, ich weiß, was solche Wendungen wirklich aussagen sollen. Du hast sie jahrelang für einen Hungerlohn schuften lassen, sie als kostenlose Haushälterin missbraucht, sie Knall auf Fall abserviert und schreibst ihr so ein Zeugnis? Pass auf, erinnerst du dich an Freddy?

- Genau, und er kennt noch sehr viel mehr Anwälte. Er ist gut in seinem Job und sehr beliebt. Soll er mal einige Gerüchte über dich streuen? Das können wir ganz dezent erledigen, du wirst nie genau erfahren, auf welchen Wegen deine Klienten überredet wurden, sich einen anderen Steuerberater zu suchen.

- Das ist keine Drohung. Ich weise nur auf mögliche Konsequenzen hin. Wann hattest du eigentlich die letzte Steuerprüfung?

- Interessant, dann wird´s ja bald mal Zeit... Ein gutes Virenschutzprogramm hast du hoffentlich?

- Aber nein, ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Du wirkst so planlos in letzter Zeit!

- Hast du irgendwelche Beweise?

- Dachte ich mir. Pass auf, ich bin sicher, dass dir überhaupt nichts zustoßen wird, wenn du dich richtig absicherst.

- Ganz einfach. Nimm dir einen Stift und dein Exemplar von diesem beschissenen Zeugnis.

- Himmel, dann druck es dir noch mal aus! Kann ja wohl so schwer nicht sein.“

Cora verdrehte die Augen zum Himmel! Ich rührte mich nicht, dazu war ich viel zu verblüfft. Cora hörte sich an wie eine erstklassige Gangsterbraut. Woher hatte sie nur diese fiese Art? Schien aber auf sehr erfreuliche Weise ihren Zweck zu erfüllen.

„Fertig? Los geht´s! Erster Satz: Statt Sarah Ulitz hat seit 1998 in unserem Steuerbüro gearbeitet schreibst du natürlich Sarah Ulitz hat seit der Gründung 1998 unser Steuerbüro organisiert. Klar?

- Wieso, so war´s doch!

- Hast du eigentlich eine Website?

- Warum nicht gleich so? Zweiter Satz: Aus Sie hat sich immer bemüht, zu unserer Zufriedenheit zu arbeiten wird sofort Sie hat stets zu unserer vollsten Zufriedenheit gearbeitet. Hast du das?

- Dritter Satz. Sie wurde in den Bereichen Buchhaltung, Mandantenbetreuung und Ablage eingesetzt ist natürlich unmöglich. Das heißt Sie hat die gesamte Buchführung, die Mandantenbetreuung und alle anfallenden Sekretariatsarbeiten stets eigenverantwortlich und mit größter Kompetenz und Zuverlässigkeit erledigt. Schreibst du?

- Sei nicht albern, das ist nur in deinem eigenen Interesse.

- Sie hat aus privaten Gründen fristlos gekündigt wird zu Sie musste uns aus privaten Gründen kurzfristig verlassen; wir bedauern ihr Ausscheiden sehr und wünschen ihr weiterhin viel Erfolg. So macht man das, du Pfeife! So, und das druckst du jetzt schön zweimal aus und schickst es umgehend hierher, mit Kurier. In einer Stunde ist es da! Ach, übrigens, ich höre, man darf dir gratulieren, Papi?“

Sie legte auf und sah mich triumphierend an. „So macht man das – der hatte die Hosen gestrichen voll. Weißt du, er könnte ja nie beweisen, dass wir ihm seine Kunden vergrault, seine Computer lahm gelegt und ihm die Steuerfahndung auf den Hals gehetzt haben, aber das würde ihn total ruinieren. Und du kannst mir nicht erzählen, dass er das Finanzamt nicht irgendwo bescheißt, wo er glaubt, man kommt ihm nicht drauf. In einer Stunde haben wir ein besseres Zeugnis.“

Ich schüttelte wie benommen den Kopf. „Was war denn an dem alten Zeugnis so schlecht? Ich fand es ganz normal.“

„Das sieht nur so aus, die Formulierungen hätten jedem anderen Arbeitgeber einiges verraten.“ Sie hob die Hand und begann an den Fingern herzuzählen:

„Erstens hast du nur untergeordnete Arbeiten verrichtet. Zweitens ist es dir nicht gelungen, deinen Chef zufrieden zu stellen – das sagt das „bemüht“, – drittens musste man dir alles sagen, damit du es machst, vor allem Ablagekram und Kaffeekochen, und viertens hast du deinen Chef wegen irgendwelcher Weiberzickereien von heute auf morgen mit der Arbeit hängen gelassen. Damit hätte dich niemand mehr eingestellt.“

„Unglaublich! Wie hast du das alles erkannt?“

„Ich hab mich mal damit befasst, welche Geheimcodes die Chefs in den Zeugnissen verwenden. Oberste Regel: Ein gutes Zeugnis strotzt vor Superlativen und weist auf selbständiges und kompetentes Arbeiten hin. Na, jetzt steht es ja drin!“

„So eine Ratte! Nicht genug, dass er mich total ausgebeutet und dann noch betrogen und abserviert hat, jetzt wollte er auch noch verhindern, dass ich jemals wieder einen neuen Job kriege.“

„Wahrscheinlich wollte er nur sicher gehen, dass du nicht mehr in der gleichen Branche arbeitest, das wäre ihm wohl doch zu peinlich geworden.“

„Trotzdem! Will er sich jetzt rächen, damit ich mein Leben lang irgendwo die Ablage machen muss? Bloß, weil ich unter diesen Umständen nicht mehr für ihn arbeiten konnte?“

„Ich weiß es auch nicht. Traust du ihm das zu?“

„Ich weiß nicht mehr, was ich ihm zutrauen kann und was nicht. Diese miese Laus!“

Cora drückte mir einen Porzellanhund in die Hand. „Was soll ich damit?“

„Wirf ihn aus dem Fenster auf die Straße, das befreit. Aber guck vorher, ob jemand kommt!“ Ich stellte mir vor, es sei kein Hund, sondern eine Ratte namens Christian, und schleuderte das hässliche Ding nach einem hastigen Blick nach links und rechts auf den Bürgersteig, wo es mit einem Knall zerschellte. Ha! Danach ging es mir tatsächlich besser, aber nur einige Minuten lang, dann heulte ich wieder – weil Christian so gemein war, weil ich ein dummes Huhn war, das diese Gemeinheit jahrelang gar nicht bemerkt hatte, weil ich nicht wusste, was jetzt werden sollte, weil ich mir furchtbar leid tat, weil... und überhaupt. „Vielleicht war er vorher gar nicht so gemein“, antwortete Cora nachdenklich, als sie mein Geschluchze schließlich deuten konnte. „Manche Leute werden doch erst so, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es gerne hätten, und vorher verstecken sie ihre miese Art sehr raffiniert. Das konntest du wohl gar nicht merken. Du bist kein dummes Huhn!“

„Doch“, heulte ich, „ich hab doch überhaupt keine Menschenkenntnis. Ich hätte es merken müssen, wie er mich ausgenutzt hat!“

„Das merkt man doch immer erst, wenn die Liebe zum Teufel geht“, murmelte Cora und fuhr sich ratlos durch ihren schwarzen Pagenkopf. Wahrscheinlich ging ihr mein Geflenne allmählich furchtbar auf die Nerven! Ich schluchzte noch einmal auf und putzte mir dann energisch die Nase. „Wollen wir kochen?“

„So ist es brav, meine tapfere Sarah!“

Ich hatte gerade begonnen, Zwiebeln zu hacken, als es klingelte und ein Fahrradkurier einen Umschlag vorbeibrachte. Cora öffnete den Umschlag und überflog den Inhalt, dann nickte sie und bestätigte den Empfang.

„So, jetzt hast du ein Zeugnis nach Wunsch. Morgen machen wir Kopien, und nächste Woche geben wir eins bei JobTime ab. Wieder ein Schritt geschafft!“

Während der Osterfeiertage ging ich viel spazieren, damit Cora und Freddy auch mal sturmfreie Bude hatten. Allzu viel Zeit hatte Freddy freilich nicht, weil seine Mutter fast einen Herzstillstand erlitten hätte, als er andeutete, bei Cora zum Osterfrühstück eingeladen zu sein.

„Das Blöde ist, dass sie nie sagt, was sie gegen mich hat“, murrte Cora, „sie sagt immer nur, ich sei eine reizende junge Dame, und dann greift sie sich filmreif ans Herz. Irgendwann platzt Freddy der Kragen und er ignoriert es. Dann nippelt sie wahrscheinlich wirklich ab, und er macht sich ewige Vorwürfe. Scheißsituation!“

Trotzdem schlenderte ich stundenlang durch die Straßen, erkundete die Umgebung meiner neuen Wohnung, dachte über Christian nach, vor allem darüber, an welchen Anzeichen ich schon viel früher hätte erkennen müssen, dass er eine Ratte war, kickte Kieselsteine vor mir her und schaute glücklichen Familien beim Osterspaziergang zu, bis ich mir wieder richtig Leid tat.

Stolz und das Gefühl dafür, was man tat und was nicht, schrumpften angesichts des Selbstmitleids in sich zusammen – jetzt wollte ich doch wissen, wie meine Nachfolgerin aussah!

Ich suchte mir eine Telefonzelle, in der tatsächlich ein vollständiges Telefonbuch hing, und schlug nach. Unter Rütensberger standen nur zwei Einträge, F.W. von Rütensberger im westlichen Waldburgviertel, und C. von Rütensberger im Univiertel, in der Carolinenstraße. O Gott, das war gar nicht weit weg von mir!

Am Ostermontag stylte ich mich so auf, dass Christian mich nicht erkennen konnte (Jeans und Sweatshirt mussten reichen) und machte mir einen Pferdeschwanz, denn ich dann durch eine von Coras Baseballkappen steckte. Dazu eine Sonnenbrille (angesichts des wechselhaften Wetters nicht unbedingt notwendig) und ich war für Christian, der nur echte Damen wahrnahm, total unsichtbar – hoffte ich wenigstens.

So angetan spazierte ich zwei Stunden durch das Univiertel und warf dabei mehr als einen Blick auf das Haus, in dem die stilvolle Charlotte – wenn das wirklich ihre Adresse war – wohnte. Nichts Auffälliges, ein renovierter Altbau wie überall im Viertel, im Erdgeschoss eine Kneipe und eine Reinigung. C. Rütensberger wohnte im Vordergebäude, im dritten Stock. Ich wechselte auf die andere Straßenseite und betrachtete mit mäßigem Interesse die Fenster einer Buchhandlung, die sich auf Filmbücher spezialisiert hatte, dann warf ich wieder einen Blick auf die Fassade. Im dritten Stock waren sämtliche Fenster schmierig. Da war wohl die Putzfrau krank geworden?

Mehr war nicht festzustellen, und so groß war der Triumph auch nicht, dass die stilvolle Charlotte eine schlampigere Hausfrau war als ich. Ich hoffte nur, dass Christian nun alles selbst machen musste! Wenn ich hier schon herumstreifte, konnte ich auch noch durch die Philippinengasse schlendern. In Christians Wohnung waren die Fenster sauber – kein Wunder, ich hatte sie erst am Wochenende vor meinem Auszug geputzt, während der gnädige Herr auf dem Golfplatz war. Wahrscheinlich hatte er mit Charlotte gespielt, kein Wunder, dass sie keine Zeit hatte, die Fenster zu putzen!

Ich kam mir allmählich vor wie eine manische Hausfrau. War es nicht eigentlich sehr positiv, wenn eine Frau lieber auf dem Golfplatz Geschäftskontakte knüpfte, als mit Superglanzspray ihre Fenster zu bearbeiten? Nur im Prinzip, beschloss ich finster, nicht, wenn es sich um meine Nachfolgerin handelte, die konnte nichts richtig machen. Hoffentlich ließ sie Christian in ungebügelten Hemden herumlaufen und bescherte ihm eine nette kleine Lebensmittelvergiftung!

Oder sie sollte sich grundsätzlich weigern, seinen Haushalt zu machen, damit er hilflos im Chaos versank! Das war fast noch besser, obwohl mir klar war, dass er mich deshalb trotzdem nicht vermissen würde. Musste er auch nicht, ich wollte ihn schließlich nicht zurück, dazu hasste ich ihn viel zu sehr.

Jedenfalls wünschte ich ihm alles Schlechte, und wenn er sich noch einmal so etwas wie mit dem Zeugnis leisten sollte, würde ich Coras Drängen nachgeben und ernsthaft über fiese Rache nachdenken – natürlich so, dass er nicht darauf kam, wer dahinter steckte. Weder Christian noch die vornehme Charlotte waren irgendwo zu sehen; vielleicht aßen sie stilvoll bei ihren Eltern oder spielten mal wieder Golf – oder etwas ganz anderes!

Ich schlenderte weiter durch die Straßen und überlegte, was ich in der nächsten Woche alles tun sollte – auf jeden Fall fleißig arbeiten, auch wenn es bloß Ablage war, und mir zusammen mit Cora und diesem Anwalt die Wohnung meines Großvaters ansehen. Wahrscheinlich war sie völlig vergammelt, aber sie gehörte mir, und alles andere war doch egal. Wahrscheinlich war auch auf der Bank einiges zu regeln, aber das hatte sicher Zeit. Ob ich wohl schon umziehen konnte? Gab es in dieser Wohnung ein benutzbares Zimmer? Und wie war wohl dieser Untermieter? Wahrscheinlich ein Student; wenn er erst seit einem halben Jahr dort wohnte, sicher ein Anfänger. Höhere Semester bekamen entweder etwas im Studentenheim oder kannten genug Leute für eine WG, nur Erstsemester landeten noch in möblierten Zimmern. Jedenfalls war das so gewesen, als ich angefangen hatte. Na gut, das war über zehn Jahre her, vielleicht hatten sich die Trends geändert, vielleicht waren Untermietzimmer mittlerweile der letzte Schrei?

Am Montagabend bestanden Cora und Freddy darauf, dass ich mit ihnen essen ging. Süß, die beiden wollten mich nur aufmuntern! Ich fügte mich und stocherte im La Cucaracha in meinen Burritos herum.

„Jetzt iss doch mal richtig, Sarah!“, schimpfte Cora, als sie sah, wie ich langsam und lustlos das Gemüse aus dem Teigfladen polkte.

„Ich hab einfach keinen Appetit zurzeit, ich weiß auch nicht, warum.“

„Schwanger bist du aber nicht, oder?“ Cora sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Nein, ich hab doch immer die Pille genommen. Nach der Packung höre ich aber auf, jetzt kann ich mir diese Hormonbomben auch sparen.“

„Wart´s ab“, meinte Freddy, „du findest schnell etwas Besseres. Bist du sicher, dass ich diesem Christian nicht doch dezent etwas Stress machen soll? Ich kann das ganz unauffällig arrangieren, er kann die Spuren nie zu uns zurückverfolgen – obwohl Cora ihn erpresst hat.“

„Nein, danke. Das ist nett von dir“, antwortete ich trübsinnig, „aber solange er keinen neuen Hammer landet, lassen wir ihn in Ruhe. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.“

Cora wechselte energisch das Thema und hielt mir einen Vortrag, wie ich das geerbte Geld am besten anlegen sollte. Ich hörte nur mit einem halben Ohr zu und schob weiter meine Burritos auf dem Teller herum. Eine Zigarette hätte ich jetzt gerne gehabt, aber ich rauchte nicht. Oder einen Schnaps!

Ich winkte der Kellnerin und bestellte einen Tequila – der schmeckte scheußlich genug, dass ich hoffentlich keinen zweiten wollte! Cora brach ihren Vortrag ab und sah kopfschüttelnd zu, wie ich das Glas energisch kippte und dann hustete. „Keinen zweiten, du musst morgen arbeiten!“

„Ich weiß, aber so kann ich besser schlafen.“ Die Wärme in meinem Inneren gefiel mir; ohne Alkohol fühlte ich mich immer so erstarrt. Ich war sicher, dass Cora heilfroh war, wenn sie wieder arbeiten konnte und nicht dauernd mit meiner Jammermiene konfrontiert war. Ich kam mir allmählich selbst albern vor, immerhin war die Trennung von Christian schon elf Tage her. Andererseits sprach man ja nicht umsonst von einem Trauerjahr...

Die Erbschaft

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